Corona und die tänzerische Promiskuität
Exklusivität hat noch nie zu meinen Zielen gehört – auch daher habe ich bislang kein Encuentro besucht. Ebenso wenig macht es mir Freude, dass mein Blog nun bald das einzige ist, auf dem in kurzer Folge deutschsprachige Texte zum Tango (und gelegentlich anderen Themen) erscheinen.
Cassiel war vorgestern (war er übrigens schon immer), und zahlreiche, oft mit großen Trara gestartete Blogprojekte gingen zumeist nach nicht allzu langer Zeit den Bach runter. Corona tat ein Übriges. Einzig bei „Berlin Tango Vibes“ veröffentlicht man in regelmäßiger Folge Zwanzigzeiler, welche man in der Bundeshauptstadt wohl für Artikel hält. Na, immerhin.
Zwar gefällt mir schon immer das Indianer-Bild, nach dem man sich zum Gewinnen am besten ans Lagerfeuer am Fluss setzt und wartet, bis die Leichen seiner Gegner an einem vorbeitreiben. Ich fände es aber schade, wenn das Monopol für deutsche Tangotexte irgendwann ganz an mir hängen bliebe.
Besonders leid täte mir das hinsichtlich des Berliner Bloggers Thomas Kröter, dessen Affäre mit der schreibenden Muse wohl auch den Kurs in die Binsen nimmt. Vom 4.8.20 datiert sein letzter Blogbeitrag. Kein Zweifel: Dem guten Thomas hat es das Kraut vor allem verhagelt, weil er nicht mehr das betreiben kann, was er „tänzerische Promiskuität“ nennt, vulgo – so viele Frauen wie möglich auf dem Parkett zu beglücken:
„Ich brauche die Begegnung mit fremden PartnerInnen. Vom Ballroom-Dancing hab ich mich nicht zuletzt wegen der vorherrschenden „Monogamie“ abgewandt. Tänzerische Promiskuität aber, zumal in enger Umarmung, ist auf unabsehbare Zeit abgesagt.“
https://berlintangovibes.com/2020/05/09/wie-soll-ich-uber-tango-schreiben-ohne-ihn-zu-tanzen/
(Nebenbei: Dass er „PartnerInnen“ gendert, hat mich etwas erstaunt – bislang hat er von seinem Wunsch nach „Männertangos“ noch nie berichtet…)
Jedenfalls schreibt Kröter zur Corona-Situation und deren Tango-Surrogaten:
„Keine der mir bekannten Varianten ist imstande, mich aus meinem Wohnzimmer zu locken. Platt gesagt: Wenn ich ohnehin nur mit meiner Frau tanzen darf – was ich für vernünftig halte, kann ich auch gleich zu Hause bleiben. Hier bestimme ich selbst die Musik. Und der Wein ist mit Sicherheit besser.“
http://kroestango.de/aktuelles/wenn-ich-nicht-zum-tango-kann-dann-tanze-ich-eben-zu-mutti/
Und obwohl Thomas und mich inzwischen der Einigkeitsgrad von AfD-Fraktionen verbindet, muss ich sagen: Mit dem Wohnzimmer hat er sowas von recht – wobei ich inzwischen wieder das Glück habe, dort öfters mit mehr als einer Frau zu tanzen.
Der kleine Unterschied besteht allerdings darin: Das war bei mir schon vor Corona-Zeiten der Fall. Vor über fünf Jahren beschrieb ich „meinen asozialen Tango“ so:
„Bin ich älter und müder geworden? Ganz bestimmt – und besonders spüre ich das, wenn man mir das branchenübliche musikalische Förderschulprogramm aufstreicht. Aber wäre es meinem Alter nicht sowieso gemäßer, am Rand der Tanzfläche zu sitzen und mit meinem Spazierstock begeistert auf die vielen jungen Menschen zu zeigen, welche es auf dem Parkett voller Energie und Lebenslust so richtig krachen lassen – und vielleicht mit meiner Ballonhupe am Rollator den Rhythmus zu unterstützen? Stattdessen fühle ich mich auf dem Parkett zu jung, um mich mit den räumlichen und musikalischen Begrenzungen abzufinden – so alt wie diese Form des Tango möchte ich jedenfalls nicht werden.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/06/mein-asozialer-tango.html
Dennoch kann ich natürlich das momentan weit verbreitete Wehklagen verstehen, dass man nun – mangels festen Partners – überhaupt nicht mehr oder eben nur mit diesem tanzen kann. Wobei ich schon einmal einschränken muss: Wer schon ein, zwei Jahre beim Tango ist und es noch nicht geschafft hat, wenigstens das Parkett regelmäßig mit einem Partner zu teilen, sollte sich um professionelle psychologische Hilfe bemühen. Für mich ist es schon lange Fakt, dass beim Tango der Anteil Beziehungsgestörter überdurchschnittlich hoch ausfällt.
Und klar, wenn ich an meine ersten Jahre bei diesem Tanz zurückdenke: Da war es schon aufregend, seine Fähigkeiten mit immer wieder neuen Partnerinnen auszuprobieren. Sicherlich lässt das mit der Zeit nach. Ich sehe aber noch einen anderen, wichtigeren Faktor:
Vor fünfzehn und mehr Jahren bedeutete der Tango mit einer anderen Frau fast stets einen Wechsel des Tanzstils. Es wurde damals unheimlich viel herumprobiert – und das zu einer Vielfalt an Musik. Zugegeben, es gab auch zu diesen Zeiten aufregendere und langweiligere Tänze – wie sollte es anders sein? Dennoch: Oft war es schon spannend, nur zuzusehen und sich zu überlegen, welche tänzerischen Eigenarten einem besser oder weniger gut gefielen – und über welche Abartigkeiten man sich amüsieren konnte.
Viel später erfuhr ich bei meinen Recherchen, dass die „alten argentinischen Milongueros“ genau diese Geschichten erzählten:
Von wegen Introversion – die Tanzpaare versuchten, einander mit noch abgedrehteren Sachen zu übertrumpfen. Wichtig war dabei ein unverwechselbarer eigener Stil. Heute wird den Lernenden das exakte Gegenteil verkauft: Es gebe genau den einen, „authentischen“ Tango, welcher sich von uralten argentinischen Traditionen ableite. Andere Tanzweisen grenzten an Rücksichtslosigkeit, ja Häresie.
Wenn ich in den letzten Jahren eine durchschnittliche Milonga besuchte, hatte ich nach zwei, drei Minuten Betrachtung des Parketts überhaupt keine Lust mehr, meine Beobachtungen auszudehnen: Die Paare tanzen zumeist wie geklont am siebten Schöpfungstag. Von vornherein war mir klar: Fast jede Tänzerin, die ich aufforderte, würde von mir das gleiche, normierte Programm erwarten. Spontane Einfälle, ungewöhnliche Aktionen, rhythmische Spielereien, gar eigene Initiativen der Dame? Schockstarre, Access denied.
Glücklicherweise war ich meist in Begleitung unterwegs. Aber ich wollte ja nicht arrogant oder gar „exklusiv“ wirken – so nach dem Motto „Er tanzt nur mit Auserwählten“. Also raffte ich mich dann doch dazu auf, mal mit einer fremden Partnerin zu tanzen – oft mit der, welche am nächsten zu mir saß. Um dann regelmäßig die Erfahrung zu machen, dass es genau so wurde wie befürchtet.
Im oben zitierten Artikel habe ich diese Entwicklung mit der Formel beschrieben:
Aus Sex, Drugs and Rock’n Roll wurden Workshops, Lactose-Intoleranz und Langweiler-Tango.
Daher bin ich fest davon überzeugt: Der Tango, wie ich ihn kenne und liebe, wurde bereits vor der Corona-Krise maximal beschädigt – vor allem durch tänzerische, musikalische und verhaltensmäßige Normierungen.
Daher habe ich mich schon lange immer mehr auf wenige Milongas zurückgezogen, die noch ein halbwegs vielfältiges und freies Miteinander ermöglichten. Um die tut es mir natürlich leid, aber ich weiß: Die haben nie um Spenden gebeten, und sie werden Corona überstehen – weil sie nicht von Kommerz, sondern von Leidenschaft leben.
Daher sage ich mit Überzeugung: Mir fehlt nichts, so lange ich mit der einen oder anderen nahestehenden Tänzerin im Pörnbacher Wohnzimmer zu einer Musik tanzen darf, die mich wirklich inspiriert. Da können wenige Tänze mühelos das ersetzen, was ich auf den üblichen Veranstaltungen eh kaum bekam. Und gelegentlich gibt es auch andere kleine, private Events, die ähnlich interessant gestrickt sind.
Klar,
wenn es nach Entwicklung eines Impfstoffs
im Tango wieder in die Vollen geht, werde ich mich über die eine oder andere Option zusätzlich freuen. Aber so, wie es im
Moment ist, halte ich das schon noch länger aus. Meine Trauer jedoch, was man in vielen Jahren aus unserem Tanz gemacht hat,
wird bleiben.
Dazu noch eine aktuelle Anekdote:
Neulich rief mich ein Leser an, wir hatten ein längeres Gespräch über diverse Themen. Gegen Schluss merkte ich, dass er noch etwas loswerden musste: Ja, es gebe da dieses Tanzvideo von mir – also, er wolle mir keinesfalls zu nahe treten, ich hätte bestimmt einiges drauf beim Tango, aber meine gebückte Haltung, mein hängender Kopf... na ja, der Größenunterschied im Paar sei halt beträchtlich…
Ich antwortete ihm:
„Kein Problem, das haben mir im Lauf der Jahrzehnte schon viele Tanzsporttrainer auszutreiben versucht. Aber wenn man sein Leben lang wegen der Größe gegen viele Beleuchtungskörper gerannt ist, kann man diese Haltung nur schwer ändern.
Aber wir haben ja nie behauptet, irgendeinen ‚gültigen Tanz‘ vorzuführen!
Nein, ein Tango ist stets einmalig. Den hier haben wir halt am 18.10.15 nachmittags um zirka halb Drei getanzt. In einer konkreten Stimmung, zu einer speziellen Musik, mit genau dieser Verbindung im Paar. Uns hat er gefallen – ich glaube, das sieht man.
Jeder Tanz ist unwiederholbar – und hat seinen eigenen Stil. Wer dann behauptet, er weiche vom ‚richtigen‘ Tango ab, hat überhaupt nichts von dem verstanden, was Tango sein kann.“
Leider ist diese andere Einstellung inzwischen Allgemeingut – und das ist für den Tango viel schlimmer als jede Pandemie oder der Mangel an Vielweiberei.
P.S. Wer’s nochmal sehen will:
Es passt vielleicht nicht ganz zu diesem Blog-Thema, aber ich möchte den folgenden Text nicht vorenthalten.
AntwortenLöschenEs kann auch mal erfrischend sein, Vorschriften zu lesen:
Covid-Regeln einmal anders.
Fundstück aus der Veranstaltungsszene:
Mit besten Grüßen,
Theodor Wally
Vielen Dank - nur kann man leider in Kommentaren nicht verlinken. Nötig wäre die genaue Quelle.
LöschenHallo Herr Riedl,
LöschenIch sehe nicht, dass die Tänzerin in ihrem video eine Möglichkeit bekommt um „gar eigene Initiativen der Dame?“ Zu tanzen, da sie permanent geschleudert, gehetzt und geworfen wird. Mit freundlichem Gruß, Alfred Engel
Lieber Herr Engel,
Löschendass Sie das nicht sehen können, tut mir leid.
Aber glücklicherweise müssen Sie ja nicht mit mir tanzen. Also kann's Ihnen eigentlich egal sein, oder?
Beste Grüße
Gerhard Riedl