Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 22


Wirklich zur Musik zu tanzen ist gigantisch schwierig – gerade beim Tango, bei dem (außer in den Tandas traditioneller DJs) kaum ein Stück dem anderen gleicht. Wenn ich auf den Milongas gerade nicht auf dem Parkett aktiv bin, suche ich oft verzweifelt nach einem Paar, welches es wenigstens halbwegs hinbekommt. Ergebnis: so zwischen null und fünf Prozent.

Als ich kürzlich einer Tangofreundin wieder einmal mein Leid klagte, meinte die nur: „Was willst du machen? Viele hören halt die Musik nicht wirklich.“

Zumindest stückweise, so glaube ich aber, könnte man das Elend schon lindern, wenn man zum Hören erzieht. Daher habe ich nun eine Tangoaufnahme „durchbuchstabiert“. Damit man mir nicht mit „Untanzbarkeit“ oder „Unbekanntheit“ kommt, fiel meine Wahl auf einen Titel, den selbst Leute kennen, welche nie Tango tanzen: „La Cumparsita“, gespielt von einem ganz Großen der goldenen Jahre: Juan D’Arienzo. Zu dem Zweck müssten Sie sich den Klassiker allerdings mindestens ein Dutzend Mal anhören:

Wahrlich, die „alten Säcke“ waren schon Virtuosen und haben in ihre Interpretation hineingepackt, was ging: Dynamik, Rhythmus, Tempo – aber eben nicht nur.

Folgende Passagen sind unterscheidbar und sollten daher tänzerisch verschieden interpretiert werden:

0:10-0:19 Staccato, „treibend“, Vorwärtschritte

0:20-0:22 Vorsicht, Verzögerung!

0:23-0:29 Staccato, „treibend“, Vorwärtschritte

0:30-0:33 Vorsicht, Verzögerung!

0:34-0:36 Klaviersolo, auch Staccato, aber kleinere Schritte

0:37-0:46 Legato der Geigen, halbes Tempo, eher stationär (vielleicht Ochos o.ä.)

0:47-0:49 Stopps, auch im Tanz

0:50-0:55 wieder Geigen-Legato, eher stationär (vielleicht diesmal Drehungen)

0:56-0:59 Staccato-Zwischenspiel, stationär

1:00-1:04 Geigen-Solo, weiche, langsame Bewegungen

1:05-1:36 eher stationär tanzen, Konzentration auf die rhythmischen Impulse, dazu Solo-Beinaktionen der Tänzerin, dazwischen wieder Legato, fließend

1:37-1:43 Klaviersolo, kleine, stationäre Bewegungen

1:44-1:57 Mega-Dynamik, Solo-Beinaktionen, dazwischen wieder fließende Bewegungen

1:58-2:22 Bandoneón-Sechzehntel, sollte man auch so tanzen, am besten in Drehbewegung

2:23-2:56 Vorsicht, scharfer Kontrast durch Geigen-Legato, weich und fließend tanzen, halbes Tempo, zum Schluss Pause!

2:57-3:24 Klavier fördert treibenden Rhythmus, Vorwärtsschritte mittelschnell, kurze Verzögerungen  (vielleicht Cunitas)

3:25-3:45 Jetzt auf die Geige tanzen, halbes Tempo

3:46-3:50 Am Ende des Geigensolos Schwung holen für ein paar letzte, kräftige Schritte, Schlusspose klar vorhersehbar

Ganz schön viel Stoff, gell? Aber nicht verzweifeln: Für den Anfang wäre es schon prima, wenn Sie die einzelnen Abschnitte einigermaßen unterscheiden könnten. Was Sie dann genau dazu tanzen, ist Geschmack und Fähigkeiten überlassen. Schon daher wird hoffentlich klar: Für Rumprobieren an erst halb gelernten „Figuren“ ist überhaupt kein Platz – beschränken Sie sich auf Bewegungen, welche Sie „im Schlaf“ beherrschen!

„Vorschriften“ gibt es sonst keine: Wenn ich dieses Stück zehnmal tanze, entstehen sicherlich 11 Varianten. Mit der Zeit werden Sie aber merken: Bei musikalisch stimmigen Aktionen haben Sie plötzlich das Gefühl, die Musik treibe Sie „ganz von selber“ durch die Bewegungen. Warum? Weil’s halt passt!

Und wir diskutieren bitte nicht über Sekundenzahlen des Videos! Wann die nächste Passage beginnt, hört man doch, oder? Und ja: Beide Tanzende müssen es mitkriegen – wenn man dies nur dem Führenden abverlangt, wird es äußerst schwierig.

Was mir völlig klar ist: Vielen Lesern wird das Ganze zu mühsam sein. Gut, darf jeder selber entscheiden. Ich garantiere aber: Gerade Frauen unterscheiden glasklar zwischen Tänzern, die „okay“ sind und solchen, welche ihnen mal kurz den Himmel aufs Parkett holen. Auswahl verstanden?

Alternativ können Sie natürlich den 1,5 Stunden-Workshop „Zu D’Arienzo tanzen“ für 20 € belegen. Ob Sie dazu schriftliches Schulungsmaterial und ein Video erhalten wie auf „Gerhards Tango-Report“, dazu noch kostenlos, glaube ich eher nicht.

Oder Sie tanzen weiterhin auf „Förderschulmusik“ wie diese – ist schließlich auch „La Cumparsita“

Kommentare

  1. Dankenswerterweise hat Thomas Kröter meinen Text gestern auf seiner Facebook-Seite geteilt. Mein Kritiker Christian Birkholz hat nun dort zur „Cumparsita“ des Orquesta Tipica Victor (siehe oben) vermeldet, er finde die Einspielung „gar nicht so primitiv wie angedeutet“. Da der Herr es tunlichst vermeidet, auf meinem Blog zu kommentieren, da er mein Forum nicht noch bekannter machen möchte, erlaube ich mir, aus seiner musiktheoretischen sowie weinwissenschaftlichen Expertise zu zitieren:

    „Seine Stufendynamik lädt mich dazu ein, die Intensität und Energie meiner Schritte variabel zu gestalten. Die Geige verführt mich, mit ihr zusammen inne zuhalten, während der Rhythmus weitergeht, bis ich wieder mit der Geige lostanzen möchte. Es sei denn, die Tanzpartnerin macht den subtilen Vorschlag doch schon in den Rhythmus einzusteigen. Es gibt Accelerandi, es gibt Ritardandi. Außerdem findet man hier auch die berühmt-berüchtigten Synkopen welche oft als Garant für anspruchsvolle Musik dargestellt werden. Ich meine sogar in den Sechzehnteln so etwas wie Mikrosynkopen zu vernehmen.
    Vielleicht ist es wie bei Wein. Ein Gourmand versteht nicht warum man 80€ + für einen zehn Jahre alten Barolo ausgeben sollte wo doch der gute gechipte Amerikaner so prächtig nach Holzfass schmeckt. Wenn man sich aber einen Abend Zeit und Muse nimmt wird man hinter der langweiligen Fassade, wenn man fein hin hört, die wunderbarsten Nuancen und Aromen entdecken und ähnlich glücklich ins Bett gehen wie nach einer gelungenen Cumparsita mit dem OTV.“

    Solche Varianten von „Des Kaisers neue Kleider“ durfte ich schon öfters lesen. Man müsse eben genauestens hinhören, um die „Feinheiten“ der alten Musik zu erkennen – oder, wie der Schweizer Tangoexperte Christian Tobler vor Jahren behauptete, eine sauteure Wiedergabetechnik verwenden. Ich frage mich nur, wieso Beethovens Neunte sogar auf einem Tchibo-Recorder ihre Wirkung entfalten kann…

    Mir fällt dazu immer der Spruch eines österreichischen Musikers ein: „Unser Tenor singt a Pianissimo, des hod übahaupt no kaaner g’hert.“

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  2. Gar sooo schlimm finde ich die "Förderschulmusik" auch wieder nicht, allerdings kann sie mit der D'Arienzo-Aufnahme (in der "Tanzbarkeit") natürlich nicht mithalten. Und wenn der ganze Abend nur aus solcher Musik besteht, wird sie vollständig untanzbar (nach meiner Definition: "untanzbar" ist eine Musik, wenn ich nicht dazu tanzen will(!) ;-) ).

    Deine "Passagen" der D'Arienzo-Aufname habe ich jetzt nicht gegengeprüft, ich tanze meist tatsächlich rein intuitiv. Ratio auf Standby, die "darf" noch "Wegefindung und -optimierung" betreiben, damit sie nicht in den Tanz reinpfuscht, und Emotionalität und Intuitivität auf 150% hochtreiben ... (sofern, naja, mich die Musik dabei unterstützt ...).

    Zum Thema "Man müsse eben genauestens hinhören, um die „Feinheiten“ der alten Musik zu erkennen": mich wundert immer wieder (wie auch z.B. in dem letzten Artikel von Cassiel) dass die Fans der alten Schrammels einerseits immer vertreten, dass die Musik auf den Milongas "tanzbar für alle" zu sein hätte (weshalb sowas Schwieriges wie Piazzolla überhaupt nicht ginge, sondern halt nur das "Förderschulniveau"), und andererseits dann von den Tänzern gefordert wird, sich erst mal langwierig in die "Feinheiten der Musik" einzuarbeiten, damit diese dann auch korrekt "vertanzt" werden können.
    Naja, mein Zugang zum Tanzen ist (wie oben geschrieben) halt ein anderer ...

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    1. Vielen Dank, ich sehe das ähnlich.
      Ich glaube auch nicht, dass man musikalisches Tanzen wirklich im üblichen Sinn erlernen kann - neben viel Begabung und Intuition gehören Automatismen dazu, die sich erst in jahrelangem Tanzen ausbilden.
      Aber man kann anfangs schon ein paar Tipps zu den Strukturen eines Stückes geben - damit viele die erstmal hören. Der Rest ist dann Entwicklungssache.

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