Milonga-Sterben?


Der ominöse Begriff wird in der Tangoszene immer wieder einmal beschworen – gerade im Zusammenhang mit Encuentros und anderen Großveranstaltungen, zu deren Besuch eine beträchtliche Zahl von Tanzenden weite Fahrten und hohen Finanzaufwand in Kauf nimmt.

Kommt es dadurch zu einer „Verödung“ der lokalen Milongas – auch qualitativ, da sich die Super-Tänzer dort kaum noch sehen lassen?

Schon 2014 schrieb der Schweizer Tango-DJ und Veranstalter Christian Tobler in einem bemerkenswerten Artikel über die Encuentro-Szene:     

„Es gibt genug Tänzer, die mehrmals pro Monat irgendwo in Europa so ein Event besuchen und in ihrer lokalen Szene immer weniger anzutreffen sind. Persönlich kann ich diese Tänzer sehr gut verstehen. (…)
Allerdings kann unter deren Reiselust deren lokale Szene leiden. Denn wenn diese meist zu den besseren Tänzern gehörenden an Milongas ihres Wohnorts kaum noch vertreten sind, verlangsamt das die Entwicklung der Szene. Irgendwann kann das Niveau in einer lokalen Szene dermaßen leiden, dass für Encuentro-routinierte Tänzer lokal nur noch totale Abstinenz in Frage kommt.“

Ich habe mir nun genügend Videos solcher Veranstaltungen angesehen und meine daher: Es stimmt schon, dass man dort kaum Leute sieht, die über höchst beklagenswerte tänzerische Mängel verfügen – während dies auf manchen örtlichen Milongas auf die Mehrzahl zutrifft. Routiniert wird bei Encuentros ein sehr reduzierter Tanzstil abgespult, der in Wesentlichen dazu dient, sich bei stockender Ronda auf der Stelle sowie engstem Platz zu bewegen. Und eine sehr eingeschränkte Musikauswahl garantiert den Schutz vor stilistischer Vielfalt.

Halten wir es mit der Liberalitas Bavariae: Für den, der’s mog, is des as Höchste.

Wenn aber solche Tanzende, diese Art von Musik auf den lokalen Milongas fehlen, kann ich mit diesem Verlust sehr gut leben. Den „Spaßfaktor“ dort erhöhen eher lockere und aufgeschlossene Menschen – mögen sie denn auch tanzen wie Quasimodo.

Der Zustrom neuer Interessenten beim Tango hängt (wie in vielen anderen Bereichen) vom öffentlichen Bild dieses Tanzes ab. Veranstaltungen, die oft nur Eingeweihten überhaupt bekannt sind und zu denen es strenge Zugangsbeschränkungen gibt, haben in etwa die Werbewirksamkeit einer Freimaurerloge.

Aber gibt es denn wirklich ein „Milonga-Sterben“?

Unser Wohnort liegt ja ziemlich in der Mitte zwischen München, Nürnberg, Augsburg und Regensburg. Und noch vor sechs Jahren mussten wir uns weitgehend dorthin bemühen, um auf Milongas tanzen zu können. Im Schnitt sind das 150 km Gesamtfahrstrecke – wir saßen also an die zwei Stunden im Auto. Näher gelegene Tanzgelegenheiten gab es zwar immer mal wieder (fallweise auch von uns organisiert), aber bis auf den „Tango de Neostalgia“ in Freising war deren Lebensdauer begrenzt – aus verschiedensten Gründen hielten die Veranstalter nicht lange durch. Größere Events wie Festivals und Livemusik waren rare Erscheinungen.

Heute gibt es allein in Ingolstadt mindestens einmal pro Woche die Möglichkeit, Tango zu tanzen – Sondertermine (oft mit echten Musikern) nicht mitgerechnet. Und auch im sonstigen Umland tut sich einiges. Im Schnitt müssen wir vielleicht 90 km weit fahren, sitzen also nur eine gute Stunde im Auto. Tangobälle und andere Großveranstaltungen gibt es wie Sand am Meer – nicht zu reden von Kursen, Workshops, Kleider- und Schuhverkauf, Tangoreisen und vielem mehr.

Sicherlich ist die Fluktuation nach wie vor groß: Der Tango lockt immer wieder Leute an, die mit ihm eine schnelle Mark machen wollen, ohne allzu viel davon zu verstehen – und Zeitgenossen, die außer einem grenzenlosen Optimismus nicht viel zu bieten haben. Das geht in den seltensten Fällen gut.

In der mir ganz gut bekannten Münchner Szene habe ich in all den Jahren viele Sternschnuppen leuchten und verglühen sehen – daneben haben aber auch einige durchgehalten, die mit einem langen Atem, realistischen Einschätzungen und vor allem großen Fachkenntnissen gesegnet sind. Ob mir ihre sonstigen Geschmäcker und Eigenheiten gefallen oder nicht: Qualität setzt sich meist durch.

Was ich allerdings durchaus beobachte, ist eine um sich greifende Stagnation. Der große Hype, an den man lange Jahre gewöhnt war, ist vorbei – und mancherorts übersteigt durch die ständigen Neugründungen das Angebot sicherlich die Nachfrage. Und von Experten wie der deutschen Encuentro-Erfinderin Melina Sedó höre ich, dass auch die Nachfrage bei derartigen Events eher schwächelt.

Vielleicht sollten wir uns einmal daran erinnern, was den deutschen Tangoboom Ende der 1980-er Jahre ausgelöst hat: Es waren die durch Europa ziehenden Shows mit der Musik von Astor Piazzolla, mit Ensembles wie dem Sexteto Mayor. Die Magie dieser Tänze machte den Tango anziehend für alle Altersgruppen. Mag schon sein, dass in der Folge den Lernenden zu viele Bühnenfiguren angedreht wurden – aber dieses Problem löst sich relativ schnell, wenn es mit der eigenen Begabung kollidiert. Doch Dynamik und Leidenschaft sind eben höchst sexy – und diese Urgewalt lockte bis in die 2000-er Jahre hinein die Menschen massenhaft zum Tango.

Dann begann das, was ich die „Kastration des Tango“ nenne: Moderne, suggestive Rhythmen wurden durch oft öde plempernde alte Aufnahmen ersetzt, um es gerade der reiferen (und zahlungskräftigeren) Generation zu ermöglichen, den Tango trotz Arthrose und Hüftgelenksprothese tänzerisch umzusetzen. Da unsere Gesellschaft immer älter wird, rentierte sich dies wirtschaftlich durchaus.

Ich habe bereits vor knapp vier Jahren eine Blues-Kneipe beschrieben, in deren hinterem Bereich gelegentlich Milongas stattfinden:   

Ich rate jedem Tangoveranstalter, einmal (zumindest im Geiste) mit einer Gruppe junger Erwachsener (oder gar Teenager), die den Tango nicht kennen, den Weg vom Parkplatz bis zu ihrem Tanzsaal zurückzulegen und die Testpersonen hinterher zu fragen, was sie dabei empfunden hätten, als sich die Milongatür öffnete. Und ob sie denn nun Tango lernen wollten?

Mir jedenfalls erscheint es oft so, als hätte ich einen Gefrierschrank aufgemacht: Zu leicht verzerrtem, jammervollen Bandoneón-Gequäkse drehen einige wenige ernst dreinblickende Paare im Opa-Alter langsam vor sich hin tappend ihre Runden. Wenn sich mir dieser Anblick vor 20 Jahren geboten hätte, wäre ich bestimmt nicht beim Tango geblieben – und ich war damals schon Ende Vierzig!


Was, wenn sich den jungen Menschen eine andere Szene auftun würde: Zu groovigen Elektrotangos vollführen Gleichaltrige mit zerrissenen Jeans und Turnschuhen spektakuläre tänzerische Aktionen – und sie haben auch noch Spaß dabei! Dann würden mehr Jüngere sich mit dem Tango beschäftigen und im Laufe der Zeit auch seine anderen Spielarten entdecken und schätzen.

Wahrlich, bei vielen Milongas mit Langweiler-Musik, Rangordnungsgewese und sozialer Kälte wundert es mich, dass sie nicht schon lange Pleite gegangen sind. Masochismus ist offenbar für Tangomenschen eine Grundkompetenz.

Ich gebe allerdings eines zu bedenken: Die Aficionados, denen wir heute auf den Veranstaltungen immer wieder begegnen, kennen wir oft schon seit zehn oder mehr Jahren. Wesentlich Jüngere sind kaum dazugekommen. Der Tango schmort im eigenen Saft, der Stammtisch dominiert immer mehr.

Machen wir uns nichts vor: Diese Generation wird in den nächsten 20 Jahren wegsterben (oder zumindest im Pflegeheim landen). Und da der Tango in der heute üblichen Erscheinungsform kaum Jüngere anzieht, wird dann wirklich ein Milonga-Sterben großen Ausmaßes einsetzen – so wie in Argentinien ab den 1960-er Jahren. Eine Militärdiktatur ist hierzu nicht erforderlich – und ob dann nochmal ein Piazzolla auftaucht, ist unsicher.

Die Lösung liegt nicht im Festival-Gedöns oder in immer noch bunteren Unterhaltungsprogrammen fürs angejahrte Kreuzfahrt-Publikum.

Sie liegt in der sozialen Kompetenz von Veranstaltern – und vor allem auf dem Plattenteller!

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen * www.tangofish.de

Kommentare

  1. Die Welt verändert sich nicht durch die Kritik am Alten, sondern dadurch, das Menschen einfach was Neues machen.
    So ist das beim Tango auch.

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