Das Yin vom Yang
Yin und Yang sind
zwei Begriffe der chinesischen Philosophie, insbesondere des Daoismus. Sie
stehen für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene
Kräfte oder Prinzipien. Ein weit verbreitetes Symbol des Prinzips ist das
Taijitu, in dem das weiße Yang (hell, hart, heiß, männlich, aktiv, Bewegung)
und das schwarze Yin (dunkel, weich, kalt, weiblich, passiv, Ruhe)
gegenüberstehend dargestellt werden.
(Wikipedia)
Derzeit
stolpert man im Netz unentwegt über Glaubensbekenntnisse von Tango-DJs und
ihrer Gefolgschaft zu den hehren Prinzipien der Musikauswahl auf traditionellen
Milongas. Wie im ideologischen Bereich nicht selten, versucht einer den anderen
noch in Radikalität zu übertreffen: 1500 tanzbare EdO-Titel? Nö, 500 tun es auch!
Ein
typisches Beispiel bildet der Artikel „My Two Cents on Music
Selections” von Paul Yang auf dessen bekanntem Blog „In Search of Tango”:
Eine Zusammenfassung:
Der Text beginnt mit der
donnernden Erkenntnis, die Musik spiele auf Milongas die Hauptrolle – aber sie
sei nicht immer gut, da manche DJs nicht die Stücke „höchster Qualität“ auflegten: „Ich
habe von der Theorie gehört, dass die Tänzer neue Sachen ausprobieren wollten, nicht
immer wieder auf dieselben alten Songs tanzen möchten, lieber ein Risiko
eingingen als gelangweilt zu sein etc. Die meisten Tänzer, die ich kenne,
lieben es, zu Musik zu tanzen, die sie gut kennen. Vertraute Titel entfachen
ihr Verlangen zu tanzen, denn – wie beim Singen oder dem Spielen eines
Instruments – gelingt es ihnen besser, wenn sie die Musik gut kennen.
Tangotänzer werden niemals von der besten klassischen Tangomusik ermüdet sein.“
Tja, Paule, da kennste halt
nicht alle – insbesondere jene nicht, die schon vor längerer Zeit vor dieser
Milonga-Variante geflohen sind! Klar, wer dennoch dabei bleibt, den darf
musikalische Öde nicht schrecken… und apropos Üben eines Instruments:
Hoffentlich hast in deiner Nachbarschaft keinen angehenden Pianisten, der
täglich drei Stunden seine Czerny-Etüden runternudelt und stets an derselben Stelle hängen bleibt – lecker!
Der Autor verteilt denn doch
einige Liberalitäts-Globuli: Mit neuen Songs könne man schon mal experimentieren,
um gewisse Konflikte zwischen den Generationen zu überwinden – nur müsse diese
Musik absolut tanzbar und auf ein Minimum beschränkt sein. Bliebe nur meine
Frage: Welche Generationen? Der heutige Tango hat doch das Bemühen um Nachwuchs
längst eingestellt – Tänzer/innen unter 40 sind rare Einzelfälle (und zudem
meist von der Mentalität deutlich älter)!
Zudem ist der Autor des
glühenden Glaubens, man brauche nicht Tausende von Stücken, um auf einer
Milonga aufzulegen: Eine dreistündige Milonga umfasse 48 Titel. Wenn man daher
nur die besten 500 Aufnahmen auswähle, käme man ohne Wiederholung zirka 10
Milongas weit. Siehste, Paule, da fängt halt mein Problem an: Ich war schon auf
etwa 3000 Milongas – und manche Stücke hab ich sogar schon öfter als 300 Mal gehört
– und gegen das spontane allergische Ekzem beim erneuten Erklingen von „Soñar y nada mas“ hat nicht mal mein
Hautarzt ein Mittel…
Immerhin, so gesteht uns Paul Yang sogar zu, müssten nicht alle
Songs das gleiche Tempo haben – könnte sonst eventuell doch zu Langeweile
führen! Aber die Mehrzahl der Aufnahmen sollte eher in Schrittgeschwindigkeit
gehalten sein, welche am passendsten fürs Tangotanzen sei. Und immerhin müsse
man wegen der Gefühlswelt dieses Tanzes Stücke vermeiden, welche von „fader Emotion und monotonem Rhythmus“ seien
– nichtsdestotrotz aber von „klarem
Rhythmus“ und daher „leichter
Umsetzbarkeit“… ja, lieber Paul, was denn nu? E-do or not to do, that is the
question!
Schön finde ich vor allem
das Schlussbekenntnis des Schreibers: “Ein
guter, tanzbarer Tango hat einen knackigen, kraftvollen, gleichmäßigen und
leicht tanzbaren Rhythmus, begleitet von einer Melodie, die schön, geschmeidig,
flüssig und sentimental ist, sodass er im Tanz die Männlichkeit des Mannes und
die Weiblichkeit der Frau entzünden kann.“
Klar, lieber Paul, und
insofern ähnelt er ja (inklusive der Schrittgeschwindigkeit) der Militärmusik
(einschließlich des Eisprung auslösenden Effekts auf die holde Weiblichkeit
beim Anblick uniformierten Gleichschritts)! Persönlich muss ich allerdings
gestehen: Nur mein fortgeschrittenes Alter lässt mich traditionelle Milongas
besuchen – ohne die Angst vor einer chronischen Sterilisation durch Dudelmusik…
Daher verwirrt mich der
abschließende Wunsch des Schreibers ein wenig: „Mit dem Wachstum unseres Tango hoffe ich, dass sich ebenso die Musik
verbessert, so dass wir, wohin immer wir gehen, immer die allerbeste Musik und
den allerbesten Tanz genießen können.“
Also dann überall die gleiche Einheits-Auswahl aus 500 Titeln? Lieber nicht…
Besonders geärgert hat mich eine Art von Präambel, welche man im Blog über
jedem Text bewundern darf. Auszugsweise ist da zu lesen:
„Unser Streben im Tango
ist das Streben nach Verbindung, Liebe, Schönheit, Harmonie und Humanität, also
ein Idealismus, der nichts gemein hat mit der unmenschlichen Realität der
modernen Welt. Diese unterteilt uns in Individuen, doch Tango vereint uns als
Spezies. Im Tango sind wir nicht Individualisten, Feministen, Nationalisten,
Liberale, Konservative, Demokraten, Republikaner etc., sondern miteinander
verbundene und voneinander abhängige Mitglieder der menschlichen Familie. Wir
sind Humanisten. Der Tango ruft uns
dazu auf, die Mauern einzureißen, Brücken zu bauen, und die Menschlichkeit
durch Verbindung, Zusammenarbeit und Kompromiss zurückzugewinnen. (…)
Zusammen können wir
die Welt erwecken.“
Zweifellos ist dies das Yang von
Herrn Yang. Das Yin besteht
allerdings darin, dass es hinsichtlich der Musik, auf die wir zu tanzen haben,
keinerlei Kompromisse gibt… und zum códigomäßigen Drumherum sicherlich auch nicht.
Wo habe ich bloß das mit dem „Erwachet“
schon mal gehört? Na, waren wohl doch nur die „Zeugen Jehovas“…
P.S. Wer nach diesem Text (im Sinne von Yin und Yang) einen mentalen
Ausgleich braucht, dem sei der Artikel des DJs Gregor Nottebom empfohlen. Alessandra
Seitz hat ihn als Gastbeitrag auf ihrem Blog veröffentlicht:
http://tan-do.net/atango/2017/02/06/gastbeitrag-der-wahre-tango/
Liebe Gerhard
AntwortenLöschenDu hast meine volle Bewunderung, daß Du Dich so unverdrossen mit Personen und Texten beschäftigst, die für Musik im Tango das Wort "tanzbar" als Kategorie verwenden.
Für mich bedeutet dieses Wort nur "Tanz-Bar".
Schon allein bei einem kurzen Blick auf Youtube kann jeder noch so gedanklich begrenzte Mensch (meist Mann) erkennen, daß die Fähigkeiten zum Tanzen sehr unterschiedlich verteilt sind. Daher kann "tanzbar" keine Kategorie sein, weil ......es ist peinlich, das sagen zu müssen: Jede und Jeder andere Fähigkeiten und Zugänge hat.
Ich kann nichts dafür, dass viele Milonga-Fans so begrenzte Möglichkeiten haben bei Musik zu tanzen, deren Takte nicht so leicht erkennbar sind, wie bei einem Militätmarsch.
Aber daraus leitet sich noch nicht ab, daß solche Musik nicht tanzbar wäre.
Es ist eine Schande, daß so was geschrieben werden muß.
Viel Erfolg mit Deinem Blog
Herzliche Grüße aus dem Salzkammergut
Peter
Lieber Peter,
AntwortenLöschenvielen Dank - aber für Bewunderung ist kein Anlass! Macht mir einen riesigen Spaß, solche Phrasen auf hohle Stellen abzuklopfen.
Doch, ja, "Tanz-Bar" sagt mir auch was!
Klar, die tänzerischen Fähigkeiten sind (wie auch alle anderen) auf der Welt unterschiedlich (und oft ungerecht) verteilt. Wogegen ich mich nur wende, ist eine "Diktatur des Prekariats".
Herzliche Grüße ins Salzkammergut!
Gerhard
Lieber Gerhard, mal wieder ein Meisterstück....ich hab mich grad gekugelt vor Lachen !!!! Tja der Tango feiert schon seine urständ an gewissen Stellen und ich bekomm Schnappatmung, wenn ich die Zitate aus diesem Blog lese. Auch ich bin, wie mein Vorredner, voll der Bewunderung für deine beharrliche und grandiose Zerbröselung unhaltbarer Argumente diverser Tangospezialisten. Du bereitest mir echt Vergnügen !
AntwortenLöschenVielen Dank auch für den link zu unserem Blog.
Wir sind im Sommer in Augsburg, gerne würde ich dich, deine Frau und Manu endlich persönlich kennenlernen !!!
Alles Liebe und ein Gruß aus Wien ;)
Alessandra
Liebe Alessandra,
Löschenschön, dass ich mit meinem Geschreibe immer mal wieder jemand eine Freude machen kann! (Sehen ja nicht alle so...)
Darum macht's mir auch weiterhin viel Spaß.
Bitte gebt rechtzeitig Bescheid, wenn Ihr in Augsburg seid! Vielleicht können wir dann eine Milonga in Pörnbach passend terminieren. Wir würden uns riesig freuen, Euch als Gäste begrüßen zu dürfen!
Liebe Grüße nach Wien
Gerhard