Tango-Krisenslalom
„Die Definition von
Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu
erwarten."
(u.a. Albert Einstein
zugeschrieben)
Zunächst
ganz herzlichen Dank an die Blogger-Kolleginnen von „Berlin Tango Vibes“: Ihr neuester Text „Mit beiden Füßen in der Tango-Krise“ hat mich animiert, über
dieses Thema nachzudenken. Die Autorin beschreibt ihr Dilemma umfassend:
„Das letzte
Tango-High ist Monate her. Das letzte echte Aha-Erlebnis im Unterricht ist eine
schon fast verblasste Erinnerung. Wann der letzte Milonga-Abend war, an dem ich
traumhafte Tänze hatte, weiß ich gar nicht mehr. Seitdem waren es eher die
Frust-Drinks an der Bar, die mich berauscht haben.“
Selbstverständlich
hat sie sich zunächst an die wahren
Experten gewandt, durch deren sachverständiges Wirken der deutsche Tango ja
seit Langem an der Weltspitze dümpelt:
„Am Anfang des Tiefs
habe ich wie eine Bekloppte Unterricht genommen. Ein Aufbäumen gegen die Krise
– nach dem Motto ‚Viel muss doch auch viel helfen und vor allem schnell‘. Doch
Pustekuchen, nichts, rein gar nichts hat das gebracht.“
Tja,
Mädel, wer hätte das gedacht – wo doch seit Jahren ein Flächenbombardement mit immer neuen „Wunderwaffen“ (vor allem „Workshops“
made in Argentina) über der hiesigen Tangoszene niedergeht…
Natürlich
fiel ihr Verdacht auch auf ihre Tanzpartner:
„Ganz kurz vor der
absoluten Selbstzerfleischung gab ich mich der Illusion hin, meine Tanzpartner
seien der Grund. Ich sei ihnen einfach entwachsen, sie seien nicht mehr gut
genug für mich. Es läge nur an ihnen, dass es nicht so klappt, wie ich es
mir wünsche.“
Nein,
im Endeffekt konnte sie ihre Außenwelt
nicht für die Krise haftbar machen – das Problem scheine schon bei ihr selbst
zu liegen – so das vorläufige Endergebnis, während die Autorin auf die zuletzt
sterbende Hoffnung wartet.
Hier
der gesamte Artikel:
Ein Anlass, einmal Tante Google zum Begriff „Tango-Krise“
zu befragen. Für mich nicht überraschend hat sich Kollege Cassiel schon vor Jahren dazu geäußert. Und, noch erwartbarer – da
er ein Mann ist, sind die anderen schuld:
Beispielsweise eine Tanguera:
„Sie redet fast
pausenlos während des Tanzens und folgt häufig nicht mehr dem Führungsimpuls,
sondern fügt eigenständig Schritte an.“
Und natürlich die männlichen
Kollegen:
„Es sind die Tänzer,
die sich nicht für eine Spur entscheiden können (…), es sind die
Autoscooter-Tänzer (…), die ohne Rücksicht auf Kollisionen kreuz und quer
tanzen, die notorischen Rechtsüberholer und einige andere mehr.“
Und
selbstredend können auch die DJs was
dafür:
„Ist eine Milonga ein
Happening mit Party-Charakter, oder geht es
vielleicht doch darum, dass möglichst viele Tanzende einen ungetrübten
Tangoabend erleben? Dementsprechend wird die Musikgestaltung ausfallen. Um mich
nicht missverständlich auszudrücken: Ab und zu eine Tanda moderne Musik, Gotan Project, Bajofondo, Otros Aires, Sexteto
Milonguero oder ähnlich sind kein Problem, ich setze mich und warte ab.
Bei der vierten Tanda einer (!) Formation während einer fünfstündigen Milonga
ist für mich ein Punkt erreicht, an dem ich mich frage, ob diese momentan die
richtige Milonga für mich ist.“
(Anmerkung: War 2011, inzwischen ist er musikalisch weniger großzügig!)
Aber:
„Es liegt mir
wirklich fern, nun sauertöpfisch oder rechthaberisch zu werden; das lehne ich
ab.“
I
wo, wer käme denn auf einen solchen Gedanken?
Was
mir an beiden Texten auffällt:
Offenbar
lädt man dem Tango eine stete Pflicht
zur Höherentwicklung der Tanzenden auf. So schreibt Cassiel:
„Ich mag da keinen
Stillstand. Mir wäre ein Feinschliff, eine Präzisierung meiner Führung höchst
willkommen.“
Und
entsprechend die Berliner Autorin:
„Es geht gerade gar
nichts vorwärts und das ärgert mich, frustet mich, enttäuscht mich“
Klar,
wenn man mit etwas Neuem beginnt, erwirbt
man relativ schnell viel hinzu. Nur
nähert sich diese Lernkurve halt bei gleichbleibenden Umständen mit der Zeit
einem Sättigungswert: Das gleiche
Maß an Fortschritt wäre, wenn überhaupt, nur mit einem Mehrfachen an Mühe erreichbar.
Diese
„Wachstumsideologie“ gibt es ja in
vielen Bereichen, vor allem in der Wirtschaft: Die Umsätze müssen bekanntlich
stets steigen – egal, welche Ressourcen verschwendet werden und welchen unnützen
Tinnef man den Kunden noch andreht.
Ich
muss dabei stets an eine Frage
denken, die uns eine Tangoanfängerin
einmal stellte: Ab wann uns der Tango eigentlich Spaß gemacht hätte? Wir waren
ziemlich perplex und antworteten: Na, von Anfang an – bis heute! Bei
ihr war es offenbar anders: Aus ihrer Sicht musste sie sich wohl zunächst durch
ein Wirrwarr von Schritten kämpfen, bis sie endlich irgendwann Freude am Tanzen
empfinden durfte. Wir haben ihr natürlich nicht mitgeteilt, woran die Misere
unserer Meinung nach lag: Vorwiegend an einem bekloppten Tangolehrer und einem
völlig unbegabten Tanzpartner – und vielleicht noch an ihrem eigenen Masochismus…
Auch
mir wurde vom Kollegen Cassiel ja immer wieder vorgeworfen, ich wolle mich im Tango nicht weiterentwickeln. Nun, so ganz
unrecht hat er damit nicht: Mir hat dieser Tanz von Beginn an eine solche Freude bereitet, dass ich in
erster Linie eines wollte: weiter tanzen!
Die Fortschritte ergaben sich dann
aus verschiedenen Quellen: Am wenigsten aus regulärem Unterricht – am meisten
durch eine fünfstellige Zahl von Stunden auf dem Parkett, mit einer vierstelligen Zahl von Tänzerinnen. Und oft lernte ich mehr von Anfängerinnen,
wenn es mir gelang, sie trotz allen Gewackels und Gestolpers einigermaßen
kontrolliert durch eine Tanda zu bugsieren. Und die Super-Tangueras – nun, da durfte ich mich weitgehend aufs eigene Tanzen konzentrieren, sie konnten es
nämlich schon selber.
Kein
einziges Mal habe ich mich verbissen
bemüht, irgendeine schwierige „Figur“
zu erlernen. Und – für mich bis heute eines der größten Wunder im Tango: Irgendwann waren manche dieser Bewegungen
plötzlich da – ergaben sich in einer bestimmten Situation, mit einer sehr
begabten Tanzpartnerin, auf einmal von ganz allein.
Daher
kann ich der Berliner Kollegin nur
raten:
Dein
Satz „Besser als mein Tanz ist, wird er
niemals werden. Wenn ich damit nicht zufrieden bin, hat das alles eben
keinen Sinn“ stimmt teilweise: Vielleicht wird er tatsächlich nicht besser, als er jetzt ist. Na und? Hat es dich vom
Tango abgehalten, als du am Anfang noch
viel weniger konntest?
Einen
Satz in dem Artikel finde ich jedoch sehr verräterisch: „Wenigstens das Socialising auf den Milongas hält mich über Wasser,
dort treffe ich die meisten meiner Freunde und Bekannten.“ Da darf ich
an das obige Einstein-Zitat
erinnern: Weiter wie bisher in der gleichen Suppe dümpeln… und dann erwarten,
dass es besser wird?
Vielleicht
hilft ja Ironie: Immer schön auf
dieselben Milongas rennen, ja nix Neues kennenlernen, nach wie vor vom nächsten
„Workshop“ das Wunder erwarten, im Zweifel lieber einen Korb geben anstatt sich
auf einen unbekannten Partner einlassen, ja keine musikalischen Experimente, von
teuren Festivals die Erlösung erhoffen, anstatt mal auf eine namenlose
Dorfmilonga zu gehen, wo vielleicht der ungeschliffene Edelstein auf einen
wartet?
Echt,
liebe Kollegin, wenn du damit Erfolg
hättest – er wäre völlig unverdient!
Ein
praktischer Tipp: Wenn du das
nächste Mal frustriert in einer Milonga sitzt, dann geh vor die Tür und dreh
dich einmal langsam rund um die eigene Achse. Beobachte genau: Was siehst du
da? Überall dort draußen gibt es Tango – also heb deinen Hintern auf und mach
dich auf die Reise! Es wird sich lohnen.
Aber
ich weiß: Für das weibliche Geschlecht gibt es alternative Lösungen. Eine las ich soeben in der „TAZ“:
„Endlich tritt Ruhe
ein im inneren Stimmengewirr. Kernkompetenz! Das Zauberwort! Frau. Schuhe.
Shoppen. Ich werde mir jetzt diese unglaublich schicken, rot-schwarzen,
eleganten, dezent auffälligen, sündhaft teuren, direkt aus Argentinien
stammenden Luxustangoschuhe kaufen.“
P.S. Als ich bei den Recherchen den Begriff „Tango-Krise“ googelte, wurden mir fast
ausschließlich politische Artikel angeboten. Dieser Ausdruck bezeichnet nämlich
in der „normalen Welt“ ein ganz anderes Problem:
„Der Ausdruck
Argentinien-Krise bezeichnet die letzte große Wirtschaftskrise in Argentinien
zwischen 1998 und 2002, deren Auswirkungen bis in das Jahr 2005 zu spüren
waren.
Die beiden Höhepunkte
der Krise waren eine starke Rezession 1998/99 und der Zusammenbruch des
Finanzsystems 2001/02, der am 21. Dezember 2001 zum Rücktritt des Präsidenten
Fernando de la Rúa führte, dem eine Periode von großer politischer Instabilität
folgte. In der Zeit der Krise sank das Bruttoinlandsprodukt Argentiniens um
insgesamt 21 %. Die sozialen Folgen waren verheerend: Am Höhepunkt der Krise
(Mitte 2002) betrug die Armutsrate 57 % und die Arbeitslosenquote 23 %.“
Hier ein Kommentar von Karin Law Robinson-Riedl:
AntwortenLöschenDrei Aussagen der Autorin von Tango Vibes, die mich nachdenklich gemacht haben:
1. Stattdessen fällt mir bei jedem Schritt auf, was ich schon wieder alles falsch gemacht habe. Kein Wunder, dass da keine Freude aufkommt. Auch bei meinen Tanzpartnern nicht, logisch.
2. So ist das nämlich. Und überhaupt alle anderen lernen schneller als ich oder sind einfach sowieso schon viel besser.
3. „Trost“ von Tangolehrer/innen:
„Tango lernt man nicht im stetigen Fortschritt. Man verweilt immer wieder längere Zeit auf Lernplateaus, das ist anstrengend, doch der nächste Anstieg kommt bestimmt.“
Zu 1:
Das fehlerorientierte Denken. Haben zu viele Tango-Unterrichtsstunden dieses Fehler-Bewusstseins erzeugt? Sicher nicht nur, denn wir sind seit der frühesten Kindheit auf das Falsch-Richtig-Schema durch die Erziehung zu Hause und in der Schule eingestellt worden!
Fehler > Sanktion > Frust und Angst vor Fehlern > Fehler … Diesen Teufelskreis sollte man bei einer Freizeitbeschäftigung möglichst schnell verlassen.
Schlimm genug, wenn man dem „im richtigen Leben“ oft genug ausgesetzt ist.
Zu 2:
Das unselige Vergleichen: Ja, es wird immer andere geben, die besser, schneller, größer, schöner, jünger, schlanker, reicher …. sind als ich! Nur – unter welchem Blickwinkel eigentlich? Den sollte man auch mal überprüfen!
Spannend und befreiend ist es, darüber nachzudenken, welche Fähigkeiten genau in mir stecken und was ich mit diesen erreichen will (und dann auch meistens kann). Nur überzogenes Wollen macht unglücklich.
Zu 3:
Ein weises Statement, weil es Geduld und Entspannung signalisiert. Ob aber ein nächster „Anstieg“ kommt? Mag sein, vielleicht kommt aber auch einfach etwas ANDERES, eine neue, veränderte Entwicklung oder Einstellung. Auf hohen Berggipfeln ist es oft kalt und windig. Lieber doch mal auf die andere Seite vom Berg gehen und dort die Aussicht genießen!