Erst, wann’s aus wird sein
Seit
gut vier Wochen ist nun die Welt,
auch die kleine des Tango, heruntergefahren: Keine Milongas, kein
Unterricht, ja nicht einmal mehr hitzige Debatten
über orthodoxe Aufforderungsweisen, Tanzspurbenutzung und Musikauswahl. Schon
dafür müsste man dem Virus
eigentlich dankbar sein. Vielleicht
erkennen nun doch viele, wie kleinkariert diese ganzen Katechismus-Streitereien waren.
Könnte
man Corona durch eine Zauberformel beseitigen, wären viele Konservative im Tango nun wohl sogar bereit, einen ganzen Abend auf
Neo-Musik zu tanzen – und umgekehrt
die Freigeister zu historischen Klängen (sorry, waren die ja vorher auch schon:
schlechter Vergleich).
Und
selbst die sensibelsten Erbsen-Prinzessinnen
würden es wohl derzeit akzeptieren, wenn sie ein cabeceo-loser Grobian an den Haaren aufs Parkett zerren würde:
Hauptsache tanzen!
Ja,
die gepriesene enge Tanzhaltung, das
Hintereinanderher-Dackeln in dicht besetzter Ronda mutierte nun vom „umarmungsfokussiert“ zu infektionsgefährlich! Wer hätte das vor
Wochen noch gedacht?
Es
besteht begründete Hoffnung, dass uns die früheren Wahrheitseigner im Tango verlassen und zu Virus- und Gesundheitspolitik-Experten
umschulen. Viel versprechende Ansätze
gibt es bereits: So durfte ich erst gestern erleben, dass via Facebook ein Kekulé-Anhänger auf die
Heinsberg-Protokolle des Rivalen Streeck
eindrosch: Von „Leichtmatrose“ und Publicity-Sucht war da die Rede, einer
Leistung, welche einer Habilitation und sogar eines Rigorosums unwürdig sei.
Keine Ahnung, der Mann!
Wahrlich:
Auf den Tangoseiten findet man derzeit statt der Ronda-Pfeildiagramme nun jede Menge Statistiken nebst deren erleuchteten Kaffeesatz-Deutern. Unverändert bleibt jedoch das Sendungs-Bewusstsein von der eigenen Unfehlbarkeit.
Als
ich mir erlaubte, solch gehässige Attitüden
zu kritisieren, bekam ich mein übliches Fett weg: Oberlehrer aus der Provinz,
Wohnzimmer-Milonga, Non Tangos, haha. Vertraute Klänge – nur halt jetzt statt Códigos Corona. Flugs stieg auch
einer meiner Dauer-Gegner von der Tangolehrer-Fraktion
aus der Gruft und bestätigte mir abermals sowie zweckfrei, vom Tango keine
Ahnung zu haben.
In
der Krise spaltet sich halt die Menschheit
in zwei Fraktionen: Die einen
überlegen, wo sie helfen können, die
anderen machen erstmal ihre Umgebung
nieder. Klar, irgendjemand muss doch schuld daran sein, wenn’s ihnen dreckig
geht! Besonders groß ist die Panik natürlich bei den alten Zauseln meiner Generation, welche als Mitglieder der „Risiko-Gruppe“ ihr vorletztes
Stündlein eingeläutet hören. Da muss man natürlich kurz vorher noch dem Rest der
Welt die Stimmung versauen…
Ich
rate da dringend, auf volle Hosen
nicht auch noch mit lautem Gezeter
aufmerksam zu machen!
Zudem sind bekanntlich Voraussagen schwierig – vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen...
Um
mir nun auch die fünf Euro fürs Phrasenschwein
zu verdienen: Die Welt wird nach Corona eine andere sein – und die des Tango erst recht. Die Pandemie macht
unseren Tanz weitaus stärker nieder als Beatmusik und Diktatur im früheren
Argentinien.
Gerade
wir Älteren werden uns damit
abfinden müssen, dass es für lange Zeit
nicht mehr möglich sein wird, Milongas des früheren Stils zu besuchen: zu
riskant. Selbst Impfungen (wenn sie
denn kommen sollten) bieten in unserem Alter keinen hundertprozentigen Schutz.
Ich
erlaube mir, auch diese unschöne
Tatsache etwas aufzuhellen:
Immerhin durfte ich diesen wunderbaren Tanz 20 Jahre lang genießen, manchmal sogar zu moderner Musik und in
Abwesenheit von arroganten Hanseln. Daher tun mir all die viel mehr leid,
welche den Tango erst vor relativ kurzer
Zeit entdeckt haben – und nun ist es für sie schon wieder vorbei. Welche Tragik!
Aber
auch den Jüngeren rate ich, sich
nichts vorzumachen: Man wird eher wieder Fußballspiele
mit Publikum erlauben als Tanzveranstaltungen
– erst recht, wenn es um Tango geht. Tanzweise und Partnerwechsel dürften hinsichtlich
Infektionsgefahr ungefähr in der Größenordnung von Swingerclubs liegen. So lange man also die gewerbsmäßige horizontale Aktivität nicht wieder
freigibt, dürfte es auch mit dem Tango
alten Stils nichts werden – welch sinniger historischer Zusammenhang!
Daher
finde ich es zwar rührend, dass nun Veranstalter,
DJs und Tangolehrer sich in Online-Aktivitäten versuchen oder um Spenden bitten. Klar, auch ich habe
schon geholfen, sehe das aber eher als Überbrückung, bis man sich einen neuen Job gesucht hat: Tango als Beruf wird es in Zukunft kaum
noch geben – diese dringende Vermutung sollte man nicht verdrängen.
Der
Berliner Tangofreund Thomas Kröter
hat jüngst mit vollem Recht Volker
Marschhausen zitiert: „Tango ist Präsenz
mit allen Sinnen und existiert nur im wirklichen Leben, mit realen Tanzenden,
lebender Musik und echten Veranstaltungsorten. Virtualität ist Schall und
Rauch.“
Ich
sehe in dieser Krise aber auch eine Chance: Vielleicht sollten wir einmal
darüber nachdenken, ob dieser ganze Gigantismus
uns nicht auch im Tango in die Irre geführt hat. Aus dem Tanz einiger weniger
in einem kostenlosen Kellerraum oder Jugendzentrum wurde eine
aufgeblasene Entertainment-Industrie:
Tangoreisen, sogar Kreuzfahrten, Buenos Aires-Pilgerzüge, Festivals, Marathons,
Encuentros. Dazu noch ein ausufernder Markt von Tangoprothesen wie Edelfummeln und Glitzerschühchen; Star-Allüren,
Workshops und Kurse, so weit die Füße trugen. Doch weiter gefahren ist eben
nicht weitergekommen!
Die
Parallelen drängen sich auf: Ist es
noch Sport, wenn vor
fanatisiertem Anhang millionenschwere Adrenalin-Junkies
einander gegen die Beine treten? Wenn man dafür achtstellige Fernsehgebühren abgreift? Wenn man Alpendörfer in Ballermann-Skiarenen verwandelt, in
denen Zusaufen längst das Abfahren als Motivation ersetzt hat? Muss man heute
bereits als Siebzehnjähriger
unbedingt in Neuseeland gewesen sein
oder sich nach dem Abitur an
exotischen Ferienorten ein Alkoholdelirium
verschaffen? Muss das ökonomische und
politische Management unablässig von
einem Tagungshotel ins nächste jetten? Plötzlich schafft man es nun im Home
Office oder mittels Video-Konferenz…
Eine
Tangofreundin hat mir neulich einen selbstverfassten
Artikel zugeschickt, den ich für
hervorragend halte. Darin schreibt sie:
Wollen wir so
weiterleben? Als Individuum, als Weltgesellschaft? Nach der Krise wie vor der
Krise? Ohne Richtungskorrektur?
Dass genau das
eintritt, davor habe ich am meisten Angst. Mehr als vor dem Virus.“
Ich
auch.
Was
den Tango betrifft, hoffe ich aber, dass wir uns derartig gesund schrumpfen, dass unsere Szene für die Nüsternaufbläher und Hosentaschen-Ausbeuler
einfach nicht mehr attraktiv genug
ist und sie sich daher andere
Wirkungsorte fürs Ego-Boosting suchen. Dann könnten wir anderen irgendwann
wieder kleiner und bescheidender anfangen, mit privaten
Milongas unter wenigen Freunden. Mit Menschen, denen es wirklich um die Essenz dieser wunderbaren Musik und des
Tanzes dazu geht. Ohne Weltmeisterschaften, Regelkundler und Musik-Exegeten.
Ich freue mich darauf.
Der Münchner DJ Michael Tausch schrieb gerade in der FB-Gruppe „Tango München“ zu meinem Artikel:
AntwortenLöschen„Ein Blogger aus Pörnbach meint, das geht schnell vorbei mit der Solidarität - falsch gedacht, wie schon so oft, wenn es um Tango München geht.“
Na ja, Solidarität in der Münchner Tangoszene – da müsste ich in den letzten Jahren etwas verpasst haben… Ich habe zig Male dokumentiert, wie man einander schon bei harmloseren Themen an den Hals ging.
Aber darum ging es mir nicht. Solidarität ist in Krisenzeiten eine ungeheuer wichtige Sache. Aber – selbst wenn es diese im Übermaß vorhanden wäre: Ein Beruf wird mittel- bis langfristig aussterben, wenn es keine Arbeit mehr gibt. Und das in einer Branche, wo es für viele schon vorher kaum reichte.
Sorry, das ist halt meine Einschätzung – sie ist überhaupt nicht von irgendeiner Schadenfreude beeinflusst. Von Zweckoptimismus allerdings auch nicht.