Vom Einmarsch der Kampfrentner
Ehrenwort:
Ich wollte diesen Artikel sowieso
schreiben. Hintergrund war – wie nicht selten – ein Frühstücks-Gespräch mit meiner lieben Frau. Vor dem Hintergrund der
aktuellen Diskussionen auf meinem
Blog beschäftigte uns mal wieder die Frage:
Wie konnte – in den von uns überblickten 20 Jahren – der Tango zu dem werden,
was er heute ist?
Dazu
kam, dass ich mich bei der Beantwortung eines Kommentars zu meinem letzten Beitrag zu der Bemerkung hatte hinreißen
lassen:
„Den Einmarsch der
Rentnerinnen und Rentner im Tango. Ich habe den selber ab zirka 2005 erlebt.
Tänzerisch bedeutete dies den Umschwung von ‚Was geht alles?‘ zu ‚Geht das
überhaupt?‘. Plötzlich sah man auf den Milongas zunehmend arthrotisches
Herumgedackel.“
Dies
wiederum brachte mir heftige Angriffe
einer Tänzerin im Rentenalter ein: Für
wen ich mich eigentlich hielte? Wenn
man ein Video von meinem eigenen Tanzen sehe, gelte: Ich solle lieber vor
meiner eigenen Tür kehren. So eine „Beleidigung
und Herabwürdigung“ habe die Kommentatorin
noch nirgends gelesen!
Umso
nötiger wohl, einmal durchzubuchstabieren, was damals tatsächlich vorging. Ich halte die Jahre von zirka 2004 bis 2010 wirklich für richtungsentscheidend für das heute von
mir so gesehene Elend:
Vor
dieser Zeit gab es im Tango in jeder Hinsicht ein sehr gemischtes Publikum. Das Spektrum reichte von Mitte Zwanzig
bis ins frühe Rentenalter – mit dem Schwerpunkt vielleicht in den Vierzigern.
Und auch beruflich und vom sozialen Stand her gab es beinahe alles
– besonders stark vertreten waren Pädagogen, Künstler, Freiberufler, insgesamt
ein sehr buntes und wenig angepasstes Völkchen. Die Devise war: Jeder darf spinnen, wie er mag.
Viel
Tangounterricht hatten die meisten
nicht – wo auch? Man lernte vorwiegend durch Abschauen und miteinander
Tanzen. DJ war weder Beruf noch
Berufung. Irgendwer machte es halt – meist, weil er über eine ordentliche
transportable Anlage und einige CDs mehr als die anderen verfügte. Und der
legte weitgehend seine Lieblingsstücke
auf, was mal als genial und mal als eher öde empfunden wurde – je nach
persönlichem Geschmack. An große Debatten darüber kann ich mich nicht erinnern.
Getanzt wurde, was auf den Tisch kam. Erst recht waren uns Begriffe wie „Tanda“, „Cortina“, „Ronda“ oder gar „Cabeceo“
völlig fremd. Und wenn uns wer mit „Tanzregeln“ gekommen wäre, hätten wir
ihn ausgelacht: „Jetzt hab dich nicht so
– Hauptsache, alle haben Spaß!“
Ich
kann mich noch genau an einzelne Paare erinnern, die den Stimmungsumschwung einläuteten. Und ja, es waren zunächst eher Ältere, aber das war nicht der
entscheidende Punkt. Auch nicht, dass sie meist ziemlich lausig tanzten. Es stießen ja immer wieder Anfänger zu uns, kein
Problem. Aber irgendwie sagten diese Leute „Sie“
zum Tango – man hatte nicht das Gefühl, dass sie die Musik wirklich berührte,
sie sich fallen ließen. Eher tanzten sie eingelernte
Schrittkombinationen herunter, von Einfühlung in die Musik oder gar
Verbindung im Paar war wenig zu sehen.
Das
störte uns aber wenig – schließlich wurde Liberalität
als hohes Gut betrachtet. Sollten sie doch tanzen, wie sie wollten und konnten!
Gut, manchmal rollten wir schon mit den Augen, wenn sich uns wieder einmal ein
Anblick dessen bot, was wir heimlich und sicher nicht diskrimierungsfrei „Rentnertango“ nannten. Mühsam war
allerdings, dass die Herrschaften auch gerne mit besseren Partnern aufs Parkett wollten. Aber auch da galt: Es wird
betanzt, was an den Tisch kommt. Allerdings war es schon ein minderes
Vergnügen, ultimativ Verspannte ohne jeden musikalischen Instinkt übers Parkett
zu schieben. Nach drei, vier Stücken taten mir oft genug die Knochen weh.
Solche
Paare waren natürlich die idealen Kunden
für die reisenden Schritteverkäufer,
welche zunehmend auch in unserer Region Station machen. Tangotanzen wurde zu einer
Fertigkeit, die man im Unterricht zu
erlernen hatte. Plötzlich gab es im Tango „Experten“,
welche über ein höheres Wissen verfügten, das sie zunehmend von argentinischen
Großmeistern ableiteten.
Das
Geschäftsmodell war ziemlich
einfach: Je weniger Talent, desto mehr Unterricht. Und von dem konnten
diese „Paare neuen Typs“ jede Menge brauchen. Besser tanzen lernten sie dadurch
kaum. Macht aber nichts: neue
Schritte, neues Glück! Dann drehte man halt Leuten, die nicht wirklich zur
Musik geradeaus gehen konnten, noch Ganchos, Volcadas und Colgadas an. Was
man dann auf dem Parkett bewundern durfte, rangierte oft zwischen
Selbstverstümmelung und gefährlicher
Körperverletzung.
Das
Dilemma wurde durch die größte PR-Idee
dieser Zeit gelöst: Die Kunst des sparsamen und reduzierten Tuns nach dem Motto
„umarmungsfokussiertes Tanzen“. Das
sprach natürlich vor allem die Kundschaft an, welche eh längst meinte, das
ständige Figurengezwirbel störe
beträchtlich beim Kuscheln. Dazu
musste nun noch eine langweilige und
spannungsarme Musik her, die es glücklicherweise schon vor 80 Jahren in
Argentinien gab. Und der Begriff „Tradition“
zieht natürlich eher konservativ gestrickte ältere Herrschaften an wie der
Presssack die Hauskatze. Selbstredend musste es dann Regeln geben, weil diese Bewegungsart in der Masse nur funktionierte,
wenn keiner besser tanzte als der Vordermann!
Als
wir 2007 unsere öffentliche Milonga aufmachten, war auch in unserer Gegend der „Richtungsstreit“
im Tango bereits deutlich fühlbar: Ein Kollege aus unserer „freien“ Szene lebte
inzwischen in geistiger Untermiete bei einem argentinischen Guru und tat alles,
um mit Terminüberschneidungen und Warnungen vor unserer „problematischen“ Musik
Gäste von unseren Veranstaltungen abzuziehen. In Augsburg vertrieb man die
Anhänger des modernen Tango aus dem dortigen Tangoverein. Regensburg,
Ingolstadt, Nürnberg, München – früher oder später wurden einst bunte,
aufgeschlossene Milongas gleichgeschaltet
oder von der neuen Konkurrenz erdrückt,
nicht immer mit feinen Methoden.
Diese
Entwicklung war das Hauptmotiv für mein Tangobuch,
das 2010 erschien. Die Flut von Verwünschungen und unfairen Attacken, die es
auslöste, zeigt, wie skrupellos man damals und in den Folgejahren gegen
diejenigen vorging, die es noch wagten, für einen modernen und ideologiefreien
Tango zu werben. Der hätte nämlich die Geschäftsinteressen
der neuen Branche beeinträchtigt: Möglichst
vielen eine reduzierte Form des Tango
beizubringen und die Kundschaft mit allem Zubehör zu versorgen, welches die
Illusion nährte, man könne wirklich Tango.
Früher
ging man zum Tanzen – heute besucht
man Events.
Wenn
ich damals als DJ auflegte, so
versuchte ich, es allen recht zu machen
und spielte daher nicht nur moderne
Stücke, sondern etwa zur Hälfte auch die historischen Aufnahmen – möglichst solche, die mich künstlerisch
noch einigermaßen ansprachen. Die Krise wurde dennoch zunehmend deutlicher: Da
ich als ziemlich dickköpfig galt, waren es vorwiegend meine Mit-Organisatorinnen, welche sich oft
genug die Sprüche und Forderungen der „Kampf-Rentner“ anhören
durften: „Spielt Ihr auch mal Salontango?
Geht das Geplemper jetzt so weiter? Was soll der aggressive Scheiß?“
Regelmäßig
tauchten meine Helferinnen dann am
DJ-Pult mit Hiobsbotschaften auf: „Du, der Sowieso hat gerade gesagt…“, „Ich
fürchte, die … gehen gleich“, „Die … tanzen kaum noch, ich glaube, die sind
ziemlich unzufrieden mit der Musik“.
Unser
Dilemma war: Wir wollten ja gute
Gastgeber sein – also ließ ich oft genug die eine oder andere ambitionierte Musikfolge weg und
ersetzte sie durch goldige Orchester aus der Tango-Steinzeit.
Was
wir damals nicht bedachten: Für diese Strategie benötigt man aber auch gute Gäste. Was sich auch später immer
wieder bestätigte: Diese Sorte von Anspruchnehmern
gehört nicht dazu. Selber haben wir uns auf Milongas nie über die Musik beschwert,
sondern stets die Auswahl des DJ respektiert. Es war doch unsere Sache, ob wir
eine Veranstaltung besuchten oder lieber fernblieben! Klar, in meinen Artikeln habe ich viel kritisiert –
aber auch die kann man lesen oder es lassen.
Was
wir uns damals nicht vorstellen konnten: Auf der Gegenseite war eine solche Toleranz meist nicht mal ansatzweise zu
verspüren. Es gibt Milongas, die ich sicher schon hundert Mal besucht habe –
und noch nie hat dies den Gastgeber oder DJ dazu veranlasst, auch nur eine einzige moderne Aufnahme zu
spielen – obwohl denen meine musikalische Präferenz durchaus bekannt ist. Da
ist man in der Regel absolut empathiefrei,
obwohl man gerne die Sprüche vom „achtsamen Umgang“ klopft. Dass ich nicht
lache…
Daher
weiß ich heute: Wir hätten damals ebenso gefühllos sein müssen – und irgendwelche
Beschwerden mit der Replik kontern
sollen: „Wenn’s dir nicht passt, kannst
du ja gehen.“ Das haben die Betreffenden nämlich früher oder später eh
gemacht. Wir hätten ihre Flucht mit einer Überdosis Piazzolla fördern sollen…
Wer auf Spaltung aus ist, den kannst
du nicht integrieren.
Ich
könnte eine lange Liste von Menschen aufzählen, die den Tango durch seine Entwicklung von der Avantgarde zum Rentnertanz
verließen. Leider meist still und heimlich, ohne das Getöse derer, die für
einen historischen Rücksturz unseres
Tanzes trommelten. Ich gebe zu: Das hat mich schwer traumatisiert.
Daher
bleibe ich trotz der heftigen Beschwerde gestern beim Begriff „Kampfrentner“. Das ist aber für mich
nicht vorwiegend eine alters- oder versorgungsmäßige Einstufung. Ich kenne
im Tango inzwischen viele Menschen mit jüngeren Körpern, aber steinalten Gehirnen.
Und auch Leute in meinem Alter und darüber, die wunderbar kreativ tanzen. Nicht
der Kalk in den Gelenken ist das Problem, sondern der in der Birne.
Daher sage ich: Natürlich ist Tango ein Tanz für jedes Alter. Was aber nicht bedeutet, dass diejenigen, welche langsamer tun müssen oder wollen, den anderen den Spaß an mehr Dynamik verderben dürfen!
Daher sage ich: Natürlich ist Tango ein Tanz für jedes Alter. Was aber nicht bedeutet, dass diejenigen, welche langsamer tun müssen oder wollen, den anderen den Spaß an mehr Dynamik verderben dürfen!
Doch
es gibt auch Hoffnungsschimmer: Gestern habe ich ein neues Video der
Tangolehrer Gabi und Gustavo J. Gómez
entdeckt. Dabei muss ich gestehen: Meine erste Begegnung mit Gustavo verlief
eher unglücklich – ich erlebte ihn auf einer Milonga, bei der er ein ultimativ
langweiliges Musikprogramm auflegte.
Nun
plötzlich das! Ein anrührender Tanz, der beweist, was modern interpretierter
Tango sein kann, wenn man seine unsterbliche Seele sucht. Sollte es doch wieder
jüngere Menschen geben, die das verkörpern?
„No nos veremos más“ heißt das von Luis Stazo komponierte Stück: „Wir
werden uns nicht wiedersehen“. Ich denke dabei an all die kreativen Menschen,
die man aus dem Tango vertrieben hat:
die Wolke, die fliegt, die Zeit zu lieben.
Und wir haben spät herausgefunden, was die Botschaft ist
für zwei, die später träumen wollten.
Dein Sommerlicht hat mir im Herbst geträumt,
und ich danke dir für das Glück.
Der Artikel spricht mir aus der Seele, wobei allerdings anzumerken ist, dass nach meiner Beobachtung als Tänzer wie auch Mitveranstalter die deutliche Mehrzahl der "Kampfrentner" der etwas jüngeren Generation zuzuordnen ist, während sehr viele, die sich im Rentenanlter befinden, musikalischer Buntheit eher aufgeschlossen zu sein scheinen. Und es kommt eben auch sehr auf die Ausrichtung der jeweiligen Milonga an. Faustregel: Je lässiger, desto liberaler - je schickimickihafter, desto knöcherner. Was eigentlich nicht schlimm ist, denn man hat ja schließlich die Wahl, wo man lieber tanzen möchte.
AntwortenLöschenLieber Klaus Windisch,
Löschenklar, ich hatte ja betont, dass es auf das Alter des Kopfes und nicht das der Gelenke ankommt - und inzwischen gibt es im Tango genug Menschen mittleren Alters mit steinalter Mentalität.
Ich bleibe allerdings bei zwei Feststellungen:
Die junge Generation hat der Tango weitestgehend nicht anlocken können - wie denn auch bei der vorherrschenden Musik und der knöchernen Hierarchie, den aus der Zeit gefallenen Regeln? Das verschiebt das Durchschnittsalter immer weiter nach oben.
In unsererer Region sind die größeren Städte fest in konservativer Hand. In München, Augsburg, Regensburg, Ingolstadt und Nürnberg liegt der Anteil von Veranstaltungen, die nicht ausschließlich traditionelle Aufnahmen bieten, bei unter zehn Prozent. Das schränkt die Auswahl schon erheblich ein.
Aber mich freut es natürlich, wenn es anderswo besser aussieht.
Danke für den Kommentar und herzliche Grüße
Gerhard Riedl