Karen Kaye: Tango ist nicht für jeden



Meine Übersetzung des Textes der kalifornischen Bloggerin zum Auffordern (http://milongafuehrer.blogspot.de/2016/09/karen-kaye-acht-wege-zum-tanzen.html) stieß, wie ich schon vorab vermutete, auf sehr starkes Interesse.

Daher habe ich nun, wiederum mit ihrer freundlichen Erlaubnis, Karens neuesten Artikel übersetzt, der bei Facebook fast 250 Mal geteilt wurde – zu recht: Handwerklich ist es ihre bisher beste Leistung. Und mich amüsiert er schon deshalb, weil ich mir die Gesichter der Tangolehrer beim Lesen vorstelle:  

Tango ist nicht für jeden

Wenn jemand sein Interesse am Tango bekundet, zögere ich oft. Ich weiß, Tango schaut lustig, sexy und schön aus, aber er kann ein ernsthaftes Engagement sein. Er ist eine heftige Beschäftigung. Ja, manche Leute tanzen gelegentlich Tango als Hobby. Aber hier ist die Realität: Tango ist wie ein Vampir, der in dein Herz beißt und deine Seele für immer verändert. Wenn er dich erst gebissen hat, wirst du zu einer endlosen Suche verführt, die deine Zeit, dein Geld, deinen Geist – und dein Herz – stiehlt. Daher sei gewarnt…

Du solltest Technik LIEBEN.
Wenn deine Leidenschaft der bodenständigen, detaillierten Technik gehört, welche die Nuancen der Bewegung, des Führens und Folgens, die Verbindung, Haltung und körperliche Abstimmung betrifftt, wirst du vom Tango gefangen sein. Die Menge an Technik, die du lernst, wird dich zutiefst demütig machen. Wenn du nur Spaß haben willst, denke daran, dass die Vorstellung deines Partners davon gewöhnlich darauf basiert, diesen kunstvoll zu betreiben. Die meisten Tangotänzer spielen nicht einfach herum. Technik ist das, was den Tanz für deinen Partner toll erscheinen lässt. Wenn du darauf achtest – super! Wenn nicht, ist Paartanz vielleicht nichts für dich…

Es kostet Geld.
Wenn du nicht darin investierst, wirklich Tango zu lernen, wirst du wahrscheinlich nicht viel tanzen oder es genießen, wenn du tanzt. Privatstunden, Workshops, Tangoschuhe, Milongas, Practicas, Kleidung – es summiert sich schnell und ist ziemlich suchterzeugend. Du gibst ernsthafte Summen für Privatstunden aus. Ich kenne einen Jungen, der sein jährliches Tangobudget bereits im Februar sprengte. Tango ist wie eine Heroinabhängigkeit. Nur Tod und Erstarrung können sie beenden.

Es ist eine lange Bindung.
Tango ist kein Tanz, den man in sechs Monaten oder fünf Jahren meistert. Er ist kein „einmal in der Woche“-Tanz. Die Trauben beim Tango hängen hoch. Er stellt eine vielschichtige Kunst dar, die sich endlos ausbreitet für diejenigen, welche die schwer fassbare Meisterschaft darin anstreben. Du dachtest, du hättest eine Bewegung gelernt – und dann verbringst du Jahre damit, zu lernen, wie sie korrekt geht. Ochos sind nur einfach, wenn man sie falsch macht.

Und Tango ist intim.
Ein guter Tanz läuft für mich so ab: „Hi, ich bin Karen.“ Sekunden später bin ich an seinen Körper hingeschmolzen, und meine Lippen sind kaum ein paar Zentimeter von seinen entfernt. Es sind vier Beine und ein Herz – und wir entblößen uns langsam bis zu einer totalen Verletzlichkeit, indem wir den Schleier fallen lassen – während einer neunminütigen Erkundung der gegenseitigen Fähigkeiten, des Potenzials und des Ausdrucks.
Am Ende kennen wir uns in einer Weise, die wir wohl nur intuitiv verstehen. Ich weiß, ob er eine Frau mit Zärtlichkeit, Befehlsgewalt oder Vorsicht umarmt. Ich fühle, ob er als Erstes das Herz, den Geist oder den Körper einer Frau sucht. Ich weiß, ob er mehr denkt oder fühlt. Ich fühle, wo er sicher, scheu oder selbstsüchtig ist. Ich fühle, wonach er hungert und was er fürchtet. Ich weiß, ob er mich als Eroberung, Mitarbeiter oder Ausführender seiner Befehle sieht. Ich weiß, ob er ein Abenteurer, Forscher oder Erfinder ist. Ich weiß, ob er sich dem Tango als Künstler, Ingenieur oder Architekt nähert. Ich weiß, ob er ein witziger Unterhalter oder ein neugieriger Zuhörer ist. Ich entdecke, was ihn sexy, schön und zutiefst hinreißend macht – sogar, wenn alles, was er tut, „nur tanzen“ ist.

Tango kann irrsinnig kompliziert sein. Teuer. Mühselig. Demütigend. Und zutiefst demaskierend.

Er ist nicht für jeden. Für manche Leute ist er momentan nichts.

Als ich begann, sagte man mir, nicht ich würde den Tango finden – sondern der Tango mich.

Lass es zu, dass dich der Tango findet. Und bereite dich darauf vor, wenn es geschieht, denn der Tango ist ein erbarmungsloser Dieb. Er wird dir sachte deine Zeit stibitzen, dein Geld und vielleicht dein Ego – wenn du den Mut hast, dich dem zu ergeben. Tango enthüllt unseren wahren Charakter, unsere Verletzlichkeiten, unsere Schwächen und magisch in uns schlummernden Talente. Aber nur für die, welche willens – und fähig – sind, dem Tango das zu geben, was er zunächst von uns verlangt.

Und hier wieder der Originaltext: https://karenkaye.net/2016/09/12/everyone/

Um es mit den Worten meines Kollegen Cassiel zu formulieren: Vielleicht lasse ich diesen Text zunächst einmal so stehen und überlasse meinen Lesern das Urteil. Irgendwann demnächst werde ich aber sicher auch meinen Senf dazu geben!


Alsdann, mein Kommentar:


Wenn man die früheren Texte der Autorin zum Tanzen mit diesem vergleicht, so fällt auf, dass ihr die „kalifornische Lockerheit“ ein Stück weit verloren geht. Ein wenig, so mein Eindruck, hat sie sich schon von dem Weihrauch betäuben lassen, welcher gerade in der traditionellen Szene zu diesem Thema geschwenkt wird: Alles ist so ernst, schwierig und schicksalsschwer, dass der Spaß allmählich zu kurz zu kommen droht.



Die meisten ihrer Beobachtungen und Schlussfolgerungen kann ich jedoch unterschreiben: Wer schon einmal einen „richtigen“ Tango getanzt hat (und nicht das irrtümlich oft so genannte Voreinanderher-Getappe), kommt schwer davon los.



Technik ist sicherlich eine wichtige Basis jeden Tanzes. Ich habe aber schon mit technisch nahezu perfekten Partnerinnen getanzt und überhaupt nichts vom Zauber des Tango gespürt – und im anderen Extrem Tänze mit Frauen erlebt, die wirklich nicht viel konnten und trotzdem meine Glückhormone enorm steigerten. Drei Beispiele habe ich schon in Artikeln geschildert:

Man muss daher (gerade bei der Qualität des Tangounterrichts in unseren Breiten) kein Vermögen ausgeben – jedoch über etwas verfügen, das ich schwer beschreiben kann und einmal als „Verrücktheit“ bezeichnet habe. Diese sorgt dafür, dass der „Spaßfaktor“ (ein Wort, für das ich schon gescholten wurde) nie unter 51 Prozent sinkt…

Kommentare

  1. Sehr erfrischend! Endlich mal nicht das übliche weichgespülte Gesülze, sondern geradeheraus angesprochene Fakten. - Mit den weitreichenden Schlussfolgerungen nach neun Minuten Tango miteinander wäre ich allerdings vorsichtiger!

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  2. Du bist ja auch keine Frau...

    Sicher geht es nicht immer so weit. Aber ich habe selber genug solche Situationen erlebt. Tango ist wie eine Lupe: Wer durchguckt, ist selber schuld!

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  3. Hallo Gerhard,

    ich bin eine Weile um diesen Beitrag herumgeschlichen und habe mich gefragt, was mich daran stört. Der Beitrag ist ja nicht dogmatisch und hausmeisterhaft, außerdem ist er sehr leidenschaftlich. Aber mich stört der Satz "Tango ist nicht für jeden". Wie will die das beurteilen? Sie beschreibt doch nur ihre eigene Leidenschaft, vielleicht ist Tango für jemand anderes auch etwas ganz anderes, wovon sie nie eine Ahnung haben wird. Etwas mehr Bescheidenheit fände ich angemessen.

    Ich tanze zur Zeit z.B. nur einmal pro Woche, und dann auch nicht so viel, einfach, weil ich noch weitere Aufgaben, Hobbies und Leidenschaften habe. Ich kenne Leute, für die ist Tango ein großer Spaß, Zerstreuung und Entspannung, aber nichts Heiliges und auch nichts Erfüllendes. Sie genießen das Miteinander netter Leute. Man kann natürlich hochnäsig behaupten, dann ist das eben kein "Tango". Aber wer hat denn hier die Definitionshoheit? Wer zum Tangotanzen kommt, dem sei es gegönnt. Tango ist eine Mischung sehr unterschiedlicher Komponenten, und verschiedenen Leuten sind verschiedene Aspekte wichtig.

    Auch wenn ich nicht soo oft tanze, oder vielleicht nicht so gut, oder oft nicht so oxytozinhaltig, Tango ist trotzdem auch für mich. Meine wichtigste Komponente ist die Musik. Die kann ich auch mal auf dem Sofa genießen, mit Kopfhörern. Andere wollen diese Musik nur dann hören, wenn sie auch tanzen können, sonst ist ihnen das "zu langweilig". Man könnte das gegenseitige Unverständnis kultivieren, man kann es aber auch mit Humor nehmen, ist eben so.

    Diese Karen Kaye ist mir jetzt etwas unheimlich. Ihr erster Beitrag hat mir sehr gut gefallen, den dritten habe ich noch gar nicht gelesen, kommt noch.

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    1. Liebe Annette,

      stimmt schon, die Titel-Aussage ist ziemlich hart. Trotzdem finde ich sie interessant und habe sie gerne zur Debatte gestellt.

      Für wen nun Tango etwas ist und gegebenenfalls was, obliegt natürlich dem Einzelnen. Ich habe aber in vielen Tangojahren eine ganze Menge Menschen (weibliche in der Überzahl) kennen gelernt, die nach anfänglicher großer Faszination irgendwann das Handtuch warfen – nicht selten frustriert und verbittert.

      Pauschal scheint an der Aussage Karen Kayes daher schon etwas dran zu sein. Probleme haben offenbar die Leute, welche mit ihrer bisherigen Rolle im Leben unzufrieden sind und nun möchten, dass sie durch den Tango ein anderer Mensch werden. Das klappt so gut wie nie.

      Wer sich vom Tango das holt, was ihn speziell anregt (sei es die Musik, das Auflegen oder einfach die Gesellschaft netter Menschen), ist besser dran. Wer in erster Linie tanzen will, ist stärker gefährdet. Ich lese den Text aber nicht so, dass sich die Autorin irgendeine „Definitionshoheit“ zum Tango anmaßt.

      Dennoch lautet mein Rat an eher blauäugige Tango-Aspiranten stets: „Dir ist schon klar, dass du dich auf eine Achterbahnfahrt einlässt? Von höchster Verzückung bis zu Blut, Schweiß und Tränen ist alles drin!“

      Danke für Deinen Beitrag – ich glaube, dass einige Leser Bedenken dieser Art haben. Der Text lässt einen nicht kalt und provoziert zur Diskussion. Und das ist gut so.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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