Ächzperten zur „Vorhertanzbarkeit“
In
den fast 40 Jahren meiner Aktivitäten im Standardbereich war mir die Vokabel „Tanzbarkeit“ völlig fremd. Auf dem
Parkett wurde das umgesetzt, was die Band, der DJ oder Trainer auswählte. Und
wenn es mal schwierig war, sah man das als individuelles
Problem, welches man selber zu lösen hatte – mithin als Herausforderung für
die Beine.
Im
heutigen Tango hingegen muss alles, was unklar erscheint, mit dem Kopf zu klären sein. Hierzu fragt man
nach Theorien und Regeln – wie jüngst in einer Facebook-Gruppe, in welcher sich Tango-DJs ihr gebündeltes Fachwissen
wechselseitig an den Kopf werfen. (Hinweis: Da es sich um eine geschlossene
Gruppe handelt, zitiere ich die Urheber nicht persönlich. Rechtschreibfehler
wurden korrigiert, soweit sie die Komik des Geschriebenen nicht fördern.)
Der
Diskussionsbeginn:
„Ich hätte im
Zusammenhang mit der Tanzbarkeit auch mal die Frage: Woran erkennt ihr die oder
macht es fest, ob ein Lied tanzbar ist? Sollte ich immer alles tanzend
ausprobieren oder gibt es dazu Regeln, die das ersparen, also einfacher machen?“
Die
Antwort erschien zunächst ganz simpel:
„Naja,
je klarer und strukturierter der Rhythmus, umso einfacher zu tanzen.“
Aber – man sollte es nicht glauben –
inzwischen fällt es wohl doch dem einen oder anderen zertifizierten Tradi-DJ
auf: Einfach zu tanzende Stücke könnten gelegentlich fad werden:
„Wichtig
ist auch die regelmäßige Abwechslung des Charakters der dargebotenen Musik. Ich
beobachte zunehmend, dass es immer mehr in Richtung eines regelmäßigen, klar
erkennbaren Beats (ohne Pause zwischen den einzelnen Phrasen innerhalb eines
Titels) geht. Das finde ich persönlich eher etwas monoton.“
Ein Kollege hält hierfür allerdings Trost bereit:
„Wenn
man nicht zum Rhythmus, sondern zur Melodie tanzt, stört der gleichmäßige
Rhythmus kaum.“
Da kann man mal sehen, wie naiv man als Laie
ist: Ich dachte bislang immer, auch die Melodie sei irgendwie an das Taktschema gebunden – sehe ich
jedenfalls immer in den Partituren meiner Frau, wenn sie Gesangspassagen übt…
In Wirklichkeit ist die Problematik natürlich
weit komplizierter – ein Hoch auf Tangomusik-Ächzperten:
„M. E. erwächst Tanzbarkeit aus gleichmäßig
durchgehenden Puls in der Musik, vor dessen Hintergrund erst rhythmische (bspw.
Syncopas, Hemioloas, Punktierungen) + melodische + harmonische Differenzierungen
Sinn ergeben, den man jeweils tanzend (oder bspw. ‚jazzend’) explorieren kann.“
Übrigens, damit’s nicht jeder bei „Wiki“
nachschauen muss:
„Eine Hemiole (griech. hemiolos ‚anderthalb‘)
ist eine rhythmische Akzentverschiebung innerhalb eines Dreier-Taktes, bei der
zwei Takte zu einem großen Dreiertakt zusammengefasst werden. Hemiolen werden
im Notenbild nicht eigens kenntlich gemacht, sondern müssen aus dem Kontext
erschlossen werden.“
Ein ehemaliger Studienkollege von mir hätte
hierzu seinen Lieblingssatz gesprochen:
„Dös
geht nur mit’m Cosinus…“
Aber „jazzend explorieren“ passt ganz gut zu
meinem Tanzstil!
Eher exhumiert wirkt hingegen ein Standardargument aus der Tradi-Szene:
„Als
erstes kann man sich auch mal fragen, ob ein Stück denn zum Tanzen geschrieben
bzw. arrangiert wurde. Das ist z. B. bei einer Canción (s.o.) eindeutig nicht
der Fall. Zielgruppe ist hier ein zuhörendes Publikum. Gleiches kann für das
meiste ab 1950 (einiges auch schon früher) angenommen werden, weil das Geld und
auch die Promotion nicht mehr von den Tanzen kommt, der Fokus sich also mehr
und mehr Richtung Zuhören (Konzerrt, Radio, später TV) verscheibt.“
Tja, wenn sich der „Fokus auf Konzerrt
verscheibt“, kannst es halt nimmer tanzen (oft nicht amal mehr schreiben)…
Auch der natürliche Feind des DJs, die Live-Musik, bekommt verständlicherweise
ihr Fett ab:
„Ich
finde live Musik eben oft NICHT tanzbar, weil tatsöchlich eine gewisse (!)
Vorhertanzbarkeit fehlt. Das gilt übrigens nicht nur für Tango. Weil dem Effekt
und dem individuellen Gefühlsausdruck mehr Gewicht gegeben wird. Oft sind es
nur Bruchteile von Schwankungen, die mich dann lieber zuhören lassen.“
Klar, sollte man dann auch lieber. Nur muss
man schon der „Tatsöche“ Rechnung tragen, dass sich die Aktivität auf dem
Parkett stets genau im Hier und Jetzt
abspielt – Vorhertanzen ist noch blöder als Hintennachtanzen.
Positiv sei angemerkt, dass es manchen DJs
doch dämmert, Anlage und Erbanlage könnten irgendwie
zusammenhängen:
„Ich
habe manchmal den Verdacht dass die Tanzbarkeit auch oft am Maßstab der eigenen
Fähigkeiten festgemacht wird.“
Einfacher formuliert: Eine Kuh hält Berge generell
für „unbesteigbar“…
„Je
bescheidener die Fähigkeiten, umso breiter der Begriff der Tanzbarkeit,
zumindest im Tango, oder was als Tango genannt wird.“
Äh, wie jetzt? Wer weniger beherrscht, kann auf mehr verschiedenartige Musik tanzen?
Es ist schier unglaublich, wie bei einer Angelegenheit, die wesentlich vom persönlichen Geschmack abhängt, das Internet mit Wissens-Beeindrucke zugemüllt wird:
„Stimme dir voll zu! Und auch dazu haben wir gerade eine Forschungsarbeit im Rahmen des Forschungsfeldes "choreomusicology" an der Kunstuni Graz zu laufen, es geht speziell um diese beiden Begriffe und ihre soziologischen Konnotationen in Tanz/Musik szenen...spannendes Feld!“
Wir Holledauer pflegen da zu sagen: "Für den, der's mag, is des as Höchste!"
Es ist schier unglaublich, wie bei einer Angelegenheit, die wesentlich vom persönlichen Geschmack abhängt, das Internet mit Wissens-Beeindrucke zugemüllt wird:
„Vermutlich
beziehst du dich auf die del-Piano Instrumentals, die finde ich auch nicht so
gut. Aber die von Attadía und von Mori sind feinste Sahne, keine Massenware wie
von del-Piano. Vom Gefühl her finde ich, dass sich die Instrumental eher an
Tänzer richten: die rhythmischen Spielchen, Tempowechsel und Vorhalte peppen
einfach die Ronda auf. Eingestreut, veredeln sie eine Vargas-Tanda ungemein.“
„M.E.
bilden in vielen Fällen danceability und musicality quasi 2 Seiten einer Medaille
... wobei erstere eher externalisierend, letztere eher internalisierend
thematisiert werden dürfte...“
„Stimme dir voll zu! Und auch dazu haben wir gerade eine Forschungsarbeit im Rahmen des Forschungsfeldes "choreomusicology" an der Kunstuni Graz zu laufen, es geht speziell um diese beiden Begriffe und ihre soziologischen Konnotationen in Tanz/Musik szenen...spannendes Feld!“
Wir Holledauer pflegen da zu sagen: "Für den, der's mag, is des as Höchste!"
Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen,
dass es in diesen Kreisen ja bereits als Wagnis gilt, eine Tanda Pugliese zu spielen, zumindest vor Mitternacht. Dazu meint eine
Kommentatorin:
„Im
Unterricht spielen es viele Lehrer nicht, weil sie es selbst in der Umsetzung
nicht vermitteln können. Die Schüler gehen dann auf die Milongas und sind
zunächst überfordert mit derartiger Musik. Sie hören sie ja auch dort nur
selten, es sei denn, sie blieben bis zum bitteren Ende.
Dann gibt es noch Menschen, die mit der intellektuell-tänzerischen Überhöhung dieser angeblich so schwierigen Musik eine Menge Geld in entsprechenden Musikalitätsworkshops machen...
Anstatt die Hörgewohnheiten der Tänzer durch regelmäßige Präsenz solcher Stücke auf den normalen Milongas einfach mehr zu schulen.
Es wirkt so, als nutzten viele diese Musik zur elitären Tango-Kastenbildung und hätten gar kein Interesse daran, das ‚gemeine Tangovolk‘ daran teilhaben zu lassen...“
Dann gibt es noch Menschen, die mit der intellektuell-tänzerischen Überhöhung dieser angeblich so schwierigen Musik eine Menge Geld in entsprechenden Musikalitätsworkshops machen...
Anstatt die Hörgewohnheiten der Tänzer durch regelmäßige Präsenz solcher Stücke auf den normalen Milongas einfach mehr zu schulen.
Es wirkt so, als nutzten viele diese Musik zur elitären Tango-Kastenbildung und hätten gar kein Interesse daran, das ‚gemeine Tangovolk‘ daran teilhaben zu lassen...“
Tja, schöner kann man’s kaum sagen!
Nun gut – für mich ist die erste Fassung
ultimativ langweilig, die zweite geht so. Aber „tanzbar“? Bei solchen Debatten wird mir immer wieder bewusst, dass
ich schon sehr in die Knie gehen muss, um den Level derartiger „Probleme“ zu
überblicken…
Erfreulich, dass sich wenigstens Profitänzer an der zweiten Fassung des
Stückes versuchen:
Fazit
Die Weltformel
für „Tanzbarkeit“ habe ich auch in dieser Diskussion erwartungsgemäß nicht
gefunden. Wohl aber Belege für die eklatante
Achselnässe unter den „traditionellen“ DJs, ihren Gästen mal
Anspruchsvolleres vorzusetzen. Klar: Hinter dem, welcher dann in Ungnade fiele,
stehen schon mehrere Kollegen, die scharf auf den Gig sind. Also lieber beim „Mainstream“
bleiben!
Ich empfehle hingegen schlichtes Reinhören in die Musik, verbunden mit
der Frage, ob man selber gerne dazu
tanzen würde. Aber da ergibt sich schon die nächste Schwierigkeit, welcher
einer der Kommentatoren sibyllinisch formuliert hat:
„Es hilft, wenn man als DJ selbst Tänzer
ist...“
Mir erscheint hier der Konjunktiv geeigneter:
„Es würde helfen…“
P.S. Dem Duden ist der Begriff „tanzbar" übrigens unbekannt:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/07/liebes-tagebuch-76.html
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