Die Milonga der Uneingeladenen


Ich hatte schon länger vor, einmal einen Artikel des sehr produktiven Bloggers „Tango Therapist“ zu besprechen. „Reflexionen über die therapeutisch kraftvollen ‚vier M’s‘ des argentinischen Tango“ nennt er seine Seite: „Music, Movement, eMbrace and Mindfulness – also „Musik, Mobilität, uMarmung und Mitmenschlichkeit“ (oder so).  

Mark Word, so sein Name, hat Sprachen, Philosophie sowie Theologie studiert und ist ein lizensierter Therapeut, der sich mit den psychischen Problemen von Trauma-Opfern beschäftigt – ein entscheidender Vorzug für jemanden, der sich „Tango-Therapeut“ nennt.

Bislang hatte ich von einer Besprechung abgesehen, weil mir seine Texte schon sehr psychologisch-verschwurbelt erschienen. Zudem singt er ideologisch korrekt das Hohe Lied des konservativen Tango – und ist ausweislich eines seiner „Leitartikel“ ein linientreuer Código-Experte:

Nun habe ich aber einen Artikel von ihm entdeckt, der ein wenig von der Spur abweicht: Unter dem Titel „Milonga of the Uninvited“ befasst er sich mit dem Teil der Menschheit, welcher keine Einladung zu hochmögenden Encuentros erhält:

Alles habe mit der E-Mail eines Freundes und Tango-Veranstalters begonnen, der den Besuch einer Milonga ganz in seiner Nähe vorhatte: „Gehst du auch zu diesem Encuentro?“, wollte er von ihm wissen. Aber, o je, unser lieber Mark wusste von gar nichts davon – dabei würden offenbar viele Freunde da sein! Wie hatte er die Ankündigung übersehen können?

Seine Internet-Recherche ergab: Die Werbung dafür war öffentlich, aber es gab wohl von vornherein eine VIP-Gästeliste. Das erinnerte ihn an die 4. Klasse, wo er reicher Mitschüler jedem erzählte, er veranstalte am nächsten Tag eine Party – aber die halbe Klasse war nicht eingeladen.

Inzwischen sieht der Autor den Vorfall als „kostenlose Tango-Lektion“ und einen verkappten  Segen: Ausgeschlossen zu sein erschien ihm als die beste Lernerfahrung im sozialen Tango. Er begriff, was dieser Tanz – zumindest für ihn – bedeutete. Etwas nicht zu bekommen könne mentales Wachstum bewirken.

Immerhin war der Schreiber zu einigen anderen Milongas an diesem Wochenende kostenlos eingeladen. Anscheinend hatte er damit begonnen, sich als Blogger für einen Promi zu halten – und zudem sei er eine „Tango-Drohne“ (also einer, der fast alle Tandas tanzt, noch dazu mit jeder „Biene“, die in den „Stock“ kommt). Doch das Gefühl, zu den VIPs zu gehören, hatte ihn von der Philosophie des sozialen Tango entfernt. Klar fühle es sich gut an, zu den VIPs zu gehören, angesagte Partys zu besuchen – aber wenn nicht, käme er sich nicht ausgeschlossen vor.

Er hatte nur die Spielregeln nicht verstanden: Man musste offenbar ein Geschäftspartner oder sonst eine besondere Person auf der Veranstalter-Liste sein. Er sei das nicht und fühle sich wohl damit. Er respektiere jedoch, wenn andere dazugehörten, und freue sich für sie. 

Die Tangoveranstaltung, welche er schließlich stattdessen besuchte, nannte er die „Milonga de los Desinvitados“ – die „Milonga der Uneingeladenen“. Er merkte, dass viele auf der Veranstaltung sich ausgeschlossen vorkamen, weil sie nicht zu dem „wichtigen“ Encuentro eingeladen worden waren. Man sah sich als zweitklassig an. Noch mehr aber fiel ihm auf, dass es offenbar auf jeder Milonga Leute gebe, die mehr herumsitzen, als sie wollen – die „desinvitados de los desinvidatos“, also die „Uneingeladenen der Uneingeladenen“.

Denen widmete er sich an diesem Abend, und es sei ganz magisch gewesen. Er entdeckte spezielle Qualitäten, Talente und eine bewundernswerte Geduld beim Warten auf einen Tanz. Mit einigen dieser Frauen tanzt er noch heute. Die gesamte Stimmung wandelte sich: Man gehörte dorthin, wo man war.

Der Text schließt mit diesem Absatz:

„Wie Mick Jagger einmal sagte ...
‚Du kannst nicht immer bekommen, was du willst‘. Ich habe nicht das bekommen, was ich wirklich wollte – auf einer Milonga voller Freunde und großartiger Tänzer zu sein. Aber indem ich nicht erhielt, was ich wollte, lernte ich, wer ich war und wer ich bleiben möchte. Ich tanze sozialen Tango. Ich denke, nur zu tanzen, um einen Partner zu treffen, noch einen Schritt zu lernen, ein VIP zu sein, sich in einer speziellen Gruppe zu befinden – all dies wird zur Enttäuschung führen. Auf diesem Weg droht das soziale Tier in uns zu verhungern, da das soziale Element des Tangos vollständig verloren geht.

Ich sage voraus, wenn Sie diejenigen fragen, welche den Tango nach so vielen Jahren der Liebe verlassen, werden Sie feststellen, dass sie gehen mussten, um das soziale Tier zu füttern, das langsam verhungerte. Fragen Sie! Ich sage Ihnen voraus: Hinter der Antwort auf ‚Warum ich den Tango verlassen habe‘ werden Sie entdecken, dass den Tango aufzugeben der logische Schritt war, weil die ‚Art des Tangos‘ längst den Bereich des ‚freundlichen Tangos‘ und seiner sozialen Versorgung verlassen hatte.

Als Desinvitado konnte mir klarer werden als je zuvor, was Tango für mich wirklich ist. Ich würde Sie gern einladen, sich mir in diesem besonderen Club der Ungebetenen anzuschließen, aber dann wären Sie paradoxerweise ein „Invitado". :-)

Hier der englische Originaltext:

Was mich an diesem Artikel besonders beeindruckt, ist die Schilderung des enormen gesellschaftlichen Drucks, der offenbar in Teilen der Tangoszene herrscht: Bei irgendeiner „angesagten“ geschlossenen Veranstaltung nicht eingeladen bzw. als Gast akzeptiert zu werden, wird anscheinend als kaum zu verkraftende Schmach erlebt. Wie ich aus anderen Veröffentlichungen weiß, wenden manche alle möglichen Tricks an, um es doch noch durch die Hintertür zu schaffen.     

Mit einigem Schmunzeln  habe ich mir überlegt, dass ich ja ebenfalls Tango-Blogger bin und daher zu den „VIPs“ gehören müsste. Da ich aber seit Jahren gegen diese Ideologie anschreibe, bin ich wohl geschützt vor Einladungen, welche mich wahrlich ins Grübeln brächten: Was habe ich falsch gemacht, dass man mich auf ein Encuentro einlädt?

Als wir 2007 mit unserer öffentlichen Milonga in „Pfaffenhofen – wo liegt das überhaupt“ starteten, prägte ich – lange vor anderen – den Begriff „soziale Milonga“: Jede und jeder sollte dort zum Tanzen kommen, falls sie oder er dies wünschten. Als uns die Frage gestellt wurde: „Muss ich dann mit jeder tanzen?“ hätte ich bereits damals wissen können, dass sich im Tango der Einmarsch der Vollidioten ankündigte. Inzwischen ist mir klar: Es gibt weder einen „sozialen Tango“ noch einen „sozialen Cha Cha Cha“. Es gibt nur Menschen mit völlig unterschiedlichen sozialen Anlagen.

Der Tango lockt derzeit mit seinem teilweise höchst elitären Gehabe nicht gerade die in jener Disziplin Begabtesten an. Und selbstverständlich sind „VIP-Gästelisten“ und Diskriminierung wegen Alters und Geschlechts genau das, was sie zu verneinen vorgeben: zutiefst asozial. Sonst müsste man ja nicht zur frommen Bemäntelung das Etikett „sozialer Tango“ draufkleben…

Ich lese und höre inzwischen aber zunehmend nachdenkliche Stimmen, gerade auch aus den Kreisen, die dem konservativen Tango nahestehen. Der obige Text ist nur eines von vielen Beispielen.

Das macht mir Mut. Und klar – Mark Word ist Geisteswissenschaftler, kein Biologe, sonst hätte er das Wort „Tango-Drohne“ nicht verwendet: Diese männlichen Bienen (ein paar hundert in Relation zu einigen zehntausend Arbeitsbienen, also extremer Frauenüberschuss) haben weder einen Stachel noch können sie sich selber ernähren. Das Einzige, was ihnen in den Sinn kommt, ist, dem einzigen Alpha-Weibchen hinterherzuschwirren. Nach der Begattung werden sie schlicht nicht mehr gefüttert und verhungern – falls sie zu aggressiv betteln, werden sie gerne auch erstochen.

Wahrlich, der Bienenstaat weist viele Tango-Parallelen auf: Nicht nur sind die meisten Damen unfruchtbar – der Zutritt ist ausschließlich denen möglich, welche den entsprechenden „Stockgeruch“ aufweisen. Fremde werden allenfalls reingelassen, falls Nahrungsmangel herrscht und sie immer wieder viel Nektar anschleppen. Und wenn die Szene zu groß wird, teilt sie sich in zwei oder drei Folge-Staaten. Und neue Königinnen erstechen als erstes die Konkurrentinnen. Dennoch zählt man die Honigbiene zu den „sozialen Insekten“. Wer Glück hat, darf mit Zuckerwasser überwintern den Honig jedoch sahnt der Imker ab.

Werfen wir daher abschließend noch einen Blick ins Innere des Baus (diese Veranstaltung empfiehlt Mark Word auf seinem Blog):

Edit (2.1.19): Tja, da hat man wohl wieder mal den Stecker gezogen - bin ich inzwischen gewohnt...

Kommentare

  1. Gerade erreichte mich ein Kommentar von Klaus Wendel:

    Donnerwetter, ein hervorragender Artikel! Das Video dazu, das einem Marathon oder Encuentro eines befreundeten DJs entstammt, ist ein gekonnter Werbefilm, der auch das Heile-Welt-Feeling dieser Teilnehmer sehr anschaulich widerspiegelt. Die Analogie zum Bienenstock ist super!

    Liebe Grüße von Klaus Wendel

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  2. Tja, wenn ein Biologe "Tango-Drohne" liest, hat das halt Folgen...

    Vielen Dank für das Kompliment und herzliche Grüße
    Gerhard Riedl

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