Liebes Tagebuch… 26


O wenn ich sie nur finden könnte!
O wenn sie doch schon vor mir stünde!
ich würde, würde, warm und rein –
Was würde ich? Ich würde sie voll Entzücken
an diesen heißen Busen drücken,
und ewig wäre sie dann mein.
(Emanuel Schikaneder: Zauberflöte / Bildnisarie)

Es reißt nicht ab! Oft im Stundentakt werde ich vom Internet aus mit dem geblümelten Quark von „Tangoexperten“ bedient, dessen ich mich nur erwehren kann, indem ich ihn auf meinem Blog einer ordnungsgemäßen Bestattung zuführe!

Diesmal ist es die Website eines Tangolehrers (aus Barmherzigkeit sei sie ungenannt), den ich persönlich kenne und daher schon in der ersten Version meines „Milonga-Führers“ so beschrieben habe:

„Obwohl noch Anfänger und sowohl figur- wie auch begabungsmäßig nicht unbedingt begnadet, fiel er uns immer wieder durch höchst laut sowie fachmännisch geführte Dialoge mit anwesenden Tangogrößen auf. (Das Sitzen behagte ihm konditionsmäßig deutlich mehr als das Tanzen!) Als das Gespräch einmal auf eine junge argentinische Startänzerin kam, erfreute er die Runde mit der weltmännisch-genießerischen Frage: ‚Und, wie fühlt sich die so an?‘ Grau, mein Freund, ist alle Theorie – probier’s halt!“

Inzwischen ist der Herr Tangoausbilder und bietet u.a. Einzelstunden für schlappe 100 Euro pro 60 Minuten an. Chapeau!

Noch eindrucksvoller sind jedoch seine „Tango-Gedanken“, die er sich nachweislich zu verschiedenen Themen gemacht hat. Ich zitiere, weil’s so schön ist, auszugsweise:

„High Heels – sexy und effektiv
 
Tangoschuhe sind sexy Sandalen auf hohen Absätzen. (…)
Die Beine der Milonguera stehen besonders für erfahrene Tänzer im Fokus der Aufmerksamkeit. Je schöner und sicherer sie die Füße setzt, desto eleganter wirkt sie und desto anziehender ist sie als Tanzpartnerin. (…)
Tangoschuhe gibt es in den verschiedensten Absatzhöhen, in allen Farben und Formen, und den letzten Schliff, die persönliche Note, bekommen sie oft durch eine farbliche Gestaltung der Zehennägel. 
Dann ist der Milonguero gefordert, das Können und die Kreativität der Milonguera zu erwidern und durch eine einladende Führung ihre Beinarbeit vollends zur Geltung zu bringen.“


Natürlich darf auch der thematische Renner des deutschen argentinischen Tangos nicht fehlen:

„Cabeceo oder die traditionelle Form des Aufforderns

Alleine das Betreten einer Milonga ist schon etwas Besonderes: das Summen der Musik, die Stimmen der Besucher im Hintergrund und das Verlangen, sich zur Musik zu bewegen. (…)
Wartet auf das Lied, bei dem man nicht mehr sitzen kann, und lässt den Blick über die Anwesenden streifen, bis er bei der Dame verweilt, in deren Augen man das gleiche Bedürfnis wahrnimmt.
Die Blicke der beiden verbinden sich, und während der Milonguero aufsteht und auf die Milonguera zuschwebt, wird der Augenkontakt gehalten. In dem Augenblick, in dem der Milonguero vor der Milonguera steht und diese sich vor ihm erhebt, ist der Pakt für den Tanz geschlossen.“

Wahrlich, so lange die Musik nur aus der Ferne summt (wie die Biene, wenn sie den Text vergessen hat), mag sie ja erträglich sein. Und auch das „Zuschweben“ auf die Milonguera wird sich notfalls irgendwie mit dem hauseigenen BMI vereinbaren lassen!

Ebenfalls muss die Umarmung (oder „Abrazo“, wie wir Fachleute sagen) mit der nötigen Oxytocin-Aufschwemmung serviert werden, um das Weib (wie in der „Zauberflöte“) an unseren heißen Busen zu drücken…

„El Abrazo
 
Gut zwei Meter auseinander stehen die Paare und schauen sich lange und tief in die Augen. Bis der Mann in den Augen der Frau wahrnimmt, dass sie in den Arm genommen werden möchte. Erst dann nähert er sich auf sanfte und bestimmte Art der Frau, bis er direkt vor ihr steht. 
Durch ein streichelndes Hineingleiten in die Umarmung wird die Innigkeit erweckt, ein dahinschmelzendes Lächeln wird sichtbar in den Augen der Frau. 
Sie lässt los und gibt sich ganz dem Tango hin, diese Innigkeit, die die Frau ausstrahlt, springt auf den Mann über und verleiht ihm Flügel.“

Mir schmilzt bei solchen Texten auch gerade etwas in den Augen… Es ist atemberaubend, wie der Autor immer wieder einen metaphorischen Spannungsbogen aufbaut, um das Bild dann im letzten Moment scheppernd zum Absturz zu bringen!

Merke: „Red Bull verleiht dir Flügel, Pitbull macht dir Beine.“ 

Wichtig beim traditionellen Tango ist selbstverständlich die Verklärung der Vergangenheit – sprich der goldenen Zeiten von Armut, Unterdrückung und Machismo:

„Der Blick in die Vergangenheit

Der Mann als Gestalter des Tanzes, der wie ein Lotse an Board eines Schiffes das Paar durch die Herausforderungen der Tanzfläche steuert. Die Frau, die zum Strahlen gebracht wird und den Lotsen dabei wie ein Kapitän zu der Kreativität leitet, die sie begeistert.
Woher kommt dieses Klischee?
Aus dem 19. Jahrhundert, aus einem von Machismo geprägten Land. Wo man sich für die weibliche Schönheit zu tödlichen Duellen hinreißen lässt. (…) Wo der Mann mit stolz geschwellter Brust voranschreitet und die Frau im Ausdruck Ihrer Weiblichkeit ihm ihre Brust entgegenbringt.
Und so bietet der Tango argentino eine Möglichkeit, sich nicht nur gemeinsam zur Musik zu bewegen, sondern auch in längst vergangen Zeiten zu schwelgen. (…) Diese Bilder allein lassen ein Feuerwerk der Sehnsüchte in uns entstehen und machen diesen Tanz unersetzbar für alle, die vom Tangofieber befallen sind.“

Fürwahr! Und erst das Feuerwerk, welches in meinem Zwerchfell tobt, wenn ich eine derartige trivialliterarische Knallfrosch-Semantik genießen darf!

Und noch’n Zitat:

„Der Chauffeur stand stumm, unbeweglich wartend neben dem eleganten Auto. In seinem gebräunten, energischen Gesicht bewegte sich kein Muskel. Nur die Augen schienen Leben zu haben, tiefliegende, stahlblaue Augen, in denen sich die ganze Energie des kraftvollen, schlankgewachsenen Mannes zu konzentrieren schien. (…)
Lonny Straßmann aber widmete dem vor ihr sitzenden Chauffeur ihre Aufmerksamkeit mit einer seltsamen Intensität. Sie konnte zuweilen sein scharf gezeichnetes Profil sehen. Und wie so oft musste sie denken, was für einen eigenartig vornehmen Eindruck dieser Chauffeur Hennersberg machte.
Der herbe Duft, der seinem Lederanzug entströmte, drang durch die halb geöffnete Scheibe zu ihr herein. Sie atmete ihn ein wie ein Parfüm. (…)
Lutz Hennersberg hatte die kleine, warme Mädchenhand festgehalten. Ihre Worte beglückten ihn, und, von seinen Empfindungen hingerissen, vergaß er einen Augenblick, dass er jetzt nur Chauffeur war. Er beugte sich über ihre Hand und zog sie impulsiv an seine Lippen. (…)
‚Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, wenn ich Ihnen einen Dienst erweisen kann‘, sagte er mit verhaltener Stimme, aber in einer so weltmännischen-ritterlichen Art, dass sie stutzte. Auch der Handkuss, der auf ihrer Hand brannte, da sie den Handschuh schon abgelegt hatte, brachte sie außer Fassung. Sie sah noch einmal in sein erregtes Gesicht, in seine stahlblauen, tiefliegenden Augen hinein, und eine helle Röte stieg ihr ins Gesicht.
‚Gute Nacht‘, hauchte sie verwirrt, schloss schnell das Tor auf und verschwand.
‚Gute Nacht!‘
Dieser Ruf, der mit einer seltsamen Wärme und Innigkeit über seine Lippen drang, klang noch zu ihr hinüber.“

Nein, obwohl es passen würde: Dieser Text stammt nicht von unserem rhetorisch geschwollenen Tangopädagogen, sondern aus dem Roman „Der Abschiedsbrief“ von Hedwig Courths-Mahler – immerhin aus dem Jahr 1930 und damit fast noch älter als die EdO!

Gönnen wir unserer von solchen Texten gepeinigten Seele lieber noch die Bildnisarie" aus Mozarts Zauberflöte, die keiner so schön gesungen hat wie Fritz Wunderlich:


https://www.youtube.com/watch?v=5f0HTCugl_Y


Kommentare

  1. Zum Glück gibt es Tangolehrer, welche den „Abrazo“ etwas nüchterner sehen. Heute veröffentlichte Michael Kronthaler ("Tango-X") folgenden Text zu seinem neuesten Workshop-Angebot (in Auszügen zitiert):

    „Zum Erstaunen vieler ist eine gute Umarmung zuerst einmal eine technische Angelegenheit. Erst im zweiten Anlauf kommen die gefühlsbetonten Aspekte zum Tragen.

    Sehr oft werden in Workshops oder in speziellen Veranstaltungen die emotionalen Aspekte in den Vordergrund gerückt. Das ist die einfachere Variante. Es ist leichter über schöne Umarmung, über Herzverbindung oder innige Vereinigung zu schwadronieren, anstatt darüber zu reden, was eine gute Umarmung ausmacht, wie man überhaupt die Fähigkeit aufbringen kann, eng zu tanzen. Leider wird die enge Umarmung auch gerne als Vorwand missbraucht, um beim Partner (sagen wir’s mal nett) übergriffig zu werden. Würde man sich in einem Büro verhalten wie manche beim Tango, wäre eine Abmahnung die Folge.“

    Na eben!

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  2. Oh sülz, oh schmalz! "Die Beine der Milonguera stehen besonders für erfahrene Tänzer im Fokus der Aufmerksamkeit... farbliche Gestaltung der Zehennägel..." Ich schmeiß mich wech... Obwohl, wir hatten in unserem Laden auch schon mal Besuch von einem Schuhfetischisten. Der trug die Schuhe aber selber und hat keine schiefen Bilder bemüht.

    Das Hedwig-Courtz-Mahler-Zitat ist auch sehr schön. Man kann aber auch Zitate aus echten Tango-Liedern schöpfen, Herz-Schmerz halt. Ich finde, ehrlich gesagt, z.B. auch "Malena" nicht ganz zum ernst nehmen. Homero Manzi war halt damals hin und weg von einer Sängerin, und so musste er diesen Text ergießen. Ich finde das alles wunderbar, solange man es nicht zu ernst nimmt. Zum Malena-Text fragte neulich eine (nicht-Tango-tanzende) Freundin: "Ist das von Ralf Siegel?"

    Viele Grüße, Annette


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    1. Liebe Annette,

      einen schönen Gruß an die Freundin: Ralph Siegel hat Schlager komponiert, getextet allerdings wurden viele seiner Hits wie “Johnny Blue”, “Moskau”, „Theater“ oder “Ein bisschen Frieden” von Bernd Meinunger.

      Aber klar, Tangos gehören in ihrer Mehrzahl zur Schlager- und Unterhaltungsmusik – sonst wären sie noch schwieriger zu tanzen.

      Textlich möchte ich da zumindest Enrique Cadícamo, Horacio Ferrer und Homero Manzi ausnehmen.

      Neulich hat eine Veranstalterin „Malena“ mit den Worten angekündigt, sie sei eine Sängerin, die „ihre besten Zeiten hinter sich“ habe. Nicht, was den Tango betrifft: Ihre Stimme ist gefärbt von Alkohol, Katastrophen in ihrem Leben (und wohl auch ihrem Alter). Damit verkörpert sie die Zerrissenheit des Tango – jedenfalls in Manzis Blick – perfekt.

      Wenn ich daneben „Dschinghis Khan“ laufen lasse – na ja… Aber jeder nach seinem Geschmack!

      Liebe Grüße
      Gerhard

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