Man heult sich einen Wolf


Als ich gestern mit meiner Frau über den Rückzug von Annegret Kramp-Karrenbauer sprach, meinte sie:

„Da müssten doch vorher ganz andere zurücktreten, zum Beispiel…   was der alles verbockt hat.“  (Name aus juristischen Gründen weggelassen)

„Wird er aber nicht tun“, meinte ich.

„Ja, wieso denn nicht?“

„Weil die CDU-Vorsitzende intelligent ist und hohe Ansprüche an ihre Leistung hat. Wenn sie dann Fehler macht, geniert sie sich. Der … hingegen ist ein Mann. Da tritt man schon mal nicht  zurück, von wegen Rangordnung. Was erschwerend hinzukommt: Er ist ein Depp. Das weiß er, da man es ihm seit seiner Kindheit oft genug gesagt hat. Also geniert er sich nicht, wenn er was versaubeutelt. Das ist für ihn normal.“

Diese Erkenntnis hat bei mir schon länger zu einer großen Skepsis in Hinsicht auf ein aktuelles gesellschaftliches Mantra geführt: Man muss heute ja über alles lang und breit diskutieren, „im Dialog bleiben“. Gut, dass wir mal drüber geredet haben! Nur: Es bringt nichts, wenn die Motive des anderen übermächtig sind – und natürlich rein gar nichts mit seiner offiziellen Argumentation zu tun haben.

So muss ich bei Alpha-Männern wie dem Thüringer FDP-Fast-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich immer lachen, wenn sie treuherzig versichern, sich „der Verantwortung stellen“ zu wollen. Wenn dann ein politisches Beben durch die Republik geht, fühlen sie sich dafür schon mal nicht verantwortlich.

Die wahre Motivation für ein solches Amt dürfte eher darin bestehen, dass man dann in einem fetten Dienstwagen mit Fähnchen vorn dran sitzt, nicht mehr selber fahren muss, überall mit „Herr Ministerpräsident“ angeredet wird und jemanden hat, der einem die Aktentasche hinterherträgt. So einfach ist das.

Ähnliches wird wohl auch den FDP-Chef Christian Lindner dazu bewogen haben, die Wahl Kemmerichs zunächst für gar nicht schlecht befunden zu haben. Immerhin der zweite liberale Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik (der erste war 1945-1952 Reinhold Maier im damaligen Württemberg-Baden, der 1933 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte). Wahl durch die AfD? Können wir doch nichts dafür!


Erst als sich tausende Demonstranten vor den FDP-Parteibüros versammelten, kam der Umschwung. In einem der peinlichsten Interviews, das ich kenne, durfte dann die Generalsekretärin der Partei, Linda Teuteberg, den Umfall begründen:



Auch hier gilt wieder: Sie glaubt natürlich selber kein Wort von dem, was sie sagt. Aber sie weiß: Wenn sie bekennt, dass ihr Chef Bullshit verzapft hat, ist sie die längste Zeit in diesem Amt gewesen.

Diesem Mechanismus begegnet man immer wieder in fast beliebigen Bereichen: Du kannst es nicht fassen, warum dein Gegenüber unverrückbar an nachweislichem Schwachsinn festhält und alle wirklich überzeugenden Argumente schlicht ignoriert. Dabei ist die Erklärung ganz einfach, aber desillusionierend: Weil es um diese inhaltlichen Erwägungen gar nicht geht. Den anderen treiben völlig sachfremde Motive. Und die sind für ihn derart existenziell, dass er vermutlich selber an seine Behauptungen glaubt.    

Womit wir beim Tango wären:

Stellen wir uns einmal vor, der größte deutsche Tanzlehrerverband (ADTV) hätte vor 20 Jahren verkündet, es gebe lediglich vier wirklich herausragende Tanzorchester, nämlich die 40-er Jahre-Ensembles Dajos Béla, Barnabás von Géczy, Juan Llossas und Marek Weber. Nachweislich begeisterten die damals Millionen von Tänzern! Weiterhin habe man bei den Tanzabenden in Serien zu drei bis vier Stück (natürlich vom selben Ensemble) plus andersartiger Zwischenmusik aufzulegen und nur mehr per Blickkontakt aufzufordern. Und natürlich die neuen „Tanzspur-Verordnungen“ strikt zu befolgen und hohe Beinaktionen zu unterlassen.

Ich fürchte, der Herausgeber einer solchen Botschaft wäre umgehend in eine geschlossene Therapiestation verbracht worden. Im Tango hingegen ist das gelungen und heute durchaus mehrheitsfähig.

Wir lernen daraus: Auf Inhalte kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass man eine Massenbewegung für oder gegen etwas hinbekommt. Dann tritt sogar ein Herr Kemmerich zurück – oder man glaubt, dass es im Tango schon immer feste Traditionen gegeben habe. Beziehungsweise die Hexen an allen Krankheiten schuld seien, die Erde das Zentrum des Universums bilde, Homosexualität kriminell oder die FDP liberal sei.

Tanzbare Stücke von Piazzolla? Nein, da will man lieber nicht durchs Fernrohr auf die Jupiter-Monde sehen – Brecht und Galilei lassen grüßen…

Ob es sich um Gold, Butter oder Scheiße handelt: Hunderttausend Fliegen können nicht irren.

Daher werde ich auch die Mär, ich mache in meinem Blog alles schlecht, nicht wegbekommen. Dort stehen derzeit 67 Playlists mit tendenziell moderner Tangomusik. Lange habe ich mich gewundert, darüber mit kaum einem DJ ins Gespräch zu kommen: So richtig sachlich – wieso eine bestimmte Aufnahme gut oder schlecht, mehr oder weniger zum Tanzen animierend sei.

Es gibt sehr vereinzelte Ausnahmen, aber auch bei denen merke ich manchmal den Druck, unter dem man steht: So bat mich neulich ein eher traditionell auflegender Kollege nach geeigneten Stücken der Tangosängerinnen aus der Zeit von 1960 bis 2000. Als ich ihn auf mein Blog verwies, fand er – einen männlichen Sänger! Über diese Freudsche Fehlleistung kann man länger grübeln:

Ich fürchte, man darf in diesen Kreisen halt nichts Positives zur Tangomusik nach Ende der EdO finden. Nicht, weil es dies nicht gäbe, sondern, da man sonst die begehrten DJ-Gigs sehr schnell loswürde. In der Szene steigt die Zahl der potenziellen Aufleger rapide, der Verteilungskampf ist hart. Ideologische Abweichungen kommen da gar nicht gut an.

Vom sonstigen sozialen Druck ganz zu schweigen. Den Missachtungs-Mechanismus kenne ich aus eigener Erfahrung sehr gut. Und man möchte ja weiterhin zum stimmungsvollen Encuentro-Urlaub nach Barcelona oder Montezuma eingeladen werden. Und auf die vielen „Tango-Freunde“ nicht verzichten… Also heult man sich einen Wolf.

Wie nicht anders zu erwarten, färbt das auf die Neo-Szene ab. Dort sollte man nicht zu viel Tango auflegen, um weiterhin der Gnade teilhaftig zu bleiben. Und die guten Gigs sind da noch rarer.

Wie ich gerade erst wieder erfahren durfte, kommt ein individueller Standpunkt auf beiden Seiten nicht gut an. Mein satirischer Lieblingsbegriff „Gedudel“ für mich nicht animierende Musik wird da wie dort nicht gerne vernommen. Und wenn man sowohl über den konservativen Zeitlupen-Tanz als auch die ekstatischen Verrenkungen in der Contango-Szene abzulästern wagt, verliert man weitere Freunde.

Mir fällt dabei ein Erlebnis ein, das mir schon als etwa 18-Jähriger zu denken gab. Ein Freund überredete mich zum Besuch eines „Underground-Konzerts“. Die gebotene Musik war tatsächlich – na ja, sehr experimentell. Unglaublich, was man unter Missbrauch von Schlagwerk, Sitars und chinesischen Reisschalen alles an Klängen erzeugen kann! Da mein Kumpel und ich dort vermutlich zur nicht bekifften Minderheit gehörten, machten wir uns im Verlauf des Abends den Spaß, durch Pfeifen auf unseren teilweise gefüllten Bierflaschen etwas zur Katzenmusik beizutragen. Ein Klassenkamerad aus der Hippie-Fraktion kam schließlich zu uns und sprach einen Satz, über den ich heute noch lachen muss:

„Der Underground murrt bereits.“

Das ist wohl immer noch so. Wie man aber derzeit die Musik auf manchen Milongas ohne den Genuss von Joints ertragen kann, ist mir ein Rätsel! Darüber nur zu reden dürfte allerdings vergeblich sein. 

Kommentare

  1. Hat jetzt nicht so viel mit Tango zu tun...aber beim Teuteberg-Interview habe ich mich schon gefragt, ob die Interviewerin immer so aggressiv drauf ist. Wie ich auch bei vielem bisher dachte, super Ding für die AfD, die Solidarität der Demokraten so vorzuführen - alle fallen hysterisch übereinander her. Hauptsache man kann der politischen Konkurrenz ordentlich einen einschenken.

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  2. Da stimme ich weitgehend zu. In Thüringen beispielsweise blamiert sich derzeit fast die ganze politische Klasse.
    Was das Interview betrifft: Der "konfrontative" Journalismus ist halt derzeit schwer in Mode. Dass der Politiker als Folge meistens dichtmacht und man gar nichts aus ihm herauskriegt, wird nicht bedacht.
    Was mich hier amüsiert hat: Jedem war klar, dass Lindner Mist gebaut hatte - natürlich auch seiner Generalsekretärin. Sie glaubte aber, es nicht zugeben zu dürfen.

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