Keep it simple!
„Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis größer als in der Theorie.“ (Dr. Gunther Schmidt, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gunther_Schmidt_(Mediziner)
Zweifellos: Heute muss man beim Tango in der Theorie stark sein! So lese ich bei einem geschätzten Kollegen die folgenden Erklärungen zur „Spiraldynamik“ im Tango:
„Der Ocho adelante wird vielerorts als Abfolge von Vorwärtsschritten unterrichtet – und genau hier beginnt der Missklang. Ein Ocho entsteht nicht linear, sondern aus einer diagonalen Beckenverschraubung zum Partner, während die Schulterlinien parallel bleiben. (…) Im Ocho heißt das: Der Oberkörper bleibt dem Partner zugewandt, das Becken führt diagonal die Spur, das freie Bein folgt der entstandenen Schneise. So wird aus dem scheinbaren Vorwärtsschritt ein spiraliges Umschlingen des gemeinsamen Raumes.
Didaktisch wirkt es, den Ablauf in Wellen zu denken: Erst richtet der Blick die neue Richtung ein, dann atmet der Brustkorb in diese Richtung, das Becken wickelt nach, und zuletzt findet der Fuß seinen Platz. Wer so übt, spürt schnell, dass der Schritt nicht ‚gemacht‘ werden muss – er ergibt sich.“
https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tango-unterricht-24-teil/
Echt, der ergibt sich? Da müsste ich zuerst schon mal wissen, was ein „Ocho adelante“ ist! Also mal den Google-Übersetzer bemüht: Ach so, ein Vorwärtsocho – der rückwärtige nennt sich „Ocho atrás“.
https://www.youtube.com/watch?v=O3SNMnP5xm4
Super, das wird mir im nächsten Workshop beim gescheit Daherreden helfen! Ob mir dadurch die Ochos besser gelingen? Na ja, machen meist eh die Weiber, sollte man sich als Mannsbild gar nicht drum kümmern!
Mit etwas Schmunzeln muss ich an den gestrigen Tag denken: Am Nachmittag besuchte uns eine Freundin, die sich trotz dringender Termine eine Dreiviertelstunde für den Tango erkämpft hatte. Sie tanzt sehr gerne mit meiner Frau und mir. Und ja, sie kann auch führen. Offiziellen Unterricht in diesem Tanz genoss sie in den vergangenen 15 Jahren Tango keine einzige Stunde – wir haben allerdings viel auf dem Pörnbacher Parkett zusammen geübt.
Und weil der Teppich schon mal weggerollt war, drehte ich mit Karin vor der Tagesschau noch eine Runde Tango, Vals und Milonga.
Bei all diesen Tänzen hatte ich überhaupt keinen Plan – und null Erinnerung daran, was wir da eigentlich im Einzelnen aufgeführt haben. Aber es hat großen Spaß gemacht – und wir hatten das Gefühl, dass wir mit der Musik übers Parkett flogen.
In diesem Zusammenhang muss ich an die Gründergeneration des Tango denken: Es waren einfache Leute, die ganz bestimmt kein Studium an einer Tanzakademie vorweisen konnten. Sicherlich auch keinen Tangokurs. Ich vermute, dass ihnen „Spiraldynamik“ nicht mal in spanischer Übersetzung etwas gesagt hätte. Sie hatten wohl einfach Spaß an Musik und Bewegung. Und die Kerle wollten mal gerne mit Frauen tanzen. Vielleicht sogar auch umgekehrt.
Will sagen: Komplizierte Schritte und Figuren waren da nicht zu erwarten. Woher auch? Man versuchte, sich mit einfachsten Bewegungen der Musik zu nähern.
Woran lag es dann, dass die Frauen beim einen Tanzpartner zu schnurren begannen und sich beim anderen überlegten, wie sie ihn möglichst schnell wieder loswürden?
Klar: Der Typ durfte sie einerseits nicht tänzerisch überfordern. Die Damen lieben es nicht, auf dem Parkett doof auszusehen. Also musste der Partner sie mit einfachen Schritten in die Musik holen. Und hierbei seien die Männer gewarnt: Frauen haben oft ein sehr feines Gespür für die zu hörenden Klänge! Es war für die Tänzer daher vorteilhaft, wenn sie diese Begabung ebenfalls aufwiesen. Andererseits erschien es natürlich nicht verkehrt, wenn der Typ einige coole Moves mehr draufhatte. Entscheidend war das aber nicht!
Zumindest die besseren Tänzerinnen (und von denen gibt es mehr als auf der männlichen Seite) lieben es nicht, wenn ihnen eingelernte Sequenzen aufgedrückt werden. Vor allem, wenn die nicht zur Musik passen.
Ich bin daher sicher: Mit einfachen Geh- und Wiegeschritten, einer möglichst simplen Drehung kann man einen prima Tangotanz gestalten. Von mir aus auch mit Ochos. Vor allem aber, wenn man die Partnerin fühlen lässt, dass man gerne mit ihr tanzt, sie für einige Minuten zur „Königin“ auf dem Parkett machen möchte. Sie zahlt das vielfach zurück!
Ein Tangofreund berichtete mir einmal vom Ausspruch einer Tanzpartnerin: „Führ doch einfach das, was ich gerne tanze!“ Schöner kann man es nicht sagen!
Ebenfalls schmunzeln muss ich bei einer anderen Erinnerung, die mir heute kam: Ich war einmal zur Geburtstagsfeier einer Tangofreundin eingeladen. Sie wünschte sich, dass ich für ihre (tangofernen) Gäste mit ihr eine Runde Tango vortanzte. Netterweise bekam ich hinterher ein Video unseres kleinen Auftritts. In der Aufzeichnung war die Frage eines weiblichen Gastes zu hören. „Woher weiß die immer, was er tanzen möchte?“
Wusste sie sicherlich nicht immer. Im Zweifel tanzte ich halt das mit, was sie machte!
Ich kann daher den Männern nur raten, sich tänzerisch den Partnerinnen mindestens so stark anzupassen wie umgekehrt! Und bitte: Bleibt (jedenfalls zunächst) bei einfachen Aktionen!
Zum Schluss eine wunderbare Nachricht aus einem ganz anderen Bereich:
Evelyn Palla, die neue Chefin der Deutschen Bahn, ist nicht nur seit Kriegsende die erste Frau auf diesem Posten – im Gegensatz zu allen ihren männlichen Vorgängern hat sie auch einen Lok-Führerschein!
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/bahn-chefin-palla-104.html
P.S. Das war die Milonga, die ich gestern für Karin und mich rausgesucht hatte – ein altes Stück in moderner Fassung:
Wie jetzt? Auf dieses blasphemische Machwerk von Otros Aires erstens Tango tanzen und zweitens auch noch Spaß dabei haben? Ist das nicht Lästerung?
AntwortenLöschenNa gut, eine Milonga halt, Neo noch dazu, sowieso ein No-Go für gefüllte Pisten und Fluchtauslöser beim gediegenen Tanguero.
Habe ich nicht die Erfahrung gemacht, dass ich als seriöser Tangotänzer in den dunklen Keller zu gehen habe, wenn ich die von vertikalen Stirnfurchen durchzogene Machomimik gelegentlich dezent in Richtung Lachfalten lockern möchte? Spaß haben wollen, tztztz...
Und dann auch noch dieser hektische Beat von über 100 bpm.
Nein, nein, das muss ein Missverständnis sein, da muss ein völlig anderes Tanzkonzept her. Never Tango.
Oder sollte etwa Rafael Busch von "Tangotanzen macht schön" recht haben, wenn er im podcast "Cabeceo - Gespräche über den Tango Argentino" von Heinz Duschanek (https://cabeceo.at/episoden/episode-31-rafael-susanne-wie-schoen-macht-tango-tanzen/) feststellt: "Leute, die glauben, sie hätten verstanden, was der Tango ist, und andere wissen es nicht, die reden über sich und nicht über den Tango."
Ich grüble.
Lieber Bernhard Grupp,
Löschenbitte nicht grübeln! Macht nur Falten.
Ja, Spaß erregt im heutigen Tango Missfallen. Aber man kann ja auch im Keller tanzen.
Und klar, der hektische Beat des Stücks ist sicher ein Problem. Zumal Fortbewegung – oder Bewegung überhaupt!
Rafael Busch ist ein Tangolehrer der etwas anderen Art. Ich habe ihn neulich in einem Artikel besprochen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/06/die-etwas-anderen-lehrer.html
Herzlichen Dank für die gut gelaunten Anmerkungen,
Ihr Gerhard Riedl
„Wer aus Unwissenheit über etwas lacht, ist ein Tor.“
AntwortenLöschenDie Spiraldynamik® ist kein theoretisches Spielzeug, sondern ein anatomisch-funktionelles Bewegungskonzept, das auf den natürlichen Spiralbewegungen des menschlichen Körpers basiert. Seit ihrer Entwicklung wird die Methode zunehmend wissenschaftlich untersucht – mit erfreulichen Ergebnissen auch im Bereich Tanz.
Gerade der Tango Argentino, mit seiner engen Umarmung und den diagonal-verschraubten Bewegungsformen, gehört zu den Tänzen, die in besonderem Maße von der Spiraldynamik® profitieren. Das ist nicht nur meine Einschätzung nach vielen Jahren intensiver Beschäftigung mit diesem Konzept, sondern auch die Erfahrung zahlreicher Tanzpädagog:innen, die diese Prinzipien in ihrer täglichen Arbeit anwenden.
Spiraldynamik® macht den Tango nicht komplizierter, sondern verständlicher, leichter und gesünder.
Genau das, was bei Verständnis zu einem wirklichen Lächeln und Tanzspaß führt und nicht den dunklen Keller.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Gibt es eine Quelle für das anfängliche Zitat? Oder haben Sie sich’s selber ausgedacht?
LöschenGut, wenn spiralige Verschraubungen im Tango etwas bringen, kein Problem! Aber man sollte sie dann halt nicht so verschraubt erklären. Darauf zielte meine Satire.
Und ich würde nie den wissenschaftlichen Hintergrund dieser Theorie anzweifeln. Er hat bei der Entstehung und Faszination des Tango sicher eine große Rolle gespielt. Und Sportphysiologen erkennt man bekanntlich an ihrer Eleganz auf dem Parkett.
Na dann!
Was die Ausdrucksweise angeht, gebe ich Ihnen recht, denn dieser von Ihnen zitierte Satz wirkt etwas "verschraubt. Aber wenn man die Bewegung sieht, stimmt die Beschreibung. Bewegungsabläufe zu beschreiben, ist äußerst schwierig, (möchte nur mal an Ihre eigene missglückte Beschreibung über Pausen erinnern). Der von mir zitierte Satz im letzten Kommentar stammt aus einem Buch über Spiraldynamik, dafür gibt es keinen Link, weil er noch nicht online ist.
LöschenEs gibt zahlreichen Links, einige hatte ich unter meinem Artikel schon veröffentlicht:
https://www.researchgate.net/figure/Ocho-Ocho-is-the-unique-motion-of-tango-that-is-in-the-shape-of-the-number-8_fig1_334694663
Doreen Wartmann (Tangodanza, 2022) – über konkrete Wirkung im Tango-Unterricht
„Dabei erweitern Übungen aus der Spiraldynamik Beweglichkeit und Körpergefühl, was sich positiv auf unser koordinatives Verständnis und unser Bewegungsspektrum auswirkt… was einen Tanz einfach nur besser macht.”
karin-engeli.ch
Spiraldynamik® Akademie – offizielle Tanz-Seite (allgemein Tanz, aber gut zitierbar im Tango-Kontext)
„Tanzen mit Spiraldynamik® – Technik trifft Körperintelligenz: Verbesserung von Haltung & Körperspannung, Optimierung der Bewegungsachsen & Balance …”
spiraldynamik.com
Tango-Pädagogin Susanne Opitz ("Tango Tanzen macht schön", Berlin) – praktischer Nutzen für „gesundes“ / „ökonomisches“ Bewegen
„Meiner 2009 begonnenen Spiraldynamik® Ausbildung verdanke ich ein unschätzbar wertvolles anatomisches Wissen, das mir hilft ein ‘gesundes’ und ‘ökonomisches’ Bewegen zu vermitteln.”
Habe den Satz etwas umformuliert, aber der Kern der Aussage bleibt:
Löschen"Der Ocho adelante wird oft als einfache Reihe von Vorwärtsschritten erklärt. Doch damit verfehlt man sein eigentliches Wesen. Ein Ocho entsteht nicht aus linearem Gehen, sondern aus einer diagonalen Drehung des Beckens in Richtung des Partners, während die Schultern parallel auf ihn ausgerichtet bleiben. Der Oberkörper hält die Verbindung, das Becken verschraubt sich diagonal, und dadurch öffnet sich der Weg für das freie Bein, das nur noch durch diese Spur gleitet. So verwandelt sich der scheinbare Vorwärtsschritt in eine spiralige Bewegung, die den Partner umschließt.
Didaktisch kann man den Ablauf wie eine Welle beschreiben: Zuerst weist der Blick die neue Richtung, dann folgt der Brustkorb, das Becken wickelt die Bewegung nach, und zuletzt setzt der Fuß in die vorbereitete Spur. Wer das so übt, merkt schnell: Der Schritt muss nicht „gemacht“ werden – er entsteht wie von selbst aus dem inneren Bewegungsfluss."
Dass Sie mit diesem Artikel allerdings einen spöttischen Artikel als Retourkutsche für meinen Kommentar über ihre unglückliche Formulierung über "Pausen" schreiben wollten, war mir schon klar. Aber meine Formulierung war schon sehr deutlich.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Na sehen Sie: Ohne meine Besprechung hätten Sie ihre ziemlich geschraubten Sätze so stehen lassen. Aber keine Angst, ich erwarte keine Dankbarkeit!
LöschenWenn ich meine Bemerkungen über Pausen unglücklich gefunden hätte, wäre mir längst eine Abänderung eingefallen.
Ich habe den Text aber so stehen lassen, da ich nachzudenken pflege, bevor ich etwas veröffentliche.
Na, dann bedanke ich mich aber trotzdem.
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