Karen Kaye: Ein hinreißender Tänzer sein



Die kalifornische Bloggerin Karen Kaye nun zum Dritten… keine Angst, mehr wird es erstmal nicht!

Ich habe diesen Text übersetzt, da er der Erklärung eines Phänomens nahe kommt, das ich immer wieder erlebe: Worin besteht das gewisse Etwas, welches uns bei einem Tanzpartner entzückt? Die Choreografie oder Technik: nein – Schönheit und Jugend auch nicht. Beachtung der Códigos? Da wennst mir net gangst… Die tolle Musikinterpretation? Vielleicht schon eher, aber nicht an erster Stelle.

Die amerikanische Autorin hat dafür das Wort „captivating“ verwendet, was man, je nach Zusammenhang, mit „hinreißend“, „bestechend“, „bezaubernd“ oder „entzückend“ übersetzen kann. Jedenfalls etwas, das einen im Wortsinn „gefangen nimmt“. Wie immer man zu den von ihr beschriebenen Details stehen mag: Insgesamt kommt sie dem Phänomen damit ziemlich nahe.

Alsdann:  

And now, ladies and gentlemen, the stage is set for… Karen Kaye:


Ich strebe nicht danach, eine Weltklasse-Tänzerin zu sein. Ich möchte eine hinreißende Tänzerin sein. Die 15-jährige Beobachtung verschiedener Stile brachte mich zu der Überlegung, wieso einige Tänzer einfach bezaubernd sind und andere großartig, aber… es nicht so interessant ist, sie anzusehen oder mit ihnen zu tanzen. Hier sind ein paar Einsichten dazu.

1.    Wir üben eine Kunstform aus.

Ja, Tanz ist Spaß und Ausdruck, aber er ist auch eine Kunst: Das Gesamtpaket, bestehend aus Bewegung, Outfit, Schuhen (wenn Sie Tango in Tanzsneakers getanzt sehen, wissen Sie was ich meine), Frisur, Physik des Körpers, Linien und Silhouetten, die wir in unseren Aktionen kreieren, sogar unsere Gesichtsausdrücke und Attitüden. Ich liebe es, wie Standardtänzer, klassische und moderne Tänzer dieses Konzept perfektioniert haben. Wenn wir den Tanz in die  Kunst einordnen, verändert das unsere Art zu tanzen, auch gesellschaftlich. Eine schöne Ästhetik ist stets faszinierend für mich.

Letztlich entscheidet der Anblick (darum legen sich Turniertänzer vor einem Wettbewerb Sonnenbräune zu!). Die Leute strömen zum Ballett, um einen schönen Körper in einem luftigen Kostüm zu sehen, der sich graziös und artistisch bewegt. Ich glaube nicht, dass die Körperform hier jemand ausschließt; man muss aber wissen, wie man seinen Körper bewegt, ihm schmeichelt und ihn, mit Bewegung und Kleidung, schön wirken lässt. Die Leute hätten sich nicht für Jewel McGowans Schwünge interessiert, wenn sie Cargohosen getragen hätte:    


        
(Anm. d. Übers.: In dem Video taucht ab 2:12 ein Traditionstänzer auf!)

2.    Wir sind Geschichtenerzähler:

Einige meiner besten Tänze hatte ich mit Jungs, die Schauspieler sind. Sie verstehen es, im Tanz eine großartige Geschichte zu erzählen... Sie schlüpfen in die Rolle und nehmen mich mit. Manchmal blickt mich mein Partner an, als ob ich ein Bissen eines gebutterten Steaks wäre, dass er gerade verschlingen will – und beim nächsten Stück erscheint er kalt und wütend und schaut mich nicht an.

Für mich sind hinreißende Tänzer emotional verbunden. Und wenn das geschieht, beginnt sich eine faszinierende Geschichte zu entwickeln. Ob wir es wollen oder nicht – wir erzählen eine Geschichte, wenn wir tanzen. Suchen Sie eine gute aus. Werde Sie verletzlich und drücken Sie die Energie aus, die Sie mit Ihrem Partner fühlen. Schaffen Sie Augenkontakt. Ich verstehe nie, warum die Menschen sich nicht anschauen, wenn sie miteinander tanzen. Für mich schafft das den Eindruck, zusammen zu tanzen, aber nicht wirklich zusammen zu sein – so scheinen sie voneinander und dem Moment, den sie teilen, getrennt. Ich verwende Blickkontakt wie ein Gewürz: eine Prise hier und da für die Betonung. Er sorgt für das Design – verwenden Sie ihn!

3.    Wir sind in einer Beziehung:

In dem Moment, wo Sie „na klar“ sagen, wenn Sie jemand um einen Tanz bittet, begeben Sie sich in eine zeitliche Beziehung. Verhalten Sie sich danach. Sie würden sich nicht in ein Verhältnis begeben und einfach tun, was Sie wollen, mit null Rücksicht für den anderen. In einer respektvollen Beziehung will wahrlich keiner Schmerz, Gefahr oder Peinlichkeit erzeugen – oder dem Partner das Gefühl geben, missachtet oder benutzt zu werden. Wenn Sie es nicht in einer fünfjährigen Beziehung tun, lassen Sie es auch in einem fünfminütigen Tanz. Wir alle verdienen diesen Respekt, oder?

Ich erhalte einen gewaltigen Eindruck, wie jemand sich in einer Partnerschaft verhält, wenn ich sehe, wie er tanzt. Ich kann angesichts seines Tanzens sagen, ob er ein guter Kommunikator und Zuhören ist. Gute Partner sind gut im Einklang mit dem, was ihr Partner tut oder ausdrückt. Sie arbeiten miteinander zusammen… sie übernehmen die gemeinsame Verantwortung für das Erlebnis. Sie erwarten nichts, aber geben alles. Sie hören mehr zu als selber zu reden.

Wenn die Chemie stimmt, ist mein Ziel, den Partner zu bezaubern. Ich möchte, dass er fasziniert von unserer gemeinsamen Erfahrung ist. Manchmal ist ein Tanz nicht nur „eben ein Tanz“. Wir erreichen das, indem wir uns voll in die Beziehung begeben und es zulassen, uns mit Verletzlichkeit, Offenheit und Respekt für unseren Partner zu verbinden. Ich mag keine „Pole-Tänzerin“ sein, welche den Führenden so behandelt, als ob er nur eine Stange wäre, die mich aufrecht hält, während ich tue, was ich will.

Was mich am meisten hinreißt, ist es, zwei Tänzer zu sehen, die sich gegenseitig völlig bezaubern. Wenn sie eine fantastische, dynamische Geschichte (oder Unterhaltung) bieten und gleichzeitig völlig in ihrer gegenseitigen Beziehung aufgehen, haben sie mein Herz gewonnen. Machen Sie zur totalen Perfektion die ganze Erfahrung einer Kunstform mit Beachtung aller visuellen Einzelheiten!

DANN haben wir ein Erlebnis, das mich in innerster Seele packt – und mich beflügelt, es im eigenen Tanzen anzustreben.

Den Originaltext findet man hier:

P.S. Bekanntlich ist der intensive Blickkontakt gerade in den lateinamerikanischen Tänzen besonders wichtig. Wenn wir (in unserem früheren Leben) gelegentlich mit einem langjährig verbundenem Paar beispielsweise Rumba übten und sie aufforderten: „Schaut euch doch mal an!“, erlebten wir oft regelrechte Panikreaktionen. Offenbar hatten sich die beiden schon jahrelang den Anblick erspart…

Kommentare

  1. Hallo Gerhard,

    auch dies ist ein sehr schöner Text, von dem mir fast alles sehr gut gefällt. Er beschreibt einen Idealzustand, und es ist natürlich ein Glück, wenn ein Tanzpaar diesen erreicht. Und es ist schön, den anzustreben.

    Trotzdem finde ich, der Text hat einige recht selbstüberzeugte Elemente. Sie schreibt: "Ich erhalte einen gewaltigen Eindruck, wie jemand sich in einer Partnerschaft verhält, wenn ich sehe, wie er tanzt. Ich kann angesichts seines Tanzens sagen, ob er ein guter Kommunikator und Zuhören ist."

    Wenn sie sich da mal nicht täuscht! Eine Beziehung kann jahrzehntelang glücklich sein und trotzdem tanzen beide schlecht und mißverstehen sich in ihrem Tango. In einer guten Beziehung ist das kein Untergang sondern Anlaß zum Lachen. Und das umgekehrte gibt es auch, traumhafte Paare aber eine schlechte Beziehung. Da blickt man nicht hinein.

    Ich habe zugegebenermaßen nur die drei Texte gelesen, die Du hier präsentierst. Aus denen spricht sehr viel Tangoleidenschaft, aber es ist völlig offen, wie beziehungserfahren die Karen selbst ist. Die leidenschaftlichsten Tango-Süchtigen sind oft die einsamen Herzen, die im Tango einen Ersatz für das suchen, was sie im Leben beziehungsmäßig nicht auf die Reihe bekommen. Es gibt kaum eine andere Szene, in der sich so viele suchende Singles tummeln. Aber gerade solche sind oft die, mit denen sich beim Tanzen wunderbare Glücksmomente einstellen können. Tunlichst vermeiden solche Tänzer, die Kommunikation vom Tango wegzuverlagern.

    Du schreibst in dem anderen Kommentar ja selbst: "..die nach anfänglicher großer Faszination irgendwann das Handtuch warfen – nicht selten frustriert und verbittert." Weil eben gutes Tangotanzen und eine gute Beziehung doch grundverschiedene Dinge sind und nicht verwechselt werden sollten.

    Ich bin immer etwas skeptisch, wenn jemand einen Idealzustand zu schwärmerisch verklärt. Das macht zwar Spaß, aber so ist das Leben nicht.

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    1. Liebe Annette,

      klar, der Text stammt von einer Amerikanerin – da darf man kein zergrübeltes In-Frage-Stellen erwarten. Das ist und bleibt eine deutsche Spezialdisziplin.

      Was mich bei Texten allerdings überhaupt nicht interessiert, ist das Privatleben des Autors (ich wäre beispielsweise froh, wenn ich das von Goethe nicht kennen würde). Und selbst wenn, hat man ja meist nur die „offizielle“ Version – doch wie’s da drin aussieht…

      Die meisten Rückzüge vom Tango habe ich bei zwei Personengruppen erlebt: Bei Singles, die ihn mit einer Partnerbörse verwechselten, und bei langjährigen Paaren, die mittels dieses Tanzes ihre Beziehungsprobleme lösen wollten (und meist dadurch erst erkannten, wie tiefgreifend diese waren).

      Wie Karen Kaye glaube ich aber schon, an der Körpersprache, die ein Paar miteinander zeigt, den Zustand der Partnerschaft grob erahnen zu können – insbesondere beim Tango. Das hat mit der technischen Qualität (oder gar Perfektion) des Tanzens nichts zu tun – wohl aber mit der Kommunikation, der Frage, wie man auf „Fehler“ reagiert usw.

      Sicherlich kann man die Verständigung beim Tanz nicht eins zu eins auf das Leben verlagern – eine gewisse Grundeinstellung ist jedoch sehr wohl ablesbar. Früher war ich der Ansicht, ich könne erst beurteilen, ob eine Frau zu mir passt, wenn ich mit ihr zusammen ein IKEA-Regal zusammengebaut habe. Heute würde ich ergänzen: und nach einem gemeinsamen Tango.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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