Die Deutschen in der Tangokultur: ratlos
Als
ich vorgestern mein „Tango-Quiz“ entwarf,
war mir eine Frage dazu klar, die auch postwendend gestellt wurde: Muss man das alles wissen, um gut zu
tanzen?
Nun,
vieles davon wohl nicht – wobei es kaum schaden könnte, schon einmal etwas von der Achterphrasierung oder dem
Unterschied zwischen parallelem und gekreuztem System nicht nur gehört zu
haben. Ebenso könnte es nützlich sein, die eine oder andere Tanzbewegung
spanisch benennen zu können, damit der arme Tangolehrer sie nicht ein weiteres
Mal vortanzen muss – oder die Bedeutung des hochheiligen Paso basico daran zu
messen, dass er erst Ende der 1980-er Jahre erfunden wurde, um das Bedürfnis der
Gringos nach einem „Grundschritt“ zu befriedigen.
Vor
allem jedoch möchte ich eine Gegenfrage
stellen: Wie beeinflusst es das eigene Tanzen, wenn man vom Tango, seiner
Kultur und Geschichte, von Liedertexten oder musikalischen Epochen so gut wie
gar nichts weiß – oft genug, weil es einem völlig egal ist? Tangolehrer oder Veranstalter dürfen gerne meinen Fragebogen
einmal den Schülern respektive Gästen zum Ausfüllen geben und sich hinterher
die Ergebnisse ansehen. Ich sage
voraus: Sie werden es schön bleiben lassen, denn das Resultat spräche Bände: Mehr als 20 Prozent Richtige dürften es
durchschnittlich in der heimischen Tangoszene nicht werden.
Als
Organisator von Tangoabenden macht man gerade anfangs viele Fehler. Mein persönliches Waterloo erlebte ich, als
wir 2007 eine ziemlich große Silvestermilonga veranstalteten. Zur Auflockerung
hatte ich diverse Programmpunkte vorbereitet. Einer davon: Die Damen und Herren
durften aus zwei unterschiedlichen Lostöpfen Zettel ziehen, auf denen jeweils
ein halber Tangotitel verzeichnet
war. Durch Suche nach dem Pendant – so meine Erwartung – würden sich neue Paare
finden. Natürlich hatte ich (aus meiner Sicht) simple Beispiele gewählt, also beispielsweise
·
für
die Tänzerinnen: La / A media / Flor de /
Se dice / Vida / El / Hotel / Gallo / Nido / Adiós
·
für
die Tänzer: mía / ciego / muchachos / de
mí / cumparsita / Victoria / choclo / gaucho / luz / lino
Natürlich
erwartete ich, dass sich binnen Kurzem Paare
gebildet hätten wie: Adiós muchachos /
Vida mía / El choclo / La cumparsita / A media luz / Hotel Victoria / Flor de
lino / Gallo ciego / Nido gaucho / Se dice de mí.
Stattdessen
irrten noch eine Viertelstunde später fast alle Gäste ratlos umher oder fragten
mich, ob denn Schöpfungen wie „Vida
gaucho“, „Se dice de choclo“ oder „Gallo
muchachos“ richtig seien…
Nun
könnte man meinen, durch die umfassende
Beschallung mit solchen Traditionstiteln
hätten sich in den letzten zehn Jahren die Kenntnisse vermehrt. I wo!
Gelegentlich kann ich es nicht unterdrücken, nach einem besonders schönen Stück
meiner Tanzpartnerin dessen Titel,
das Thema des Textes oder das gerade
gehörte Orchester zu nennen. Die Reaktion
pendelt regelmäßig zwischen uninteressiert
und frostig: Man kenne sich in der
Tangomusik nicht aus oder wolle auch gar nichts von Inhalt oder gar Texten
hören, die seien sowieso schnulzig bis depressiv (besonders lustig, wenn grade Tita Merello gesungen hat…). In Zukunft
lobe ich lieber wieder der Partnerin Tangokleid – das ist zwar dann nicht so
zutreffend wie die anderen Aussagen, kommt aber besser an…
Dabei
geht es ja nicht um seelenloses
Lexikonwissen. Als ich mit dem Tango anfing, war es für mich zwingend, aus
dem anfangs noch sehr geringen Angebot jede Tango-CD zu kaufen, die ich auftrieb, nicht nur zum Üben:
Selbstverständlich wollte ich die Titel
erfahren, interessierten mich die Interpreten
– schon deshalb, weil ich bei Gefallen nachforschte, ob es von diesen noch
weitere Tonträger gab. So entdeckte ich sehr schnell nicht nur Piazzolla, sondern
natürlich auch die „großen Orchester aus goldenen Zeiten“ und vieles mehr. Heute bin ich der
festen Überzeugung: Meine Tangoentwicklung hat maßgeblich davon profitiert,
dass ich die Musik nicht nur auf den Milongas, sondern auch zu Hause hörte.
Viele,
die heute zum Tanzen gehen, tun dies wohl nicht. Nur so kann man ihnen landauf,
landab ständig eine auf 20 Jahre verengte
Auswahl der Tangomusik andrehen – statt musikalische Vielfalt aus mehr als
einem Jahrhundert. Wer nur einen Hammer hat, für den ist halt jedes Problem ein Nagel…
Bald
ließ mir auch die Frage „Was singen die
eigentlich?“ keine Ruhe mehr. Heute ist dies per Internet ja vielfach
schnell zu beantworten – meine ersten Übersetzungen fand ich in Dieter
Reichardts Buchklassiker „Tango –
Verweigerung und Trauer / Kontexte und Texte“. Man muss ja – wie ich –
nicht wirklich Spanisch können, aber mit etwas Schullatein, dem
Google-Übersetzer und einiger Übung erschließen sich auch Zeilen, von denen es
noch keine deutsche Version gibt.
Tango
gehört sicher nicht umfassend zur Hochkultur, bietet jedoch zumindest gehobene
Unterhaltungsmusik wie etwa das Chanson. Insofern erstaunt es mich immer
wieder, dass gerade traditionelle Tangovertreter zwar andauernd mit dem Weihwasserkessel
unterwegs sind, um ihre hochheilige EdO-Musik zu besprengen, bei den Texten
jedoch unverblümt zugeben, sie gar nicht verstehen zu wollen – das sei ja eh nur frauenfeindlicher Kitsch.
Nein, mit Verlaub, Tangos sind für mich Gesamtkunstwerke – und wenn sie einen
Text haben, gehört der ebenso dazu wie bei den Chansons einer Edith
Piaf. Seltsam nur, dass der gerade von traditioneller Seite stets
geforderte „Respekt“ für die historischen Tangos so weit denn doch nicht reicht…
Der
seit 1983 in Berlin lebende argentinische Schriftsteller, Sänger und
Liedermacher Jorge Aravena
meint
dazu:
„Deutsche
Tänzer können den Tango gar nicht richtig erleben, da sie die Bedeutung der
Texte nicht verstehen. Dadurch, dass sie den Inhalt nicht verstehen, wissen sie
nicht, was die Melodie durch die emotionale Fülle eines Wortes ausdrückt. Die
Komponisten erstellen die Melodie manchmal auf Basis des Textes, der
emotionalen Fülle der Worte. Einen Tango zu tanzen, ohne den Text zu verstehen,
den genauen Inhalt, ist wie auf Wellen zu reiten, ohne nass zu werden, ohne
sich einzulassen. (…)
Es
gab keinen künstlerischen Fortschritt auf dem Gebiet des Tangos. Die Deutschen
haben nie einen eigenen Tango geschaffen. Es gibt einige Bücher, meistens
Romane oder Filme zum Thema Tango. Aber man kann nicht beobachten, dass der
Tango in kultureller, geistiger Hinsicht in Berlin produktiv geworden wäre. Man
nimmt den Tango eher als Anlass zum Amüsement als zu persönlicher Entwicklung.
Der Tangotanz war nützlich, am meisten aber wohl für die Tangolehrer."
Bei einer Probe zum Auftritt letzten Sonntag meinte eine
unserer drei Musikerinnen zum Tango „Bandoneón
arrabalero“, sie sei tief berührt von diesem Stück. Ich antwortete: „Das kommt wahrscheinlich daher, dass er
schon 1928 geschrieben wurde. Für Texter wie Pascual Contursi war die Situation, die er schildert, wohl sehr
real. Da tröstet sich einer, der nicht mehr singen kann (vielleicht auf Grund
einer 'arme Leute-Krankheit' wie Tuberkulose), mit einem alten Bandoneón, das er
auf den Stufen einer Mietskaserne gefunden hat und das ihm wieder eine Stimme gibt: 'con tu voz enronquecida y tus notas doloridas' – 'mit deiner heiseren Stimme
und deinen schmerzlichen Tönen'“. Contursi übrigens schrieb über 30 Tangotexte und
starb mit 43 Jahren völlig verarmt an den Folgen einer Syphilis. Purer Kitsch?
Mögen „Kulturkritiker“ mit Schal und Lesebrille am
Kettchen solche Texte als „wertlos“ abtun – für mich haben sie
ganz wesentlich zu dem beigetragen, was mich am Tango fasziniert. Und ich bilde
mir ein, „Bandoneón arrabalero“
anders zu tanzen, seit ich den Text verstehe.
Müssen wir nun „Workshops“
zu Tangokultur und -geschichte befürchten?
Ich hoffe: nein. Eine „Schnellbleiche“ von wenigen Stunden (am besten noch per
Powerpoint) reicht dazu glücklicherweise nicht aus. Man muss schon seinen eigenen Weg zum Tango gehen, und der
ist lang, mühselig, macht aber unglaublich glücklich.
Der Berliner Tangopionier Juan D. Lange hat sich
stets gegen eine seelenlose Vermarktung
des Produkts Tango gewehrt. Er schreibt:
„Mit dem wachsenden Einfluss der argentinischen Tanzlehrer
wurde dann der Begriff 'Tango argentino' eingeführt und verbreitet.
Mit der freien Bezeichnung konnte man jetzt den Tanz ohne große weitere
Kenntnisse als Produkt gewinnbringend vermarkten. (…) Nicht die Erfüllung einer
Norm, sondern der persönliche Ausdruck und das Gefühl, miteinander zu tanzen,
sind die typisch lateinamerikanischen Ansätze, die seit 1982 unterrichtet
werden. (…) Unterschiedliche Stilrichtungen stehen hier gleichwertig
nebeneinander. Ob Salontanz oder Bühne - immer wird die Aufmerksamkeit auf das
Bewegungsgefühl und die Musik geleitet.“
Jeder und jede muss sich schon selber entscheiden, ob er
(oder sie) tiefer ergründet, was der Tango ihm (oder ihr) persönlich bedeutet. Mit reinem Mummenschanz wie gestreiften Schlaghosen, Highheels und Flatterkleidchen begibt man sich ebenso wenig in den kulturellen
Hintergrund des Tango wie Kinder in die indianische Kultur, wenn sie zu
Fasching mit Feder-Kopfputz und Kriegsbemalung herumspringen.
Juan D. Lange verwendet einen
anderen Vergleich:
„Noch in den achtziger Jahren dachten mehr als 90 Prozent
der Leute in Deutschland, der Tango stamme aus Paris. Nochmals unterstützt
wurde diese Auffassung auch durch den 1972 erschienenen Film des italienischen Filmautors
Bernardo Bertolucci 'Der letzte Tango in Paris'. Die Tanzszenen in
diesem Film zeigen deutlich die absurde, dekadente Auffassung des Tangos, indem
der Hauptdarsteller Marlon Brando seine Partnerin über das Parkett schleift,
während im Hintergrund die zackigen Schrittkombis abgespult werden. Sie
spiegelten aber mehr die eigene Dekadenz wieder, und der Tango musste halt
dafür herhalten, obwohl er so in Buenos Aires und Montevideo nie verstanden
wurde. Selbst der ‚Rudi Ratlos‘ Tango von Udo Lindenberg bedient das Klischee
noch 1974:“
http://www.tangoargentino.de/
Durchaus amüsant zu lesen, deine Lästereien.
AntwortenLöschenVielen Dank!
LöschenIch wäre froh, wenn es nur Lästereien wären. Eher halte ich es für peinliche Tatsachen. Aber ich habe ja weitgehend Leute zitiert, die es wissen müssten.