Willkommen in der digitalen Tangoszene!
Ein Leitfaden für
Anfänger
Liebe Neulinge im Tango,
in der ausgehenden Corona-Krise werden Sie die
nächsten Wochen im Internet zweifellos
mit einem Wust von Tangowerbung
überzogen. Der Grund ist klar: Im geschäftsmäßigen Bereich dieses Tanzes ist
das Geld knapp geworden, daher ist
man scharf auf Schülerinnen und sogar Schüler.
Viele von Ihnen werden sich fragen, ob denn
der argentinische Tango tatsächlich einen solch freundlichen, aufgeschlossenen
und inklusiven Bereich darstellt, wie die PR verspricht. Kann man sich dort wohlfühlen?
Ich rate dringend, hierbei zwischen der analogen und digitalen Tangowelt zu unterscheiden!
Im realen
Tango kann man sich durchaus geborgen fühlen – vor allem, wenn man weiß, welche Veranstaltungen sich dazu
eignen. Ich genieße diesen Tanz seit 20 Jahren und hatte dabei eine Menge wundervolle Erlebnisse, die ich nicht
missen möchte.
Sicher: Aller Anfang ist schwer, daher müssen Sie gerade als Neuling damit
rechnen, auf vielen Milongas erstmal ignoriert
bzw. hoheitsvoll behandelt zu
werden. Gerade auf professionell organisierten Events können Sie von den
Tango-Offiziellen am ehesten Zuwendung
erhalten, wenn Sie Ihre Geldbörse öffnen
– sprich: Man will Ihnen eine Menge verkaufen.
Zuvörderst natürlich Unterricht oder
teures Zubehör.
Klar, die Hierarchie im realen Tango ist schon herb. Wenn Sie sich der nicht
anpassen, werden Sie jedoch schlimmstenfalls ignoriert und kommen selten zum Tanzen. Mehr droht Ihnen eigentlich nicht.
Ach ja – Tango hat von seiner Geschichte her
auch Bezüge zum Rotlichtmilieu. Da
man in weiten Bereichen sehr auf Traditionen
steht, müssen gerade jüngere und attraktive Frauen durchaus damit rechnen, dass man sie beim Tanzen öfters mal befummelt – natürlich völlig
unabsichtlich und frei von Hinter(n)gedanken. Männer sind halt so – nehmen Sie
es als Kompliment für Ihre
Anziehungskraft! Ältere Damen haben
das kaum zu befürchten – schon deshalb, weil sie oft eh nicht aufgefordert werden.
Mit der Zeit werden Sie – falls Sie weite
Autofahrten schätzen – auch Tanzorte
entdecken, in denen es sehr aufgeschlossen
und wertschätzend zugeht. Häufig
handelt es sich um kleinere Milongas,
welche nicht kommerz-orientiert von Tango-Enthusiasten
veranstaltet werden. Glamour dürfen
Sie dort natürlich kaum erwarten – es sind halt private Räumlichkeiten oder
jedenfalls solche, die keine Miete kosten, ohne Tanzschuh- und Kleiderverkauf.
Dafür kommen Sie mit Sicherheit zum Tanzen
– oft zu interessanterer Musik als
auf den gleichgeschalteten Veranstaltungen mit normiertem DJ-Programm.
Wenn Sie sich über den Tango im Internet informieren, sollten Sie
wissen: Es erwartet Sie eine ganz andere
Welt, welche zum Großteil von den professionellen
Veranstaltern, DJs und Tangolehrern bestimmt wird. Natürlich
ist da alles toll und äußerst erfolgversprechend. Ich wäre da sehr vorsichtig:
Je vollmundiger die Angebote und je brünstiger die Tanzlehrer-Fotos, desto lausiger oft die realen Leistungen.
Es gibt auf Facebook lokale Tangoseiten, die praktisch nur aus Werbung bestehen. Kein Wunder: Die Administratoren sind nicht selten Mitarbeiter von Tangoschulen. Dort wird natürlich sorgsam darauf
geachtet, dass der Tango durch kritische Beiträge nicht in ein schlechtes Licht
gerückt wird – im Zweifel werden die gelöscht oder gleich per
Gruppenbeschreibung ausgeschlossen. Ich habe darüber schon berichtet:
Mein Tipp: Auf solchen Seiten stimmen, wenn
Sie Glück haben, die Veranstaltungstermine.
Sonst wenig.
Kritische Autoren
haben es in der digitalen Szene sehr schwer – vor allem, wenn ihre Artikel mit
den Geschäftsinteressen des „professionellen“
Tangobereichs kollidieren. Es herrschen anachronistische
Zustände: Während man in fast allen Wirtschaftsbereichen daran gewöhnt ist,
dass Kunden Waren und Dienstleistungen öffentlich
beurteilen, gilt das im Tango als Sakrileg.
Wie in gewissen Sekten ist es gefährlich, die Gurus zu hinterfragen.
Zumindest muss man damit rechnen, in solchen
Fällen das Interesse einiger dutzend marodierender
Klugschwätzer zu erregen, welche unablässig das Internet nach Tangothemen durchsuchen, von denen sie
etwas zu verstehen glauben – also alle. Meist kriegen Sie dann zu einem Artikel
mit tausend und mehr Wörtern als Kommentar
einen oder zwei hingerotzte Sätze voller Rechtschreibfehler und häufig völlig
themafrei. Gerne auch unter Pseudonym.
Solche Leute leben ausschließlich von den geistigen Leistungen anderer, die sie
zerfleddern können. Eigene Texte
veröffentliche sie nie – und sie wissen, warum: Kompliziertere Gedankengänge sind nämlich nicht ihr Fall.
Für Anfänger ganz wichtig: Solche
Zeitgenossen können manchmal in Horden
auftreten und so eine Mehrheitsmeinung
vortäuschen. Das ist jedoch reine Illusion: Nur ein kleiner Bruchteil der realen Tangoszene bewegt sich öfters auf
Facebook und anderen sozialen Foren – und selbst von denen schreiben die
meisten keine Kommentare. Und die Großen im Tango schweigen sich zu solchem
Kleinkram grundsätzlich aus. Ignorieren geht
über Studieren.
Schlimmer wird es, wenn man deren Führungsanspruch gefährdet. Oder gar
ihren Kassenstand. Beispielsweise,
indem man die verwegene Idee verbreitet, Tango könne man auch tanzen oder gar
erlernen, ohne Gebühren zu entrichten.
Das geht natürlich überhaupt nicht!
Ich habe das neulich wieder einmal geschafft,
da ich ein Video einer Gruppierung kritisierte,
die derzeit nach eigenem Bekunden glaubt, für alle Tangotänzer zu sprechen.
Die Reaktion auf solch schlimme Provokationen
ist stets gleich. Grundsätzlich gilt: Ja nicht auf eine inhaltliche Diskussion einlassen! Stattdessen mal vorsichtig mit abwertenden Floskeln beginnen. Schnell
spricht man dann von „Gemecker“, „Kleinkram“, „Haarspaltereien“ und „Möchtegernliteraten“.
Wenn der „Kritikaster“ bei seiner
Meinung bleibt, ist es angebracht, schwereres
Geschütz aufzufahren. Dann fallen bereits Begriffe wie „dumm“, „geschmacklos“, „egoistisch“
oder „höchst unsensibel“. Oder man nennt einen Text „die Buchstabenkot**". Vor allem
aber: Wer nicht sofort auf die Meinung der Herrschenden umschwenkt, dem wird
bestätigt, er habe sich „nicht wirklich
mit dem Thema beschäftigt“ oder halt irgendwas „nicht verstanden“. Klar: Hätte er es kapiert, worüber er belehrt
wurde, könnte er ja nicht bei seiner Meinung bleiben.
Daher erfolgt als nächster Schritt die
Attestierung der Diskussions-Unfähigkeit:
Da dem Gegner an einem „konstruktiven
Austausch“ nicht gelegen sei, habe das alles ja keinen Sinn. Was folgt, ist
die Exkommunikation: Man werde den
Kritiker in Zukunft „ignorieren“.
Leider wird das aber nichts. Angeregt durch
die Donnerworte von oben werden nach den „Mansplainern“ oft noch weibliche Krawallschachteln angelockt, die den
bösen Abweichler anschnappen. Mittel der Wahl sind Diskriminierung wegen des Berufs
und Alters sowie Kriminalisierung. Zur Sache geht es
dabei zwar nicht, dafür aber heftig: Von „Oberlehrern“
und „üppigen Beamtenrenten“ ist dann
die Rede. Ich möchte solche Tango-Megären
dann schon einmal fragen, ob man in unserem Tanz nur dann eine Meinung
vertreten darf, wenn man sich als erfolgsarmer Coach, Künstler oder
Globuli-Schubser betätigt…
Wichtig ist, wie stets in diesem Geschäft,
den Opponenten in ein illegales Licht
zu rücken: Private Tangoveranstaltungen werden als Teil einer „Schattenwirtschaft“ hingestellt, bei
denen man höchstwahrscheinlich Steuern
hinterzieht oder die GEMA
hinters Licht führt. Von Rechtsverdreherinnen kriegt man dann gleich mal
Gebühren-Tabellen verlinkt. Lecker!
Daher, liebe Tango-Neulinge,
die Teilnahme an Facebook-Debatten erfordert viel Erfahrung, Leidensfähigkeit und
ein eisernes Nervenkostüm. Für Anfänger ist das nichts!
Alternativ gebe ich gerne einen Tipp weiter,
der mich jüngst erreichte: Gestern zeigte das ZDF die Rosamunde-Pilcher-Verfilmung „Argentinischer
Tango“. Noch ist sie in der Mediathek verfügbar:
Im Film können Sie eine leicht übergewichtige
Pseudo-Argentinierin erleben, die zwar nicht mal saubere Ochos hinbekommt, aber
dennoch fest gewillt ist, in Buenos Aires eine Tangoschule zu eröffnen. Umworben wird sie von einem verkrachten Witwer und einem höchst manipulativen Junggesellen. Da sie pleite ist, entscheidet sie sich für das kleinere Übel. Getanzt
wird jedoch wenig.
Illustration: www.tangofish.de |
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