Sekt oder Sekte?


Der Bloggerkollege Yokoito schreibt zwar relativ selten, ist jedoch unübertroffen beim Aufspüren schaurig-schöner Texte zum Tango in fernen Ländern. Paul Yangs Seite „In search of tango“ ist dabei eine sehr ergiebige Quelle, an der ich mich bereits drei Mal bedient habe:


Beim Begriff „Champaign Milongueros“ hätte ich bislang passen müssen oder höchstens vermutet, manche Tänzer würden nun doch die Frage „Sekt oder Selters?“ anders beantworten als üblich.

Nein: Mit „Champaign“ ist eine Stadt im US-amerikanischen Illinois gemeint, zusammen mit dem benachbarten Urbana der Sitz der „University of Illinois“. Unter den zirka 40000 Studenten finden sich offenbar etliche Tango-Anhänger, welche altersbedingt eventuell ein wenig lebhafter tanzen als der Rest im Lande des Trump. Als Gegenreaktion hat sich nun eine Art heimattreue „Tango-Bürgerwehr“ formiert, eben die „Champaign Milongueros“ – so der Titel des Artikels, den ich übersetzt habe:

„Die Champaign Milongueros sind eine Gruppe lokaler Tangotänzer, die sich dem Milonguero-Stil des Tangos verschrieben haben. Wir haben diesen Namen für die Gruppe gewählt, weil wir die Milonguero-Tradition fortführen und uns von der bestehenden Tangokultur in dieser Universitätsstadt abgrenzen wollen. In Champaign gibt es eine der frühesten Tango-Gemeinschaften in Illinois, doch der Tango dort bleibt seit mehr als zwei Jahrzehnten klein und schwach, weil er sich nur auf Studenten konzentriert, auf den Teil der Bevölkerung, der die Stadt nach dem Abschluss verlassen wird und sich für Dinge interessiert, die älteren lokalen Tänzern nicht zusagen.

Wir wollen von diesem Weg abkommen und einen neuen Ansatz versuchen:

1. Diese Gruppe richtet sich hauptsächlich an Einheimische. Wir glauben, nur mit lokalen Tänzern als Hauptstütze kann die Champaign-Tangogemeinschaft die Bedürfnisse der lokalen Anwohner erfüllen, von der gegenwärtigen Kultur abweichen, nachhaltiges Wachstum erzielen und besseren Einfluss auf die Universitätsstudenten ausüben.

2. Wir widmen uns dem Milonguero-Stil des Tangos mit enger Umarmung, Gefühlen, tradierten Geschlechterrollen und klassischer Tangomusik, nicht dem Nuevo-Stil mit offener Umarmung, Zurschaustellung, Geschlechts-Neutralität und alternativer Musik. Im Gegensatz zu den Ideologien, die über Gebühr Pluralismus, Vielfalt und Unterschiede fördern, betonen wir Authentizität, Standardisierung, Konformität und Milonguero-Tradition.

3. Durch die Beachtung der Tango-Códigos, die in den Milongas von Buenos Aires praktiziert werden, einschließlich Milonga-Etikette, Kleiderordnung, separater Sitzordnung, Cabeceo und Navigationsregeln, wollen wir auf unseren Milongas eine integrative, respektvolle, freundliche, angenehme, schöne und geordnete Umgebung schaffen.

5. Wir betonen Teamgeist, Brüderlichkeit, Liebe und Verantwortung innerhalb der Gruppe gegen die individualistische Tendenz, die sich auf Unabhängigkeit, Rechte, Offenheit und Freiheit des Individuums fokussiert. Ein Milonguero ist kein Individualist. Er / Sie gehört einer Gruppe von Tänzern an, welche die wechselseitige Abhängigkeit  der Individuen und die Bedeutung der Gemeinschaft verstehen, und die regelmäßig zusammen tanzen, sich an den Gruppenstandard halten, seine Codes beachten, sich an der Organisation beteiligen und Vorbild sind für Anfänger und Neulinge. Wir wollen diese Milonguero-Tradition weiterführen und als Team arbeiten, um unsere Milonga zu einem einladenden Zuhause für alle gleichgesinnten Tänzer zu machen.

6. Um die Qualität unserer Milonga zu sichern, öffnet sich diese Gruppe nur ausgewählten Tänzern. Um ein Mitglied der Gruppe zu werden, müssen Sie bei uns einen 20-stündigen Trainingskurs zu den Grundlagen des Milonguero-Stils und der Milonga-Codes machen. Wir heißen jeden willkommen, der an unserem Unterricht teilnimmt, aber nur diejenigen, die den Standard erfüllen, können Mitglieder der Gruppe werden und unsere Milongas besuchen. Schüler, die den Kurs nicht bestanden haben, können ihn wiederholen, bis sie qualifiziert sind.

7. Mitglieder müssen ihre Ausbildung fortsetzen und aktiv an Gruppenaktivitäten teilnehmen, um ihre Mitgliedschaft zu behalten. Sie können die Mitgliedschaft verlieren, wenn sie den Standard der Gruppe nicht erfüllen.“

Hier der Original-Artikel:


Übrigens wirkt der Text besonders eindrucksvoll, wenn man ihn mit der Schnodder-Ton eines alten „Volksempfängers“ vorliest (die Älteren werden sich erinnern). Totalitär genug klingt er. Warum übrigens Punkt 4 fehlt, weiß ich nicht – aber vielleicht ist das Zählen ja bei Abwesenheit von Studenten doch zu schwierig...
Apropos: Dass junge Leute im Tango so aufmüpfig sein können, ist mir neu kenne ich doch Universitätsstädte wie München oder Regensburg, wo sich die Studenten mühelos und lächelnd (!) dem Hergebrachten hingeben!

Kollege Yokoito zitiert zu recht ein Sprichwort: „If it looks like a duck, walks like a duck and quacks like a duck, it is most probably a duck” – und in dem Fall eben eine Sekte. „Kurz gesagt – je höher die Hürden, in Form von zu absolvierenden Pflichten – desto stärker ist die Bindung (wenn man zu den Leuten gehört, die auf so etwas ansprechen).“

Es scheint im heutigen Tango wirklich eine Grundregel zu gelten: Alles, was du mal im Spaß als irrationalen Blödsinn veralbert hast, wird irgendwann wahr. Schon vor ganz langer Zeit haben wir von Zertifizierungen fabuliert: Irgendwann würdest du nur noch mit abgeschlossener Prüfung in Codexkunde aufs Parkett gelassen – nun geht das tatsächlich los!

Yokoito warnt mit gutem Grund vor möglichen Folgen:

„Angenommen, so eine Gruppe hat erstmal eine Handvoll oder mehr Mitglieder. Was wird wohl der spirituelle Führer tun, wenn er erstmal eine gewisse Masse an Tangueros hinter sich hat? Vermutlich zu anderen Veranstaltern gehen und versuchen, auf ihre Angebote Einfluss zu nehmen. In der Regel ist der Mobilisierungsgrad und die Lautstärke des Auftritts von, sagen wir mal, Extremisten weit höher als im Durchschnitt; daher dürfte ein solcher Ansatz schon mit einer relativ kleinen Zahl von Leuten funktionieren. Bestenfalls führt das Ganze dann zu einer Polarisierung und Fragmentierung der örtlichen Tangoszene. Im Worst Case hat diese Sekte nach einer Weile den ganzen Laden übernommen.“

Nun, dass Konservative ganze lokale Szenen freundlich übernommen haben, ist ja eine Tatsache. Bislang verzichtet man allerdings noch auf eine TÜV-Plakette für ideologische Zuverlässigkeit

Eine 20-stündige Partei-Schulung wäre jedenfalls eine tolle Geschäftsidee für alle diejenigen, welche schon jetzt die Tangowelt mit Fachkunde-Lehrgängen überziehen und in Sachen Kunden-Bindung" unübertroffen! 

Wohin wird das alles noch führen? Trösten wir uns einstweilen damit, dass „Champaign“ in der Musikwelt für eine gleichnamige R&B- und Soulband steht, deren Gründungsmitglieder aus dieser Stadt stammen, und die 1981 durch das Lied „How 'Bout Us“ international bekannt wurde. Ein schöner Song, sollte man einmal auf einer Milonga spielen:



How 'Bout Us – Was ist mit uns? Sind wir im Tango noch zu retten? Nicht nur in der Politik sollte man an extremen Beispielen aufzeigen, wohin eine Entwicklung führen kann.

Und mit einem Gläschen Alkoholhaltigem auf alle Milongas anstoßen, auf denen man noch unzertifiziert Spaß haben darf. Sekt jedenfalls ist der natürliche Feind von Sekten, denn er macht locker!

P.S. Hier mit wärmster Empfehlung Yokoitos Originaltext:
https://tangoblogblog.wordpress.com/2018/09/26/no-champagne-for-champaign/

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