Willy Riedl: Ostern in der Taiga
Zu Ostern gibt es einen besonderen Gastbeitrag: Mein Vater Willy Riedl verfasste den Text kurze
Zeit nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft. Am 31. Dezember
1949 sah er Frau und Eltern wieder, die nach ihrer Vertreibung aus dem
Sudetenland in dem Dörfchen Unterdolling bei Ingolstadt einquartiert waren.
Ostern in der Taiga / Erinnerung eines Heimgekehrten
Grenzenlose
Einsamkeit liegt über der Weite des winterlichen Landes. Die Nächte sind lang,
und wenn die Sonne tagsüber, weit unten im Süden, ihren kleinen Bogen
beschreibt, so vermag sie nur für wenige Stunden den Tag in einen Zustand der
Dämmerung zu tauchen. Dann sieht das Auge tiefhängende Wolken und auf endlos
scheinenden Schneefeldern einzeln und in Gruppen sibirische Birken und
niedriges Buschwerk.
Schwer
lastet hier die Natur in ihrer Ur- und Ungestalt auf dem menschlichen Gemüt,
und selbst die unendliche Weite zieht sich drohend zusammen und lastet
bedrückend auf der Seele…
Wir
sind unterwegs nach Weidenruten für die Korbflechterei im Lager. Beim Aufstehen
sagte heute Morgen einer: „In der Heimat ist Karsamstag.“ Woher er das wisse,
fragte ihn keiner. Totenstille trat ein. Jeder war für Minuten für sich allein,
hielt in sein vergangenes Leben, in die Vielzahl seiner Oster-Erinnerungen
Rückschau.
Wie
anders war alles hier! Während ich unter den anderen dahinging, kam mir das
Ewig-Schöne, das Schlichteste und Herzlichste, das je in deutscher Sprache von
der Osterzeit gesagt wurde, in den Sinn: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
von des Frühlings holdem, belebenden Blick…“
Aus
einer fremden Welt schien mir das zu kommen! Die ersten Vogelstimmen, die
ersten Blumen, dieses Neuerwachen der Natur, das sich auf die Menschen
überträgt und auch in ihrem Innersten Auferstehung, neuen Glauben und neue Hoffnungen
bringt – wo war das jetzt? Hier? Konnte das matte Licht dort unten überhaupt
dieselbe Sonne sein, die jetzt in der Heimat mit Wunderkraft allem neues Leben
verleiht?
Ich
schüttelte den Schnee von den Weidenruten, ehe ich sie Stück um Stück brach…
Plötzlich…
weiteten sich meine Augen: Palmkätzchen! Zum Greifen nah! Schöne, zarte, weiche
Knöllchen, wie zu Haus! Mir wurde so warm ums Herz, dass ich erst gar nicht
wusste, was ich tun sollte. Dann griff ich sacht nach ihnen und streichelte
sie, so zärtlich und behutsam, als wären sie aus Schaum gebacken.
Und
da, als meine Finger das Samten-Weiche dieser lieblichen Lebensboten spürten,
wurde ich zuversichtlich, ja, fast fröhlich, und obwohl mir danach noch Jahre der Gefangenschaft auferlegt waren – so habe ich von diesem Augenblick an nie
mehr an meiner endlichen Rückkehr in die Heimat gezweifelt.
Am 8. Mai 1945
befand sich mein Vater gerade einmal 150 Kilometer von seiner Heimatstadt Graslitz
(Kraslice) im Sudetenland entfernt. In Zivilkleidung versuchte er sich nach
Hause durchzuschlagen. Er gab es aber bald auf: zu gefährlich.
Einmal wurde er von
bewaffneten Tschechen gestellt und sollte als „deutscher Besatzer“ erschossen
werden. Mit dem Gewehrlauf im Genick sang er die tschechische Nationalhymne –
natürlich in der Originalsprache – und wurde freigelassen. Und das, obwohl er
in der Schule Tschechisch immer gehasst hatte! Ja, Bildung kann sich lohnen…
In seiner Not schloss
er sich einem Kriegsgefangenen-Transport der russischen Armee an. Da wurde man
wenigstens bewacht!
Der Umweg führte
allerdings über Sibirien… insgesamt über 20000 Kilometer.
In seinen
Erinnerungen schrieb Willy Riedl:
„Und
der Tag, dieser 8. Mai 1945 mit Kriegsende und Heimkehr, hatte bei mir vier
Jahre, sechs Monate und 22 Tage gedauert.“
Die Überlebenschancen
meines Vaters dürften damals im Bereich der jetzigen Corona-Todesraten gelegen
haben. Zum Glück wurde er 94 Jahre alt.
Vielleicht sollten
wir uns solche Geschichten wieder vergegenwärtigen, wenn wir derzeit jammern,
dass wir uns nicht mit Freunden treffen, feiern oder tanzen können.
Ich wünsche meinen Lesern ein frohes und besinnliches Osterfest. Lasst euch nicht unterkriegen!
Ja, nur nicht jammern! (auf unserm Höhen Niveau) Wir können uns glücklich schätzen. Also dankbar sein! Und Geduld üben! Frohe Ostern!
AntwortenLöschenLiebe Bea,
Löschendanke für die Zustimmung!
Ich meine auch, dass es uns in Deutschland vergleichsweise sehr gut geht.
Frohe Ostern und liebe Grüße!
(Für mitlesende Kritikaster: Die Kommentatorin ist mir persönlich bekannt.)