Es geht auch mit Schinken
Seelenereignis magisches Fressko
Häufig verbinden meine Partnerin und ich den Besuch eines Festivals mit der
Entdeckung einer Stadt und der Begegnung mit Kultur. An jenem Tag besuchten wir
vor dem Beginn eines kleineren Festivals eine Kunstausstellung.
Das schlichte Abbild eines Fresskorbs beeindruckte mich dort. Mit wenigen Strichen nur hatte der Meister ihn portraitiert. Und obwohl das Gemälde nur eine ovalrunde, weiße Fläche mit angedeuteten dunkelweichen Lebensmitteln zeigt und auch Fettrand sowie rosiges Fleisch des Schinkens nur zart hingeworfen sind, gerate ich in den Bann dieses sinnlichen Ausdrucks und verharre eine Weile. Seelenberührt. Und hungrig. Dort ahne ich noch gar nicht, dass mir dieses Bild an jenem Wochenende auf gewisse Weise ganz lebendig wiederbegegnen wird. Aber erst am nachfolgenden Tag.
Es wird dann ganz unerwartet aus einem matten Dunkel herüberleuchten. Und ich werde nur langsam diesen Blick erahnen, während ich noch mit einer – mir gut bekannten – Freundin freudig, schön und harmonisch einen Stadtbummel unternehme. Irgendwann spüre ich aber dieses fremde Bild und schaue kurz auf – vor mir taucht die Eingangstür einer Metzgerei auf, die zu mir schaut und mich sofort an den Korb mit den köstlichen Speisen erinnert, der mich am Vortag in der Ausstellung innehalten ließ. Eigentlich wirkt er nur wie ein heller Schimmer an einem fernen Tisch im fahlen Dämmerlicht der ungünstig beleuchteten Auslage. Aber in ihm ruhen wieder diese weichen, dunklen Formen des Bildnisses, die sich nun ruhig und direkt auf mich richten.
Bilde ich es mir ein? Wünsche ich es mir? Weil ich sofort sehe, wie zart
und schön der Schinken ist?
Wieder richte ich alle Aufmerksamkeit dem aktuellen Bummel und „meiner“
Dame zu. Doch spüre ich die stille Energie dieses Lebensmittels. Auch durch
diesen Schleier nehme ich wahr, was darüber liegt, ein Gewebe aus Räucherduft
und Fleischeslust. Ich bin irritiert. Kann es sein, dass der Schinken mich
meinte? Wieso mich? Ist nicht schon der Gedanke daran völlig absurd? Aber
„etwas“ in mir spricht in erstaunlicher Klarheit: „Ja, er meint dich!“
Doch leider hatte meine Freundin die Auslage des Lederwarengeschäfts
daneben im Auge. Klar. Immer, wenn ich ein solch köstliches Essen entdecke, muss sie erstmal eine Stunde lang Handtaschen
ansehen und ausprobieren. Es ist wie ein Naturgesetz. Es wiederholt sich bei
jedem Stadtrundgang. Nun warte ich lieber. Der Schinkenkauf muss in schöner,
ruhiger Atmosphäre verlaufen. Keine Handtaschen. Aber ich bin unruhig, denn
womöglich wird den Schinken nun ein anderer holen und wer weiß, wann es dann
wieder einen gibt. Wird er auf dem Tisch eines anderen landen? Drei Handtaschen
lang warte ich – aber wie wir dann wieder vor der Fleischerei stehen, liegt das
Objekt meiner Begierde noch immer unverändert vor dem Ladentisch, davor ein
paar Leute, die ich aus der Ferne nur schemenhaft erkenne.
Endlich ruft die Ladenklingel das Personal zur Bedienung.
Ich nehme jetzt meinen Platz vor dem Tresen ein, eine reizende Metzgereifachverkäuferin
erscheint, unsere Blicke treffen sich sofort. Mit größter
Selbstverständlichkeit – als ob ich mich mit ihr unausgesprochen längst
verabredet hätte. Ich nicke, lächle, und da steht sie ohne das kleinste Zögern
auf und kommt mir mit klarem Schritt entgegen. Lächelt. Fragt mich nun nach
meinem Begehr, schaut mich an, nennt mir sogar ihren Namen, den ich in der
Aufregung aber überhöre oder sofort vergesse. Sie ist zierlich-klein, aber in
ihrem Gesicht fasziniert mich ihr Ausdruck und eine magische Tiefe und spürbare
Sehnsucht. Ihre Energie umfängt mich. Mädchenhaft zwar, aber doch gereift und
vom Wissen eines Menschen erzählend, der bei der heutigen Lehrstellensituation sicher
nicht nur leichte Zeiten durchlebt hat.
Im Laden erklingt leise Musik aus
der James Last-EdO. Nach einer besonderen, erkundenden Stille sage ich leise:
„Bitte 500 Gramm Schinkenaufschnitt“. Sekundenlange Stille. Ich spüre sie.
Ihren Atem. Ihre Gegenwart, ihre gespannte Bereitschaft – ihre Vorfreude, mir
das köstlichen Nahrungsmittel aufzuschneiden. Sie nimmt die Haltung an der
Wurstschneidemaschine an und ergreift den Schinken. Ihr Körper findet nun in
diese besondere, aufschnittbereitende Spannung einer erfahrenen Metzgereifachverkäuferin.
Ich sehe jetzt ihre freie Hand am Schalter der Maschine. Höre die Musik, fühle
sie nah am Schinken, erkenne ihre Bereitschaft, sie dreht sanft und ganz
leicht.
Ein-zwei erste Schnitte, und schon erschrecke ich fast, weil mir nun
spätestens klar wird, wie wundervoll der Aufschnitt werden wird. Sie arbeitet
mit vollendeter, weich fließender Körperlichkeit. Eine wahre Expertin, die
sofort in ihrer Bewegung erblüht und für welche das Metzgerhandwerk offenbar zu
den großen Leidenschaften zählt. Eine, die im Laden lebt. Vor dieser
Bewegungskunst erscheint mir mein eigenes Können beinah als bieder und
belanglos. Sie erzeugt nun dieses Vakuum, das Hand, Schinken und Scheiben
aneinanderbindet, kein Hauch eines Zauderns, sondern genussvolles, suchendes Stapeln
der Scheiben mit jedem Schnitt.
Mit jedem Schnitt erzählt sie mir ihre Geschichte. Ich verliere das Gefühl
für die Zeit. All ihre Konturen spüre ich – ihre Stirn, ihre Augenbrauen, ihre
Nase, ihren Atem – ihren ganzen Körper. Und dann ist die verlangte Portion vollendet.
Wir verharren noch mehrere Sekunden, dann packt sie den Aufschnitt vorsichtig ein,
und ich schaue sie an – sie, die noch immer für Momente die Augen geschlossen
hält und dabei leise lächelt und sie dann mit noch offenerem Lächeln öffnet,
mich ansieht.
Ich empfinde Bewunderung für sie und ihr Können und drücke das auch aus.
Und ich kann nun kaum glauben, dass sie mir ebenfalls Komplimente macht für
meinen guten Geschmack, wie sehr sie die Arbeit für mich genossen habe. Ebenso
intensiv. Wie kann das nur sein? Ich bin kein grandioser Käufer. Durchaus
erfahren zwar, aber einer, der nicht zu den technisch brillantesten zählt und
der sich der eigenen Baustellen und Unzulänglichkeiten sehr bewusst ist. Sie
hingegen machte jeden Schnitt vollendet, ausdrucksvoll und fachlich-elegant.
Während sie die Portion abwiegt, ist sie immer bei mir, voller Achtsamkeit
und spiegelt meine Impulse. Gibt sich dem Ereignis hin. Es bedarf zwischen uns
keiner Worte mehr.
Sie trägt einen schlichten Metzgerkittel, weder mit schmalen Schulterstegen
noch weitem, zweigeteiltem Rückendekolleté. Ich erträume mir, wie meine Hand
auf diesem Mittelsteg ruhen würde, bei einer Drehung aber ihren blanken Rücken
fände. Ich spüre, sie würde die Berührung ersehnen und sich darauf einlassen.
Wie entblößt und verletzlich sie dann wirkte! Und Geborgenheit-suchend.
Mit dem linken Arm hole ich trotz meiner muskulären Probleme das Portmonee
aus der Gesäßtasche. Auch das war ein stilbildendes Element, das noch mehr Nähe
ermöglichen und meine Dankbarkeit ausdrücken sollte. Sie nennt den Preis und
kommt mir nun auch mit ihrer rechten, feingeformten, hautschimmernden Schulter
entgegen, hebt diese leicht an und gibt mir das Wechselgeld heraus, zart, schön
und sinnlich.
Meinen Kauf, so sagt sie, habe sie ersehnt und genossen… Seit Jahren hätte
sie nicht mehr so schön Schinken aufgeschnitten.
Ihre Figur? Sie war für uns ohne jede Bedeutung. Natürlich sah ich diese
auch – aber eher beiläufig – sie machte das eigentliche Kauferleben nicht aus.
Eher waren es vielleicht sogar die Pausen oder das Innehalten, auch das
gespannte Erwarten und Vorbereiten dessen, was kam. Und über allem ihre
sinnlich geflüsterte Frage:
„Sonst no an Wunsch?“
***
Liebe
Leser,
bevor
Sie nun endgültig vermuten, meine Psyche hätte ein klinisch manifestes Stadium
erreicht: Der obige Text ist nicht mir eingefallen, sondern einem zu recht unbekannten Gastautor auf der Seite der
von mir sehr geschätzten Bloggerinnen von „Berlin
Tango Vibes“.
Ich habe ihn lediglich parodiert, indem ich die Handlung von
einer Milonga in die nicht weniger
sinnliche Atmosphäre einer Metzgerei
verlegte. Sicherheitshalber legte ich diese Version jedoch meiner lieben
Ehefrau und studierten Germanistin Karin
vor und bat sie um ein fachliches
Gutachten. Hier ist es:
Romanze an
der Wursttheke
Jede und
jeder, der schon das unfassliche und überwältigende Erlebnis hatte, unverhofft
mit einem gänzlich unbekannten Menschen in vollkommener Harmonie verbunden zu
sein, wird verstehen, was der Verfasser hier zum Ausdruck bringen will.
Ob man
diesen Zustand als Schweben empfindet oder als ein Losgelöstsein von der
Alltags-Realität – im Grunde ist es nur erlebbar, was da geschieht, eigentlich
unsagbar.
Deshalb
stimmen mich die so arg vielen Worte des Verfassers des oben stehenden Textes
nachdenklich und lassen zu seinem Erlebnis eine eher nüchterne Distanz
aufkommen.
Dass ihm
ein in einer Ausstellung gesehenes Stillleben in der Wirklichkeit des Einkaufsbummels
begegnet, ja, sich für ihn im Lauf der Begegnung mehr und mehr körperlich in
Verbindung mit einer geheimnisvoll anziehenden Frau materialisiert, ist eine
recht geschickte Idee, die Aufmerksamkeit erregt.
Weniger
zauberhaft dürfte das Ganze aber auf seine Partnerin, gewirkt haben, der er –
für sie sicher spürbar halbherzig – beim Handtaschenkauf folgte, obwohl seine
Gedanken bereits vom Schinken gefesselt waren. Hoffentlich hatte er wenigstens
ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber!
Danach
zählt nur noch dieses Bild von einer Frau, die so zart und einfühlsam mit der
ersehnten Wunderfleischware umzugehen versteht, ja gleichsam mit ihr
verschmilzt. Mit größter Selbstverständlichkeit ergeben sich Übereinstimmung
und Harmonie in physischer und mentaler Hinsicht zwischen allen Beteiligten,
die der Autor nicht müde wird, immer detaillierter und mit nicht enden
wollenden Adjektiv-Akkumulationen zu schildern.
Achtung:
Stilexperten warnen mit Recht vor Kitschgefahr bei ausufernden Ausschmückungen!
Oder sind diese
Wortlawinen Ausdruck des mentalen und physischen Zustandes unseres Verfassers?
So erklären
sich vielleicht an Courths-Mahler erinnernde Formulierungen von der erblühenden
Verkäuferin, oder es taucht vor dem geistigen Auge Goethes geheimnisvolle, faszinierende
Mignon auf, das Sinnbild der Sehnsucht schlechthin!
Auch diese
literarischen Vorbilder haben das Thema der Erotik (aus zeittypisch moralischen
Gründen) nur angedeutet. Unser Verfasser lässt sie zart zwischen den
Aufschnittblättern durchschimmern.
Nur selten
mischen sich pragmatische Elemente hinein: So muss der Autor seinen Schinken
immerhin bezahlen, sie sprechen miteinander.
Aber das
ist nicht wirklich wichtig. Was zählt, ist das alle Sinne beanspruchende und
den Verstand ausblendende Erlebnis, durch das der Autor sogar zu läuternder
Selbsterkenntnis und Bescheidenheit findet.
Fazit: Wie
schön, dass der Verfasser dieses außergewöhnliche Erlebnis hatte! Ich könnte es
jedoch noch besser nachvollziehen, wenn ich es nicht unter so dichten sprachlichen
Kumuluswolken suchen müsste.
Fürwahr:
Auch bei hochsinnlichen Tangoerlebnissen sollte man den Kumulo-Nimbus ein wenig begrenzen, sonst schlägt der satirische
Blitz ein…
Doch überlassen wir das Schlusswort einem anderen modernen Lyriker:
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