Im Zeitalter des Empörialismus


Kürzlich stieß ich auf ein Interview mit dem Pädagogen und Autor Philipp Möller, der längere Zeit als Praktikant im deutschen Bundestag verbrachte und über seine Erfahrungen ein Buch schrieb: „Isch geh Bundestag".

Schuld war seine Tochter:

„Weil ich davon ausgegangen bin, dass die Erde mit Höchstgeschwindigkeit auf den Untergang zusteuert. Mit der zermürbenden Frage, in welcher Welt meine Kinder und Enkel mal leben sollen, bin ich angesichts von Flüchtlings-, Demokratie- und Klimakrise schließlich nicht alleine. Also habe ich meiner Tochter versprochen, mit den Politikern zu schimpfen, weil sie nichts dagegen tun, dass die Welt immer schlechter wird.“

Nach der Praktikantenzeit  hatten sich seine Einstellungen deutlich geändert:

„Ich musste peu à peu anerkennen, dass die wichtigste These meines Buches, dass die Welt immer schlechter wird, komplett falsch ist. Denn auch wenn es heute immer noch jede Menge Probleme gibt, entwickeln sich sehr viele Zustände eindeutig positiv – von Armut über Hunger bis zu Kriegsopferzahlen, die allesamt sinken. Dank gezielter Bemühungen wird die Welt also immer besser und zugleich erleben wir in vielen Industrieländern hysterische Zeiten.“

Schlimmer noch: Die Klima-Ikone Greta Thunberg sieht er inzwischen als „Führerin einer rasant aufstrebenden Säkularreligion":

„Die Parallelen zwischen Teilen der FFF („Fridays for Future“) und klassischen Religionen sind offensichtlich: Die heilige, unbefleckte Mutter Natur gilt als Gottheit, an der sich der Mensch als Umwelt-‚Sünder‘ vergeht, woraufhin diese Gottheit zornig wird und sich in Form von Ressourcenkriegen und Heißzeitszenarien mit der Apokalypse zu rächen droht.“

Möller verwendet einen umfassenden Begriff des Philosophen Michael Schmidt-Salomon:

„Im Empörialismus, (…) zählt nicht die Güte eines Arguments, sondern das möglichst laute und empörte Bekenntnis, auf der ‚richtigen Seite‘ zu stehen – die natürlich beide Extrempositionen für sich beanspruchen. Wer nun bei den FFF religiöse Tendenzen feststellt oder ihre Forderungen als moralistisch und unwirksam erklärt, wird von ihnen sofort im gegenüberliegenden Lager verortet.“

Das wäre schade: Philipp Möller leugnet nicht die Gefahren des Klimawandels, meint aber, dass ihn die Menschheit durch technische Verbesserungen in den Griff kriegen könne – so wie frühere Probleme, beispielsweise Luftverschmutzung, Waldsterben oder Gewässerbelastung. Einen Grund jedoch, deswegen die Apokalypse auszurufen, sieht er nicht.

Michael Schmidt-Salomon hat zum übergeordneten Thema ein lesenswertes Buch herausgebracht: „Die Grenzen der Toleranz - Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen“.

Einige Zitate aus dem Vorwort: 

„Demagogen feiern mit halben Wahrheiten ganze Erfolge. Um sie zu stoppen, muss man ihnen recht geben, wo sie recht haben, und sie dort kritisieren, wo sie die Wirklichkeit verzerren. So löscht man das Feuer, auf dem sie ihr ideologisches Süppchen kochen.“

„Auf der ‚richtigen Seite‘ zu stehen und ‚aufrichtig empört‘ zu sein zählt oft mehr als die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen. Empörialisten haben den öffentlichen Raum so sehr mit moralischen Killerphrasen besetzt, dass eine rationale Debatte kaum mehr möglich erscheint. ‚Stimmung statt Argumente!‘ heißt die Devise, deren Folgen man in den sozialen Netzwerken beobachten kann. Wer auf die Gefahren des politischen Islam hinweist, wird im Handumdrehen als ‚Rassist‘ abgestempelt; wer aufzeigt, dass nicht alle Muslime vom Dschihad träumen, als ‚unverbesserlicher Gutmensch‘ vorgeführt.“

„Polarisierung ist ‚in‘. Und so sehen wir uns zunehmend mit ‚Alternativen‘ konfrontiert, die allenfalls die Wahl zwischen Pest und Cholera erlauben.“

„Schon ein kurzer Blick in die Geschichte verrät, dass sich Mehrheiten ebenso irren können wie Minderheiten. So wähnten sich die Menschen vor 500 Jahren mehrheitlich noch im Mittelpunkt des Universums (viele tun dies heute noch!) und ächteten jeden, der (…) das Gegenteil behauptete. Noch vor 100 Jahren glaubten sie, ihre Kinder ausgerechnet dadurch fördern zu können, dass sie sie ordentlich züchtigten. Die Tatsache, dass eine Überzeugung von 90 Prozent der Gesellschaftsmitglieder geteilt wird, sagt nichts darüber aus, ob sie in irgendeiner Weise vernünftig ist.“

Die Grenzen der Toleranz setzt der Autor so:

„Wir dürfen den Feinden der offenen Gesellschaft ganz gewiss nicht die Freiheit geben, die Fundamente der Freiheit zu untergraben. Deshalb müssen wir aufhören, Toleranz und Respekt nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen.“
Noch ein schönes Beispiel für Empörialismus:

2016 entfachte die 26-jährige Berliner CDU-Senkrechtstarterin Jenna Behrends durch einen offenen Brief eine Sexismus-Debatte in ihrer Partei. Anlass: Unziemliche Äußerungen des damaligen CDU-Innensenators Frank Henkel am Rande eines Parteitags. Unter anderem begrüßte der zunächst die Tochter der Jungpolitikerin mit den Worten: „Oh, eine kleine süße Maus“. Anschließend fuhr er mit Blick auf die Mutter fort: „Und eine große süße Maus“.

Die CSU-Politikerin Katrin Albsteiger kommentiert das wie folgt:

„Wir empören uns mal wieder. Dieses Mal über den ‚Sexismus‘ der CDU. Meine Meinung dazu: Viele Einzelfälle, die uns als ‚Sexismus‘ präsentiert werden, halte ich hier schlicht für falsch abgelegt. Diagnose: kein Sexismus. Das meiste, was in diesem Zusammenhang ins Feld geführt wird, könnte man unter den Stichworten ‚unpassende Bemerkungen‘, ‚missglückte Komplimente‘ oder auch ‚schlechtes Benehmen‘ verbuchen. 

Die Sprachpolizisten sind indes vor allem daran interessiert, prinzipiell alle verbalen Fehltritte unter ‚Sexismus“ zu subsumieren. Warum? Weil sie auf diesem Gebiet die Deutungshoheit haben. Solange es sich nur um Kommunikationsprobleme oder ‚Gossensprache‘ (F-Wort) handelt, könnte man noch den allgemeinen Sprachverfall beklagen. Handelt es sich aber um ‚Sexismus‘, ist der Teil des politischen Spektrums zuständig, der so gerne die Empörungsmaschinerie bedient – los geht der ‚Aufschrei‘.

Wir sind im Zeitalter des ‚Empörialismus‘ – in dem einem mittels blitzartiger, großflächiger Aufregung bei Untergrabung argumentativer Tiefe eine Agenda aufgezwungen wird. Aus individuellen Kommunikationspannen eines Politikers wird dann ein ‚gesellschaftliches Phänomen‘, gerne auch ein ‚politisches Phänomen‘, konstruiert.

Ich meine, auch im Mikrokosmos des Tango ist der Empörialismus an der Tagesordnung: Man hat entweder ein bedingungsloser Anhänger der historischen Tanzmusik zu sein oder sich ausschließlich dort wohlzufühlen, wo stundenlange Pop-Etüden nun wirklich jeden Gedanken an Tango vertreiben. Obwohl ich immer wieder betone, durchaus auch manchen alten Stücken etwas abgewinnen zu können und Non-Tangos eher als feine Würze denn als Hauptgericht zu goutieren, stellt man mich oft in die Ecke des fanatischen Traditionsgegners.

Aufschlussreich auch die Reaktion der Empöreria, wenn einer auf der Piste mal aus der Reihe tanzt: Geltungssucht, Rücksichtslosigkeit, mangelnder Respekt, Verletzungsgefahr! Vor einiger Zeit las ich die folgende Ansicht eines solchen „Tango-Wutbürgers“: Er fühle sich schon belästigt, wenn er überhaupt seine Umgebung im Blick haben müsse – schließlich wolle sich ausschließlich auf seine Partnerin konzentrieren. Wer ist da eigentlich der Egozentriker?

Die Wortwahl ist entsprechend: Relativierungen gelten als unmännlich – da wird verbal geholzt, was das Zeug hält: „Tango-Emanzen“? Wollen jetzt die Weiber in Kittelschürze und Gummistiefeln tanzen? Weg damit! Verbal-Aufforderer? Am besten ins Gesicht spucken!

Und beim strengen Reglement der Códigos gibt es kein „sowohl als auch“: Wer sich nicht sklavisch dran hält, sei verdammt, für und für!

Wie schreibt Michael Schmidt-Salomon im Vorwort seines Buches?

„Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass Gesellschaften, die jede Abweichung von der Norm bestrafen, zu kulturellem Stillstand verdammt sind. Zumindest ein Teil der Menschheit hat daraus eine Lehre gezogen.“

Stimmt – nur ein Teil. Die Taliban aller Couleur nicht.

P.S. Ein überaus interessantes Interview mit Philipp Möller:

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