Gerhard Riedls garantiert unanonymes Blog zum Tango argentino
Ein Hurz auf den Tango!
„Das
ganze Leben ist ein Quiz,
und wir
sind nur die Kandidaten.“
(Hape
Kerkeling)
In
meinem vorigen Artikel wagte ich abschließend einen Vergleich der
Interpretationen des bekannten Tangos „La
Cumparsita“ – einmal gespielt vom Orchester Juan D’Arienzo, in der anderen Fassung vom Orquesta Tipica Victor. Ich deutete zart an, letzere sei halt
musikalisch viel einfacher – um nicht zu sagen: simpel und daher natürlich
ungleich leichter zu tanzen. Allerdings auch weit langweiliger.
Wieder
einmal wurde mir die Belehrung zuteil (siehe dort im Kommentarbereich), einer verfeinerten Zunge (bzw. Ohr)
erschlössen sich gerade bei der von mir geschmähten Version ungleich genussvollere Momente, um einen schönen Tanzabend noch
einmal in schöner Verbindung mit der Última-Tanda-Tanzpartnerin ausklingen zu
lassen (bei einer Cumparsita ja mehr als wahrscheinlich). Selbst „Mikrosynkopen“ vermeinte der Kritiker darin zu vernehmen (ob man
die mit Antibiotika wegbringt, ist mir
leider nicht bekannt). So könne man hinter der langweiligen Fassade, wenn man fein hinhöre, die
wunderbarsten Nuancen und Aromen entdeckenund sodann
glücklich mit der Muse ins Bett gehen (oder so ähnlich).
Hier der Original-Kommentar:
„Seine Stufendynamik lädt mich dazu ein, die Intensität und Energie
meiner Schritte variabel zu gestalten. Die Geige verführt mich, mit ihr
zusammen inne zuhalten, während der Rhythmus weitergeht, bis ich wieder
mit der Geige lostanzen möchte. Es sei denn, die Tanzpartnerin macht den
subtilen Vorschlag doch schon in den Rhythmus einzusteigen. Es gibt
Accelerandi, es gibt Ritardandi. Außerdem findet man hier auch die
berühmt-berüchtigten Synkopen welche oft als Garant für anspruchsvolle
Musik dargestellt werden. Ich meine sogar in den Sechzehnteln so etwas
wie Mikrosynkopen zu vernehmen."
Nachdem ich mir (gegen den ausdrücklichen Rat meines
Psychotherapeuten) die Version des Studioorchesters
der Plattenfirma Victor nun einige Dutzend Male angehört habe, muss ich
gestehen: Doch ja – da ist was dran. Man muss sich lediglich von einem Experten sagen lassen, was man hören soll. Diese Erkenntnis hat nun
mein Kunstverständnis revolutioniert.
Damit
ich die sattsam bekannten Musikdebatten im Tango nicht weiter befeuere, habe
ich mich dem deutschen Liedgesang zugewandt und mich durch Beispiele des „Lindenbaum“ aus Wilhelm Müllers und Friedrich Silchers „Winterreise“, vertont von Franz Schubert, gearbeitet.
Hören wir zunächst eine Version, die beim
Laienpublikum aus nicht ganz verständlichen Gründen immer wieder gut ankommt:
Nach
meinem (inzwischen Tangoexperten-geschultem) Geschmack wirkt die Darbietung elitär-abgehoben, was sich schon an der
affigen Abendkleidung der Akteure (die
Herren Brendel sowie Fischer-Dingsbums) zeigt – weiß doch jeder rechtgläubige
Tangotänzer, dass man auf Außenwirkung
völlig verzichten sollte. Das Timbre des Sängers gerät zeitweise schwülstig, die Variationen der Tempi unnötig aufgesetzt und kaum tanzbar, die Lautstärke unregelmäßig.
Zudem
beschreibt ja wohl der Text eine ländliche Naturszene
und mutet durch den Transfer in eine opulente Studioatmosphäre unglaubwürdig an.
Ganz
anders im zweiten Beispiel: Hier ist schon einmal der Personalaufwand um 50 Prozent reduziert. Weiterhin bekommen wir
zunächst eine Einführung in das
Werk, während die Akteure in der ersten Variante wohl arrogant davon ausgehen, dass
jeder das Stück kenne. Insbesondere lässt aufhorchen, dass die „Winterreise“ eher zum Herbst passe.
Auf
jeden Fall wirkt der Sänger freundlich zugewandt und kleidungsmäßig leger, was
ja auch weit besser zu den Naturmotiven im Text passt. Die Dekoration ist
schlicht und glaubwürdig, vermittelt aber durch den Funkengenerator im
Hintergrund durchaus Spannung.
Der Vortrag schließlich gerät eingängig,
frei von pathetischem Schwulst und ist von gleichbleibendem Rhythmus, was die
Aufnahme bestens tanzbar macht:
Bevor
nun selbst meine Fans vermuten, ist sei völlig verrückt geworden: Nein, war
reine Satire! Selbstredend liegt
zwischen dem Bänkelsänger und dem legendären Duo Dietrich Fischer-Dieskau und Alfred
Brendel mindestens der Abstand wie zwischen OTV und D’Arienzo.
Allerdings
muss ich mir solche Argumentationen seit Jahren anhören: Lobt man das elaborierte Arrangement eines (oft
modernen) Tangoensembles, so heißt es zunächst: Ja, tolle Konzertmusik, aber nix
zum Tanzen: Weist man das Gegenteil nach, wird man belehrt, man höre die
feinen Nuancen der historischen Rauschgold-Versionen halt nicht. Die seien ja
viel interessanter.
Ja
klar – „Des Kaisers neue Kleider“
lassen grüßen: Nur Kluge können sie sehen…
Man
kann dem werten Publikum gequirlten Mist
also durchaus als hohe Kunst verkaufen –
falls man mit der „Experten-Mimikry“
arbeitet und Ungläubigen notfalls unterstellt, sie wären halt zu blöd, den
ästhetischen Anspruch zu kapieren. Und wenn das Produkt dann noch aus fernen Ländern stammt, kann Otto
Normalverbraucher eh nicht mitreden – sind ja fremde Kulturen, welche sich nur
weitgereisten Propheten erschließen.
In
der legendären Kabarett-Nummer „Hurz“ haben uns Hape Kerkeling und Achim
Hagemann dies glänzend bewiesen, indem sie „echtes“ Publikum mit tränentreibendem musikalischem Schwachsinn
traktierten – und dafür anfangs sogar Applaus erhielten und ernst genommen
wurden. Sie haben die Situation aber rasch aufgelöst. Im Tango dauert die
Verarsche nun schon viele Jahre…
Übrigens kommen die Lacher aus dem
Studiopublikum der preisgekrönten Sendefolge „Total normal“ – die Konzertbesucher blieben weitgehend ernst:
P.S.Mich kostete die Suche nach einer „Trash-Version“ des „Lindenbaums“ eine geschlagene
Stunde. Wie traditionelle Tango-DJs eine ganze Playlist dieser Art in viel
kürzerer Zeit hinbekommen, ist mir weiterhin ein Rätsel.
In diesem Sinne: Hurz!
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