Ich war noch nie in der zweiten Ronda
„Wenn der Deutsche hinfällt, steht er nicht auf, sondern sieht sich um, wer
ihm schadensersatzpflichtig ist.“
(Kurt Tucholsky: „Ordnung muss sein!“, 1919)
Von gelernten Journalisten wird mir ja immer
wieder vorgeworfen, lediglich die im Tango sattsam
bekannten Streitthemen aufzuwärmen. Also bemühe ich mich um wenigstens minimale Abwechslung – so in meinem
letzten Beitrag, in dem ich einen amerikanischen Blogtext übersetzte, der aus
meiner Sicht erschreckend deutlich den Trend zu totalitären Einstellungen zeigt. Wahrhaft gruselig und des längeren
Nachdenkens wert…
Und worüber diskutieren anschließend die Leser? Nicht über die USA, sondern vorwiegend die
Unterschiede zwischen Buenos Aires
und dem Rest der Welt, gerade im
Hinblick auf den „Milonga-Dauerbrenner“: die Rücksichtnahme auf dem Parkett.
So berichtet ein Kommentator von der „zweiten Ronda“, in welcher er getanzt
habe und leider öfters geschubst, mit dem Ellbogen gecheckt sowie links und
rechts überholt wurde. Natürlich gibt es dazu die üblichen Schlagworte: „Selbstdarstellung“, „Egobefriedigung“, „riesige
Figuren“ und „Autoscooter fahren“.
Ich gestehe, dass ich vor fünf und mehr
Jahren gar nichts mit dem Begriff „zweite
Ronda“ hätte anfangen können – bestenfalls hätte ich einen Boxkampf oder die zweite Lokalrunde eines besonders spendablen Gastes vermutet.
Inzwischen ist natürlich klar: Der Betreffende tanzte im inneren Kreis des Parketts
– und da hatte er selbstredend Vorfahrt sowie
Anspruch auf Beachtung des Überholverbots.
Recht
zu haben ist ja im heutigen Tango ein ganz
wesentliches Ziel – so wie im Straßenverkehr,
und in beiden Bereichen sind es vorwiegend Männer,
die sich über undiszipliniertes
Verhalten der anderen beschweren. Das hat mich auf die Idee gebracht,
einmal nach statistischem Material
im (nach dem Tango) gefühlt unfallträchtigsten Bereich zu fahnden. Ergebnis:
Obwohl in
Deutschland der Bevölkerungsanteil
von Männern und Frauen nahezu
ausgeglichen ist (49,3 zu 50,7 Prozent), verunglückten 2016 im Straßenverkehr 55 Prozent Männer und 45 Prozent Frauen. Bei den Schwerverletzten ist der Unterschied
noch gravierender: zirka 62 Prozent (männlich)
zu 38 Prozent (weiblich) – bei den Getöteten sogar enorm: Pro Million
Einwohner starben 58 Männer und 21 Frauen, also im Verhältnis fast 3:1.
Die Hauptschuldigen an Pkw-Unfällen waren zu
57 Prozent männlich und zu 43 Prozent weiblich. Die Unfälle, die
von Autofahrerinnen verursacht
wurden, waren auch weniger folgenschwer
als die fahrender Männer: Bei je 1000 Ereignissen mit Personenschaden gab es 185 Schwerverletzte und 6 Tote, auf männlicher Seite 12 Tote und 209 Schwerverletzte.
Quelle: Statistisches
Bundesamt
Meine ketzerische
Idee: Kommt es im Tango vor allem deshalb zu den allseits beklagten Rempeleien,
da meist die Männer fahren… äh führen?
Nun hat zwar das „starke Geschlecht“ angeblich das bessere räumliche Vorstellungsvermögen (was jedoch eventuell
erziehungsbedingt ist).
Ob daher
Frauen schlechter einparken können oder nicht: Sie bewegen sich auf jeden Fall rücksichtsvoller. Wenn daher männlich dominierte
Paare so häufig zusammenrumpeln, wäre es jedenfalls statistisch sinnvoller, die
Frauen führen zu lassen, da es ihnen
wohl an testosteronbedingter Risikobereitschaft
mangelt. Und bei der tangoüblich besonders zackigen Spezies der kleinen
Männer hätten sie sogar den besseren Überblick…
Mir ist bis
heute nicht klar, wie ich 40 Jahre
Standardtanz ziemlich unbeschadet überstehen konnte, ohne von den „Ronda-Regularien“ zu wissen. Klar gibt
es auch im üblichen Gesellschaftstanz eine vorzugsweise Tanzrichtung – wenn’s halt geht. Im Zweifel aber habe ich Depp mich
immer dorthin bewegt, wo Platz war:
Im heutigen Tango eine abstruse Vorstellung. Nein, wenn man in der „richtigen
Spur“ tanzt und sich auch sonst an alle
Vorschriften hält, hat man sowohl Recht
als auch Vorfahrt. Und wenn es dann
rumpelt, ist viel Zeit, die „Schuldfrage“
zu diskutieren…
Nein, im
Ernst: Für mich ist die Fähigkeit, vorausschauend
zu tanzen und ausweichen zu können, entscheidend.
Wenn ein Paar senkrecht zum Uhrzeigersinn auf mich zugeschossen kommt, dann
lasse ich ihm den Spaß und mache Platz
– in der Hoffnung, dass die beiden in einer anderen Situation das gleiche für
uns tun. Und wenn es eng wird, lasse ich die obere Führungshand weg und den Arm sinken, auf dass mein Ellbogen
keinen Schaden anrichte. Ebenfalls schätze ich es, wenn Frauen weiche,
geschlossene Schuhe tragen und auch
Männer auf die handgenagelten, starren Ledersärge made in argentina verzichten.
Eine verunglückte Fußaktion lässt
sich so leichter verschmerzen.
Wenn es auf
dem Parkett drangvoll eng wird,
überlege ich es mir zweimal, mich dort hineinzustürzen. Wieso auch? Halbwegs
kreativ tanzen kann ich dann eh nicht. Gerade Anfänger sind gut beraten, sich Practicas oder Milongas
auszusuchen, welche das bieten, was sie am dringendsten brauchen: Platz. Und selbstredend nimmt man als
erfahrener Tänzer auf sie besondere Rücksicht.
Ansonsten:
Wir sind alle nicht perfekt und
müssen es auch nicht sein. Shit happens.
Vieles aber ließe sich entspannter gestalten, wenn freundliche, informative
Gesten, ein Lächeln oder eine nette Entschuldigung Platz griffen – und nicht
eine verbohrte Debatte über die „Schuldfrage“,
die sich oft bis ins Internet zieht.
Bei meiner Recherche
habe ich übrigens Todesfälle im Tango
nicht entdeckt – vielleicht gibt es denen einen oder anderen Fall von Herzinfarkt
oder Suizid aus Liebeskummer, aber das ist statistisch nicht erfasst. Doch auch
der Straßenverkehr liegt mit gut 3000 Toten jährlich nicht an der Spitze
– sondern die Haushaltsunfälle mit
knapp 10000 Opfern. Hierbei jedoch
sind die Frauen mit 55-60 Prozent der Missgeschicke überrepräsentiert.
Klar: Welcher Mann hilft schon im Haushalt? Nun wissen wir auch, warum: Wegen
der drohenden Lebensgefahr!
Lediglich in der Untersparte Heimwerken
haben die Herren mit 87 Prozent der Unfälle die Nase (soweit noch vorhanden)
vorn.
Lustig ist
es ja, wenn gewissen Populisten uns
weismachen wollen, dass sich heutzutage deutsche
Frauen kaum noch aus dem Haus wagen können, ohne vergewaltigt oder gar abgestochen
zu werden. Weit gefehlt: Diese Verbrechensrate macht nur einen Bruchteil der Stürze
über Staubsaugerkabel aus! Und rechnet man dann noch die Fälle häuslicher Gewalt und Vergewaltigungen durch Ehemänner,
Verwandte oder Bekannte hinzu, bleibt nur ein Aufruf:
Deutsche Frauen!
Ihr seid zu Hause in großer Gefahr!
Verlasst euer unsicheres Heim und geht zum Tango!
Dort kann euch kaum etwas passieren –
nicht mal in der zweiten Ronda!
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