Meine Online-Petition an die Tango-Gemeinschaft
Mir
war klar, dass meine Ressentiments gegen die derzeit laufenden Aktionen zur „Rettung des Weltkulturerbes Tango“
nicht auf Jubel stoßen würden.
Mein
Unbehagen richtet sich aber nicht gegen Künstler aller Art, die Hilfen wegen
ihrer derzeitigen Verdienstausfälle fordern. Sondern dagegen, dass der hehre Begriff
des „Weltkulturerbes Tango“ nun vorwiegend
von Leuten annektiert wird, die sich bislang einen Dreck um den wirklichen Geist sowie Umfang dieses Phänomens scherten.
Ich
frage mich vor allem: Welcher Tango
ist denn da gemeint? Nur der ideologisch gefärbte Kanon angeblich „tanzbarer“ Aufnahmen
aus der gepriesenen „Época de Oro“
der 1930-er bis 50-er Jahre, und auch der noch von angeblichen Experten auf zirka tausend Stücke gefiltert?
Davon
findet man in der Begründung der UNESCO
genau nichts. Darum geht auch keiner von denen näher darauf ein, welche sich nun
im Internet, auf Straßen und Plätzen als Retter
der Weltkultur gerieren.
Die
Verleihung dieser Ehren-Kulturwürde erfolgte 2009 mit folgender Erklärung der United
Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (von mir aus
dem Englischen übersetzt):
„Die argentinische
und uruguayische Tradition des Tango, die heute auf der ganzen Welt bekannt
ist, wurde von den städtischen Unterschichten in Buenos Aires und Montevideo im
Becken des Rio de la Plata entwickelt. Unter dieser Mischung aus europäischen
Einwanderern in die Region, Nachkommen afrikanischer Sklaven und den als
Criollos bekannten Einwohnern der Region wurden eine Vielzahl von Bräuchen,
Überzeugungen und Ritualen zusammengeführt und in eine unverwechselbare kulturelle
Identität verwandelt.
Als eine der
bekanntesten Verkörperungen dieser Identität verkörpern und fördern Musik, Tanz
und Poesie des Tangos Vielfalt und kulturellen Dialog. Er wird in den
traditionellen Tanzlokalen von Buenos Aires und Montevideo praktiziert und
verbreitet den Geist seiner Gemeinschaft auf der ganzen Welt, auch wenn er sich
an neue Umgebungen und sich ändernde Zeiten anpasst.
Zu dieser
Gemeinschaft gehören heute Musiker, professionelle Tänzer und Amateur-Tänzer,
Choreografen, Komponisten, Songwriter, Kunstlehrer und die nationalen lebenden
Schätze, die die Kultur des Tangos verkörpern. Tango wird auch in die
Feierlichkeiten des nationalen Erbes in Argentinien und Uruguay einbezogen, was
die weit verbreitete Akzeptanz dieser populären urbanen Musik widerspiegelt.“
Originaltext:
Da
ist also nicht nur von den „traditionellen
Tanzlokalen“ die Rede, sondern eben auch von „Vielfalt”, „kulturellem
Dialog”, Anpassung an „neue
Umgebungen” und „sich ändernde Zeiten”,
von heutigen Musikern und sogar „Amateur-Tänzern“.
All
das spielt in der täglichen Praxis vieler, welche sich derzeit stolz das UNESCO-Etikett an die Heldenbrust
pappen, wenig bis gar keine Rolle.
Aber
gut, wenn heute jeder Depp eine Online-Petition
starten kann, darf ich es vielleicht auch einmal versuchen:
Rettung des tatsächlichen Weltkulturerbes Tango
Nicht erst seit der
Corona-Krise, sondern bereits mindestens 15 Jahre vorher hat sich ein Großteil
der Tangoszene nicht nur hierzulande von wesentlichen
Inhalten des Tango-Weltkulturerbes
entfernt.
Die Tanzmusik wurde
auf ein schmales historisches Segment
verengt und die Tangogemeinschaften strukturierten sich weitgehend vertikal. Immer mehr gaben selbsternannte „Profis“ den Ton an,
angeblich aus Argentinien stammende
Sichtweisen hat man unhinterfragt übernommen und zur Maxime erklärt. Dies gilt für die Musik und bestimmte Tanzstile ebenso wie für Verhaltensnormen,
welche eher die Denkweisen und Sozialformen der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts widerspiegeln und tendenziell diskriminierend bis sexistisch sind.
Viele Kulturschaffende, vor allem zeitgenössische
Musiker, hatten wenig Auftrittsmöglichkeiten und wurden oft wegen mangelnden
Verdiensts aus der Szene verdrängt.
Daher fordere ich von
denjenigen, welche sich auf das „Weltkulturerbe
Tango“ beziehen:
·
Nach dem Geist der
UNESCO-Resolution ist auch den verschiedenen Spielarten der Tangomusik seit den 1960-er Jahren bis heute Raum zu
geben.
·
Zeitgenössische Musikgruppen müssen durch mehr Engagements finanziell gefördert
werden.
·
Die kommerzielle Aufteilung der
Tangogemeinschaften in „Anbieter“ und „Kunden“ entspricht weder der
Entstehung dieses Tanzes noch modernen Vorstellungen „flacher“ Hierarchien. Es ist
dafür zu sorgen, dass Wünsche und Vorlieben aller sich in der Gestaltung von
Veranstaltungen wiederfinden.
·
Tango ist ein
Phänomen, welches sich in unterschiedlichen
Erscheinungsformen über die ganze Welt verbreitet hat. Die alleinige
Akzeptanz „argentinischer“ Ausprägungen
des Tango ist nicht mehr zeitgemäß und muss durch eine umfassende Würdigung von dessen
verschiedenen Spielarten ersetzt werden.
·
Tango ist ein freier Improvisationstanz. Verschiedene
Tanzstile stehen gleichberechtigt nebeneinander.
·
Die Szene muss sich
offen für Neulinge und Anfänger geben und um ihre Förderung bemüht sein.
·
Ebenso entsprechen
engstirnige und nur (pseudo)historisch begründete Verhaltensvorschriften nicht der modernen Zeit und sind daher nicht verpflichtend. Für einen respektvollen und aufgeschlossenen Umgang der Tanzenden
miteinander ist die Bergpredigt völlig ausreichend.
·
Vor allem sind Gender-Beschränkungen als verbotene
sexuelle Diskriminierung zu brandmarken. Eine Abwertung gleichgeschlechtlicher Tanzpaare oder von Menschen mit anderen
sexuellen Orientierungen widerspricht den Menschenrechten.
·
Veranstalter haben darauf hinzuwirken, dass alle Gäste sich gut aufgenommen fühlen und unabhängig von Geschlecht, Alter und
Aussehen die Gelegenheit zum Tanzen erhalten. Jede hierarchisch begründete Diskriminierung
widerspricht dem Geist des Tango.
So, meine Lieben – und nur, wenn Ihr damit einverstanden seid, haltet bitte in Zukunft eure Pappschildchen mit dem „Weltkulturerbe“ hoch! Meine momentane Übelkeit wurde dann nachlassen…
Aber
keine Angst: Ich gehe nun nicht wirklich Unterschriften
sammeln. Es ändert sich nämlich gar nichts, wenn sich nur die Schreibhand und nicht der Kopf bewegt! Vom Herzen ganz zu schweigen...
P.S.
Gerade hat mich ein Kommentator
gefragt:
„Bei der Kritik
sowohl an Traditionalisten wie Neo-Tangueros mit ‚Pop- und Weltmusikgedudel‘
verstehe ich nicht so recht, was dann für Gerhard der richtige Tangostil wäre."
Leider
half auch mein Hinweis auf die derzeit 68 Playlists auf meinem Blog nichts:
„Playlists mit selten
gespielten Titeln sagen mir leider gar nichts, und auch bei den häufig
gespielten kenne ich nur selten den Namen.“
Was
soll man da noch schreiben?
Daher:
Einfach mal zuhören – und ja, der Sänger Ariel
Ardit lebt noch – im Gegensatz zu Gardel, der diesen Tango bereits 1934
komponiert und gesungen hat.
Äh ja, Carlos Gardel… wahrscheinlich unbekannt? Einfach mal nachschlagen!
https://de.wikipedia.org/wiki/Carlos_Gardel
Herr Riedl, Sie sind doch sprachlich so versiert und gebildet. Wiederholt schreiben Sie von 'zeitgenössischen Musikern' - diesmal sogar fett gedruckt. Ich habe Sie bereits einmal gefragt, was denn das sein soll. Antwort habe ich keine bekommen.
AntwortenLöschenWer sich in der Tangoszene auskennt, dürfte es bereits erfasst haben.
LöschenDa wird seit Jahren die Frage diskutiert, ob man auch zu den Aufnahmen oder Live-Auftritten heute lebender Tangosmusiker tanzen solle (bzw. überhaupt könne) oder lieber doch nur zu historischen Einspielungen, welche 70 Jahre und älter sind - und diese Musiker sind logischerweise schon alle tot.
https://www.duden.de/rechtschreibung/zeitgenoessisch
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
LöschenSorry, ich beantworte nur Fragen, die aus wirklichem Interesse gestellt werden und nicht, um den Befragten mit Haarspaltereien zu belästigen.
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