Die Tango-Unschärferelation
„Die heisenbergsche Unschärferelation
(…) ist die Aussage der Quantenphysik, dass zwei komplementäre Eigenschaften
eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Das
bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Eigenschaften sind Ort und Impuls.
(…) Die Messung des
Impulses eines Teilchens ist zwangsläufig mit einer Störung seines Ortes
verbunden, und umgekehrt.“
„Ort und
Tanzbereitschaft einer Tanguera sind nicht gleichzeitig beliebig genau
bestimmbar.“
(Riedlsche
Unschärferelation im Tango)
1927
veröffentlichte der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg seine Unschärferelation,
welche die Quantenmechanik revolutionierte. Kürzlich habe ich eindrucksvoll
erlebt, dass sie auch für die Teilchen mit Quanten auf dem Parkett gilt:
Mir
war die Dame im blauen Kleid
gänzlich unbekannt, aber sie sprach kurz nach unserem Eintreffen auf der
Milonga meine Frau an – gemeinhin kein ganz schlechtes Zeichen, was die
Tanzbereitschaft mit mir angeht. Daher fiel mein Blick auf sie, als sie sich
einige Zeit später auf dem Parkett bewegte. Nun gut, der etwas klein geratene
Oppa, welcher sie gerade zackig herumführte, war denkbar ungeeignet, mir
genauere Aufschlüsse über ihre Tanzkünste
zu geben. Aber ich kann ja extrapolieren: Wenn’s mit dem schon so klappte,
waren die Aussichten nicht unerfreulich. Sicherlich stand sie noch am Anfang,
mit etwas zu weichen, nicht gerade pointierten Bewegungen, aber sie hörte
offenbar die Musik und setzte sie schon ganz schön sowie vor allem sanft um –
daher sofortiger Eintrag in mein „Sepp
Herberger-Notizbuch“. (Für die jüngere bzw. fußballferne Generation: Der
legendäre DFB-Bundestrainer führte über jedes Spiel, das er beobachtete, genaue
Aufzeichnungen – und es war das Ziel junger Fußballer, in seinem Notizbuch zu
stehen.)
Aber
erstmal tanzte ich selber. Danach suchte mein Blick wieder nach dem blauen
Kleid und fand es auch – aber irgendwie… hatte sich die Trägerin mal schnell
umfrisiert? Irgendwas stimmte da nicht! Rückfrage
bei meiner Gattin: Nein, ist zwar ein ganz ähnliches Outfit, aber mit einer anderen
Frau drin.
Aha, also weiter suchen: Da, die Richtige steuerte nun einen
Sitzplatz ganz in unserer Nähe an! Das Musikstück, welches gerade begann, würde
prima für einen ersten Tanz passen… aber jetzt? Oh nein, nach zirka 15 Sekunden
auf dem Stühlchen stand sie wieder auf – wieso jetzt das? Aha, was zum Trinken holen, na gut, muss ja auch
sein. Dummerweise kam sie am Büfett ins Gespräch mit einer Geschlechtsgenossin…
musste das jetzt sein? Da ich ungern mitten in einer Tanda aufforderte, hoffte
ich inständig, der Ratsch würde nur ein kurzer sein. Mitnichten – erst nach
anderthalb Tangos Rückkehr zum Sitzplatz. Na gut, es war ja noch früh am Abend…
Nächste
Runde, neues Glück: Mein Impuls,
aufzustehen und hinzugehen (auf dieser Milonga sind Cabeceos schon wegen der
unübersichtlichen Raumaufteilung gänzlich unbekannt) lief gerade an, da… stand
sie auf. Was jetzt? Trinken macht offenbar hungrig: Zielsicher steuerte das
Objekt meiner Begierde das Büfett mit den Nahrungsmitteln
an und verweilte dort ausgiebig genug, um mir auch diese Tanda zu schreddern.
Zudem hätte mich die Musik eh nicht unbedingt gereizt: Obwohl ich den DJ seit
vielen Jahren schätze, waren es mir heute ein bisschen zu viele Titel, welche
meine Mutter im schönsten Sudetendeutsch als „Dschumba-Liedla“ bezeichnet hätte – also Folklore zur Klampfe und dergleichen.
Was
war das? Ein Jüngling unterbrach die
Mahlzeit der Dame doch glatt mit einer Aufforderung
– und sie ließ Teller und Angebissenes einfach stehen und steuerte mit ihm das
Parkett an. Da kann man mal wieder sehen: Diese jungen Schnösel haben einfach
kein Benehmen – und es gibt Tangueras, die das noch belohnen! Vielleicht
sollte ich mir lieber auch ein Teilchen holen? Nein, das wäre Frustessen!
Wieso
setzte sich die Blaue nicht einfach dicht neben uns, täuschte Gesprächsbedarf vor und ging nicht
eher, bis dass ich sie aufgefordert hatte – wie die kleine Brünette, die das
seit Minuten tat? Inzwischen wäre die Blaue zwar wieder frei gewesen, aber ich
bringe es einfach nicht fertig, derart mutige Frauen einfach zu übergehen. Also
wählte ich die Traube in der Hand, die sich, wie schon erwartet, als sauer
herausstellte… Gut, kommt in mein soziales „Rabattmarkenheft“…
So, gleich aber – das blaue Kleid hatte sich nunmehr an ein Bistrotischchen fernab,
aber doch noch sichtbar, verkrümelt. Jetzt oder nie! Ja aber – spinn ich oder wie? Offenbar hatte die vorhin angebissene Stulle nicht gereicht – soeben steuerte
sie erneut den Fressalienbereich an!
Könnte man einfach mal vor der Milonga kräftig zu Abend essen? Glücklicherweise
war jetzt eine Lieblingstänzerin von mir frei – daher nun wenigstens „Belohnungsfressi“
nach Tangoart!
Inzwischen
hatte ich meinen Beobachtungsplatz
näher an ihr momentanes Revier verschoben, da konnte mir nun kaum noch ein
Konkurrent zuvorkommen. Ende der Tanda, Erscheinen der Blauen… doch wohin
jetzt? Hatte ich es doch befürchtet, wenn man so viel isst und trinkt! Da der Impuls als Produkt aus Masse und Geschwindigkeit eine
Vektorgröße darstellt, ahnte ich unscharf das Ziel der Migration: aufs Klo.
Einige
eigene Tanzrunden später ergab sich wieder eine Gelegenheit. Langsam und
vorsichtig näherte ich mich, um das scheue Wild nicht zu verscheuchen – noch ein
paar Schritte, und… Oh nein, eine andere Dame sprach sie an – egal, Tanzen
geht vor, dann würde ich eben die Unterhaltung im Keim unterbinden! Im letzten
Moment fiel es mir siedendheiß ein: Mist, die kann ja auch führen! Und richtig: Weg waren die
beiden und hüpften anschließend längelang auf dem Tanzboden herum. Ach Mensch,
die Weiber dürfen ja miteinander tanzen, wenn grade kein Mann zur Verfügung
steht – aber so… (fünf Euro ins Macho-Sprüche-Schwein).
Zurück
auf meinem Stühlchen überkamen mich Tagträume
mit Bildern, wie man sie immer wieder von Encuentros
sieht: Ein gutes Dutzend Mädels, alle hübsch aufgebrezelt in einer Reihe und maximal
tanzbereit – Ort und Impuls somit absolut klar bestimmbar, nix mit Heisenberg!
Und alle schmachtend nur darauf wartend, dass ein männlicher Blick sie vom
Stillesitzen erlöse – nur noch ein kleiner Ruck am Sprengstoffgürtel, und im
Paradies… Glücklicherweise forderte mich in dem Moment eine meiner
Lieblingstangueras auf und unterbrach so meine reaktionären Entgleisungen!
So,
jetzt aber oder nie! Täuschte ich mich, oder hatte mir die Blaue beim
Musikwechsel einen schüchternen Blick zugesandt? Na also – zwei Schritte noch,
um das, was lange währte, doch noch gut enden zu lassen! Da hörte ich die ersten
Töne eines mir nur allzu bekannten Titels: „TANGO
TO EVORA“. Nein, nicht die schärfste Frau wäre es wert, diese tausendmal
abgenudelte Sülze zu tanzen! Da kann sie gern ihr blaues Kleid unbetanzt wieder
nach Hause tragen. Wer bin ich denn, dass man es wagt, mir diesen Schwachsinn aufzulegen?
Meine Suche nach dem blauen Kleid war wohl so illusionär wie die der Romantiker nach der gleichfarbigen Blume...
Fürs
Notizbuch fragte ich beim Gehen den Veranstalter nach dem Namen der Dame. Am nächsten Tag interessehalber mal auf Facebook nachgesehen. Einer ihrer
Einträge dort verschlug mir den Atem: „Wieder
mal auf einer Milonga gewesen, fast nur rumgesessen. Gut, dass mich wenigstens
noch eine Frau aufgefordert hat.“
Schluss:
Die
geschilderten Ereignisse haben sich
tatsächlich alle auf einer einzigen
Milonga abgespielt. Sie wurden von mir lediglich in eine dramaturgisch
passende Abfolge gebracht. Die Pointe
am Ende allerdings ist erfunden. Ganz unwahrscheinlich ist sie jedoch nicht.
P.S.
Und das Kleid hatte eine andere
Farbe…
Gerade erreichte mich ein Kommentar von Peter Ripota:
AntwortenLöschenSehr schön gesagt! Als Physiker, der auch ein Buch über Quantenphysik geschrieben hat, möchte ich auf eine andere Deutung der Quantenphysik hinweisen, wo es weder Zufall noch Unschärfe gibt: Die „Führungswellen-Interpretation" von Lous de Broglie und David Bohm. Bei ihnen sieht die Sache so aus: Es gibt nur Teilchen, die von einer überlichtschnellen Führungswelle („pilot wave") durch die Unbill des Lebens und der Welt geleitet werden. Diese Welle kennt alle Hindernisse im Voraus und weiß also, was die Teilchen zu tun haben, wenn sie beispielsweise sich durch einen Doppelspalt zwängen müssen.
Auf den Tango übertragen: Wenn du nicht weißt, was du als nächstes tun sollst: wen du auffordern sollst; wer dir demnächst die Ellenbögen in die Rippen rammt; oder ob die öde Musik jetzt so den ganzen Abend weitergeht: Verlass dich auf deine Führungswelle! Die muss nicht so unpersönlich sein wie sonstige physikalische Gebilde. Sie kann auch durch deine Gattin verkörpert werden ...
Es gibt ja auch noch die Vielweltentheorie, die auch beim Tango oftmals angewandt werden kann, wenn die Tanzperson sich ob der eigenartigen Verhältnisse auf dem Parkett und im Saal plötzlich fragt: Wo bin ich hier eigentlich? In einer Parallelwelt natürlich ...
-Peter Ripota-
Lieber Peter,
AntwortenLöschenbei diesen physikalischen Fragen bin ich natürlich froh über das Urteil eines Fachmanns!
Kann durchaus sein, dass wir im wirklichen Leben - im Gegensatz zum Tango - mehr der Führung unserer Frauen vertrauen.
Meine spezielle "Führungswelle" ist aber mein Bauchgefühl. Dem kann ich meistens gut folgen. Den größten Blödsinn habe ich oft nach langem Nachdenken angestellt.
Herzlichen Dank und liebe Grüße
Gerhard