Der Tango auf dem stillen Rückzug?

Kein Zweifel, Klaus Wendel kann richtig gute Artikel schreiben – wenn ihn nicht gerade die Wut auf mich übermannt oder er uns detailversessen und in vielen Schaubildern mit tanztechnischen Feinheiten verwöhnen will.

Empfehlen möchte ich aber seinen Beitrag Der stille Rückzug des Tango Argentino – Zu schwierig für die Masse?“

Passe der Tango noch in unsere Zeit, so seine berechtigte Frage – ein Tanz, der „oft mit Romantik, Nostalgie und einer Portion Pathos verkauft“ werde. Wendel nennt  das „Phrasen“ und traut sich damit mehr als die meisten Tango-Offiziellen. Gut so!

Immer mehr Menschen probierten Tango – aber viele stiegen auch sehr schnell wieder aus oder blieben an der Oberfläche. Tango aber sei übungsintensiv und brauche viel Zeit. Leider verschweigen das die meisten Lehrkräfte.

Und Tango ist, so der Autor, ein Nischenphänomen – deutlich unter einem Prozent (vielleicht um die 100000) liege der Anteil derer, welche sich bei uns – wie intensiv auch immer – mit diesem Tanz beschäftigten. Selbst Sportarten wie Bouldern (das Übungsgekraxel an oft künstlichen Felswänden) hätten bei uns mehr Anhänger – nach meiner Recherche in Deutschland zirka 500000, was den Tango deutlich in den Schatten stellt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Bouldern

Und den Standard- und Lateintanz übten bei uns mehr als eine Million Menschen vereinsmäßig aus. Nicht nur deshalb halte ich es für eine schlechte Idee, wenn im Tangomilieu immer wieder über diese Tanzart abgelästert wird!

Die Ursachen?

Tango, so Wendel, brauche Zeit. Und die fehle den meisten Menschen. Etwa 5,5 Stunden täglich blieben im Schnitt zur freien Verfügung. Ob das wirklich ein Grund ist?

Den 8 Stunden-Arbeitstag gibt es seit 1918, die 40 Stunden-Woche wurde in den 1960er und 70er Jahren eingeführt. Lange Zeit arbeitete man 6 Tage wöchentlich (auch in meinen ersten Schuljahren war das für uns noch die Regel), seit 1956 gibt es die 5 Tage-Woche, inzwischen diskutiert man 4 Arbeitstage. Und die 35 Stunden-Woche ist in manchen Branchen schon die Regel.

Ich meine daher, noch nie in der Geschichte hatten die Menschen in Deutschland derartig viel arbeitsfreie Zeit, was eine riesige Freizeitindustrie entstehen ließ. Vorwiegend wird der größere Spielraum aber zum Medienkonsum verwendet – auf Platz 1 rangiert weiterhin das Fernsehen, das mit 97 Prozent immer noch die liebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen ist.

https://de.wikipedia.org/wiki/Freizeit

Viele hätten bei uns genug Zeit – vor allem die Rentnergeneration, welche ja im Tango vorherrscht. Nur lassen sich die meisten halt lieber passiv berieseln. Und das funktioniert beim Tango natürlich gar nicht!

Was macht unseren Tanz so schwierig? Wendel zählt einige Faktoren auf, die ich für plausibel halte. Also entstünde, wenn überhaupt, ein „Tango light“ – vergleichbar mit koffeinfreiem Kaffee oder Sekt ohne Alkohol. Ich würde sogar sagen: abgestandenem Mineralwasser. Man tanze Tango, „ohne Tango zu tanzen“.

Da beginnt es für mich wieder mal, schwierig zu werden. Ich finde, man sollte sich nicht die Deutungshoheit darüber anmaßen, was denn nun Tango sei – oder keiner. Okay, dann tappt man halt ein wenig auf dem Parkett herum. So what – so lange es Spaß macht, ist doch alles in Ordnung! Und dann hält man es hoffentlich auch aus, wenn ich mal eine Satire dazu schreibe – vielleicht lacht man sogar mit. Nur hat man dann ebenso keinen Grund zum Herumgiften, wenn wenige es komplizierter mögen, vielleicht sogar zu anspruchsvoller Musik. Und ich verbitte mir ebenfalls, das dann „keinen Tango“ zu nennen!

Man meine, Tango „kaufen“ zu können wie ein Lifestyle-Produkt. Wohl wahr!

Wie kann man gegensteuern? Wendel macht einige Vorschläge, über die man diskutieren kann. Natürlich fehlen die Ideen, weniger langweilige Musik zu spielen, Tanzabende nicht mit Regelungs-Wust zu überfrachten, das Auffordern zu erleichtern, den Geschlechterproporz zu vergessen oder gar das arrogante Getue zu unterlassen.

Geschenkt! Wie schon der Kabarettist Werner Schneyder es formulierte: Verantwortliche, die sich selber suchen, finden sich in der Regel nicht.

Ist Tango „zu übungsintensiv für die breite Masse“? Wendel sagt ja – und ich stimme ihm zu.

„Tango kann man nicht konsumieren. Man kann ihn nicht kaufen. Man muss ihn leben, erleben, erarbeiten.

Auch da hat der Autor meine volle Unterstützung. Und ja, denen, die wirklich dranbleiben, schenkt dieser Tanz unvergleichliche Erlebnisse.

Ich frage nur: Warum zappeln wir uns dann damit ab, immer noch mehr Leute zum Tango zu kriegen? Als ich mit diesem Tanz anfing, war er wirklich ein Nischenphänomen: In unserer Gegend kannte man die paar Tangoleute nach einiger Zeit alle – man traf sie ja schließlich immer wieder bei den paar Milongas, die es gab. Und wir hatten eine Menge Spaß miteinander.

Heute versucht man mit riesigem Werbeaufwand für Festivals, Tangoreisen, Tanzlehrgänge und Lachsschnittchen noch den letzten Tanzunbegabten aufs Parkett zu locken  oder jedenfalls zu den Veranstaltungen. Der Hauptgrund ist klar: Der Umsatz der „Tangoindustrie“ muss ja steigen!

Für mich ist das vergleichbar mit der „Wachstumsideologie“ in der Politik. Sorgenvoll berichten uns die Medien, das Bruttoinlandsprodukt (oder eine ähnliche statistische Messzahl) stagniere. Also lautet die Devise: Konsum, Konsum, Konsum! Im Klartext: Die werte Kundschaft soll noch mehr nutzlosen Dreck kaufen, um die Gewinne zu sichern.

Daher bin ich sehr für einen „stillen Rückzug“ des Tango aus dem Massengeschäft. Quantität tut diesem Tanz nicht gut. Ich habe Tanzabende in versifften Räumlichkeiten mit einem knappen Dutzend Leuten erlebt, die ich nie vergessen werde. Und rauschende Festivals mit dreistelligen Gästezahlen, von denen sich der Tango längst verabschiedet hatte und ich es ihm gleichtat.

Ist der Tango auf dem „stillen Rückzug“? Ich hoffe es!

   Quelle: https://www.tangocompas.co/der-stille-rueckzug-des-tango-argentino-zu-schwierig-fuer-die-masse/

P.S. Zur „Wachstumsideologie“ hat der Kabarettist Georg Schramm einen Beitrag geliefert, den ich mir in dieser Schärfe nicht getraut hätte. Vor 15 Jahren ging das noch in den öffentlich-rechtlichen Medien:

 

https://www.youtube.com/watch?v=yokOG-nn73k

Kommentare

  1. Klaus Wendel behauptet nun, ich sei „Gymnasiallehrer in Physik und Chemie“ gewesen. Es lebe die Recherche…
    Hier steht’s: https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tango-unterricht-14-teil/#comments

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  2. Und weil wir gerade dabei sind:
    Um in Bayern Gymnasiallehrer werden zu können, musste man zu meiner Zeit im Studium das so genannte „Pädagogicum“ absolvieren, also eine Vorlesung und ein Seminar in Pädagogik belegen und darüber eine schriftliche Prüfung ablegen, die ich mit Note „sehr gut“ bestand.
    In den zwei Jahren Referendardienst gab es dann diverse Seminare unter anderem zu Pädagogik und Schulpsychologie, die man ebenso mit einer mündlichen Prüfung abschließen musste. In drei Lehrproben hatte man seine Fähigkeiten im Unterrichten zu beweisen. Dazu kamen u.a. dienstliche Beurteilungen. Das zweite Staatsexamen legte ich mit Note 1 („mit Auszeichnung bestanden“) ab. Auch während der Dienstzeit wird man alle vier Jahre beurteilt – auch auf der Basis von Unterrichtsbesuchen. In meiner letzten Beurteilung lautet das Ergebnis: „übertrifft erheblich die Anforderungen“ – was mir die Beförderung zum Studiendirektor einbrachte.
    Über meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer habe ich ein Buch herausgebracht.
    Meines Wissens hat Klaus Wendel keinen staatlichen Abschluss im Bereich Unterricht. Seine unbestrittenen Fähigkeiten als Tangolehrer hat er sich selber beigebracht.
    Halten wir daher fest: Der Profi im Bereich Unterricht bin ich – Klaus Wendel ist ein Autodidakt.

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