Die vergessenen Epidemien


Die momentane Corona-Pandemie beansprucht in der öffentlichen Wahrnehmung den Spitzenplatz aller Seuchen: Weltweit sind momentan an die 3 Millionen Infektionen nachgewiesen, an die 200000 Menschen starben im Zusammenhang mit dieser Krankheit.
In Deutschland gibt es aktuell fast 157000 Infizierte und knapp 6000 Tote.
  
Noch gar nicht so weit zurückliegende Pandemien scheinen allerdings kaum noch in Erinnerung:

Die nach der Spanischen Grippe 1918-1920 zweitschlimmste weltweite Epidemie war die Asiatische Grippe in den Jahren 1957-1958. Erreger war das Influenza-Virus H2N2, das sich wohl ausgehend von China weltweit verbreitete. Die WHO schätzt die Zahl der Infizierten auf 400 Millionen, die der Verstorbenen auf bis zu 4 Millionen. In Deutschland waren wohl etwa 40 Prozent der Bevölkerung Virusträger, vermutet werden um die 30000 Tote. Die Anwendung eines Impfstoffs misslang.

Auch an der Hongkong-Grippe im Winter 1969/70 starben weltweit geschätzt 1 Million Menschen, in Deutschland lässt sich eine Übersterblichkeit von rund 40000 berechnen. Erreger war das artverwandte Virus H3N2.

All diese Zahlen sind ziemlich ungefähr, da damals die Lust staatlicher Gesundheitsbehörden auf Statistik noch weit geringer war als heute. Und die Freude der Schulmediziner auf postmortale Untersuchungen zur Klärung der genauen Todesursache ebenfalls.

Obwohl ich beide Seuchen als „Zeitzeuge“ erlebt habe, kann ich mich beim besten Willen an nichts mehr erinnern – aufgeregte öffentliche Diskussionen und Schul- oder Fabrikschließungen hätte ich wohl mitbekommen, wenn es welche gegeben hätte.

Es scheint tatsächlich so, als hätten sich beide Seuchen unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit abgespielt:

„Als eine ‚Pandemie ohne Drama‘ beschreibt der Berliner Medizinhistoriker Wilfried Witte den Verlauf der Asiatischen Grippe in Deutschland. (…) Die Krankheit (…) sei aber dennoch nicht als besondere Bedrohung wahrgenommen worden.“

„‚Die Seuche ist mehr oder weniger hingenommen worden‘, sagt auch Alfons Labisch, emeritierter Professor für Medizingeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (…). Es habe keine nennenswerte Reaktion in der Öffentlichkeit gegeben. Labisch selbst war damals zehn oder zwölf Jahre alt: ‚Ich kann mich aber überhaupt nicht an die Asiatische Grippe erinnern, anders als an die Pocken oder Kinderlähmung.‘ Die Pandemie sei in unserem ‚kulturellen Gedächtnis überhaupt nicht vorhanden‘.“

Die Mediziner bemühten sich größtenteils, die Gefahren der Erkrankung herunterzuspielen. Die „Zeit“ veröffentlicht im September 1957 einen Beitrag des Bakteriologen und Serologen Professor Heinrich Lippelt:

„Die Erkrankungszahlen, die jetzt besonders für den asiatischen Raum gut zu übersehen sind, zeigen, dass die Influenza-Epidemie einen hohen Prozentsatz der Bevölkerung befallen hat. Die meisten der Erkrankten brauchten keine ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen; die Zahl der Krankenhausfälle beläuft sich in einem Gesamtüberblick auf nur 8 v. H. der Erkrankten. Die Zahl der Todesfälle ist gering. (…)
Komplikationen, insbesondere der Lunge, haben erfreulicherweise keine große Rolle gespielt. Die Patienten gesunden meist ohne ärztliche Hilfe. (…)
So werden allgemein hygienische Maßnahmen bei der Vorbeugung der Influenza zu berücksichtigen sein. Hierzu gehört – außer der persönlichen Rücksichtnahme auf die Umgebung beim Husten und Niesen – insbesondere die Meidung von Menschenansammlungen. Überdies haben Laboratoriumsversuche einen virushemmenden Effekt von Formaldehyd auf den Influenzavirus ergeben. (…)
Der bisherige Verlauf berechtigt zu der Hoffnung, dass die Erkrankungen in der Bundesrepublik ebenfalls mild sein werden und kein Anlass zu einer ernsten Besorgnis besteht.“

Na ja, Formaldehyd gilt heute als krebserregend… Übrigens empfahl man damals zur Vorbeugung auch das Gurgeln mit Wasserstoffperoxid.

Interessant ist auch die einzige noch verfügbare Rundfunksendung aus dieser Zeit: Der Unterricht fiel damals nur aus, wenn mehr als die Hälfte der Schüler erkrankt war.

Auch bei der Hongkong-Grippe war die öffentliche Wahrnehmung eher gering – obwohl nach einem Bericht der Münchner „Abendzeitung“ das medizinische System deutlich an seine Grenzen kam:

„Obendrein mangelte es überall an entsprechend geschultem Personal sowie an Krankenhausbetten. Alle Kliniken seien ‚randvoll belegt‘, meldete das Münchner Krankenhausreferat. ‚Wir mussten bereits 180 Notbetten auf den Gängen aufstellen.‘ Auch 30 Prozent der Schwestern seien erkrankt.
Mitte Dezember 1969 hatte die Hongkong-Grippe das Land Bayern voll erfasst. Genaue Zahlen über die Infizierten konnten damals allerdings noch nicht ermittelt werden. Professor Werner Anders vom Bundesgesundheitsamt in Westberlin gab immerhin bekannt, dass die Erkrankungsrate doppelt so hoch sei als bei früheren Grippewellen. In manchen Betrieben erreiche sie zwischen sieben bis zehn Prozent der Beschäftigten, bei einem hohen Frauenanteil sogar noch mehr. Nach einer Umfrage der Deutschen Presseagentur in Bayern mussten 800 Notbetten auf Gängen, in Tagesräumen und Ärztezimmern aufgestellt werden.“

„Die Anzahl der Grippetoten 1969/70 sei damals nur von epidemiologisch interessierten Ärzten überhaupt bemerkt worden, sagt der damalige Assistenzarzt Dr. Ernst Theodor Mayer.“

„Die meisten der befragten Münchner erinnern sich jedoch heute nicht mehr an die Seuche, die aus dem Fernen Osten kam. Im Stadtbild fiel sie jedenfalls nicht auf. ‚Es gab ja noch keinen Mundschutz‘, schreibt Lili Pflanz. ‚Ich war jung und hatte andere Interessen.‘"

Übrigens kam die Seuche auch damals über die Skigebiete Österreichs und der Schweiz nach Bayern. Schlagzeilen machte aber zu diesen Zeiten die Studentenrevolte, nicht eine vermeintlich normale Grippewelle. Und glücklicherweise half vielen die Immunisierung durch die Asiatische Grippe.

Die Beispiele könnten unterschiedlicher nicht sein: Über die Spanische Grippe (weltweit Größenordnung 50 Millionen Tote) durfte in Deutschland nicht geschrieben werden, da es die Wehrkraft schwächen könne. Asiatische und Hongkong-Grippe dagegen waren offenbar des Berichtens kaum wert. Heute dagegen sind die Medien und sozialen Netzwerke voll von Corona-Schlagzeilen. Jeder neue statistische Wert wird von Dutzenden wirklicher und Hunderttausenden vermeintlicher Experten gedeutet und debattiert.

Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Nach dem Krieg war man wohl Schlimmeres gewöhnt als Grippetote. Zudem starben damals eher Kinder und alte Menschen, wodurch die Wirtschaft relativ ungestört weiterlaufen konnte. Und Ende der 1960-er Jahre waren die gesellschaftlichen Umbrüche ein Thema, das vielen näher ging.

Weiterhin ließen sich die Pandemien früher mehr Zeit, da sie eher mit dem Schiff denn per Flugzeug kamen. Die Asiatische Grippe brauchte noch anderthalb Jahre von China nach Deutschland. Der Wahnsinn, ständig um die Welt jetten zu müssen, hat die Frist nun auf einige Wochen reduziert.

Vor allem aber fehlte die 24-Stunden-Dauerberieselung durch die Medien. Früher gab es halt in der Zeitung die Stellungnahme eines Mediziners – und gut war’s. Heute dagegen sendet man ständige Direktübertragungen von den Intensivstationen, und jeder Otto Durchschnittsdenker fühlt sich bemüßigt, seinen Senf dazuzugeben – je schärfer, desto besser.

Besonders interessant finde ich einen Gedanken des Medizinhistorikers Alfons Labisch: „Im 20. Jahrhundert haben wir es geschafft, viele Krankheiten in den Griff zu bekommen. Unser ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, dass uns überhaupt nichts passieren kann.“

Ich würde sogar sagen: Bei uns breitet sich eine Haltung aus, welche das Wort John F. Kennedys auf den Kopf stellt: „Frage nicht, was dein Land für dich, sondern was du für dein Land tun kannst.“
Heute dagegen lautet die Devise: Wenn der Staat was von mir will, kann er mich mal. Aber wenn’s mir schlecht geht, soll er mich gefälligst retten.

Dass man nun ganze Hochhäuser absperren muss, damit irgendwelche Knalldeppen sich an die Quarantäne halten, ist kränker als jedes Virus.

 
Insbesondere hat das Gemeinwesen offenbar Wohlstand, Glück und Unsterblichkeit seiner Mitglieder zu gewährleisten. Sorry, Leute, so wird das nichts!

Ich weiß auch nicht, wo genau der richtige Mittelweg zwischen Herunterspielen und Überzeichnen der Gefahr liegt.  
        
Vor allem aber ist zunächst jeder selber für seine Gesundheit verantwortlich! Nicht der Staat.

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