Liebes Tagebuch… 76

 

Seit dem ersten Erscheinen meines Tangobuches kämpfe ich gegen das Vorurteil, moderne Tangomusik, insbesondere Stücke von Astor Piazzolla, seien „untanzbar“.

Lange Zeit bildete dieser Begriff eine wichtige Stütze der konservativen Tango-Ideologie: Wären auch Aufnahmen ab den 1960er Jahren zum Tanzen geeignet, gäbe es ja keinen wirklichen Grund, sie dem Milonga-Publikum vorzuenthalten.

Jahrelang wurde diese Killer-Vokabel gegen alles eingesetzt, was von den oft eintönigen, auf Massengeschmack getrimmten Tangos der hochgelobten „Goldenen Tangozeit“ abwich – sozusagen als „Todesurteil“ über das Fortschrittliche.

Ich habe solche Sentenzen auf meinem Blog immer wieder zitiert:

„Interessant. Am besten gefällt mir allerdings der Verweis auf verschiedene Links zu Personen (z.B. Jochen Lüders), der sehr gut beschreibt, warum die Musik von Piazzolla ‚untanzbar‘ ist. Ich finde die Arroganz des Schreiberlings Riedl nämlich unerträglich.

Auch ich habe übrigens einen Link zum 100.Geburtstag (gemeint ist Piazzolla) in meiner timeline gepostet. Trotzdem halte ich die Musik aus Tänzersicht für weitgehend untanzbar. Weil ich erstens das Bedürfnis habe, ob führend oder folgend, zur Musik zu tanzen; alles andere verursacht mir als einigermaßen musikalischem Menschen fast körperliche Schmerzen.

Zweitens sind wir als Paar nicht allein auf der Fläche, und ich mag weder Drängler noch unbeabsichtigte Unfälle, weil die Musik nun mal nicht flüssig ist und jedes Paar unterschiedlich interpretiert.

Und drittens, und das ist wohl der wichtigste Aspekt, hat Piazzolla m.W. nach selber nicht getanzt, weil er gehbehindert war und nicht wirklich daran interessiert, tanzbare Musik zu komponieren!“ 

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/03/der-hinkende-piazzolla.html

Tja, wie kann man auch darauf kommen, zur Musik eines gehbehinderten Komponisten zu tanzen? Auch, wenn das Argument einen Hauch von Diskriminierung hat…

„Zur (Un)tanzbarkeit von Piazzolla“ äußerte sich auch der Münchner Neo-DJ Jochen Lüders:

Und da werden dann schon mal alle diejenigen, die trotz aller Bekehrungsversuche einfach nicht zu Piazzollas Knarzen, Kratzen und Quietschen tanzen möchten, mit bescheuerten „Flacherdlern“ verglichen bzw. gleichgesetzt."

https://jochenlueders.de/?p=13894

Dies stellt eine der zahlreichen Falschbehauptungen des Autors dar. Mehrfach habe ich betont: Wer nicht zu Piazzolla tanzen möchte, darf es gerne lassen. Er sollte nur nicht behaupten, seine Stücke seien generell „untanzbar“:

„Die Behauptung, Tango nuevo sei untanzbar, bedeutet den Rückzug von der Bereitschaft, Tatsachen zu akzeptieren. Es gibt im Internet tausende von Videos, auf denen Menschen zu solchen Tangos tanzen. Und eine solche Haltung darf man durchaus mit der von Zeitgenossen vergleichen, welche trotz ebenso vieler NASA-Bilder von unserer blauen Wunderkugel unbeirrt dazu stehen, die Erde sei eine Scheibe. Eine ‚Diffamierung‘ sehe ich darin überhaupt nicht – nicht mal Satire. Es ist schlicht die Wahrheit!“

http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/hier-irrt-luders.html

Dennoch wurde die Behauptung der Untanzbarkeit" unverdrossen wiederholt – manchmal hatte ich den Eindruck, die Verfasser schrieben voneinander ab:

„Es gibt natürlich Grauzonen, aber die moderne Musik enthält zumindest einige nichttraditionelle Elemente, die den Rhythmus des Liedes oder Teile des Liedes unregelmäßig, unkenntlich, unberechenbar und untanzbar machen.“

„Manche Leute argumentieren, dass jede Musik tanzbar ist, wenn sie spielbar ist. Dieses Argument ist unhaltbar.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/05/grubensags-und-hibidum.html

„Aber ich habe meine Grenzen, ich kann einfach nicht etwas spielen, das ich für kitschig, untanzbar, furchtbar oder langweilig halte. Wenn also ein Veranstalter einen DJ für einen Abend sucht und weiß, dass das Publikum Hugo Diaz, Salamanca und das Orchestra Romantica Milonguera liebt, wird er mich nicht fragen. Denn ich werde diese Orchester nicht spielen.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/11/wie-es-euch-gefallt.html

„Die Tangokompositionen Piazzollas sind nicht tanzbar, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Sie fordern vielmehr zum konzentrierten Hören auf.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/milonga-in-der-nicht-tanzbar.html

(Diese Formulierung habe ich in Variationen zirka ein Dutzend Mal im Internet gefunden!)

„Ich kritisierte die Beziehung von Herr Riedl zu der Tangomusik. Wie kann man die alten (‚Anno Schellack‘) Aufnahmen mokieren und in denselben Atemzug untanzbare non-Tangos als ‚Schätze‘ zu bezeichnen?“

https://tangoplauderei.blogspot.com/2010/10/der-grosse-milonga-fuehrer-gerhard.html

„Ich finde die gesungenen Tangos von Carlos Gardel beinahe untanzbar.“

https://tangoplauderei.blogspot.com/2014/08/reihenfolge-oder-anordnung-der-Tandas-in-der-Milonga.html

Merke: Die beiden Weltstars des Tango – Gardel und Piazzolla – kommen im konservativen Tango nicht vor. „Kulturlos“ ist dafür noch eine untertriebene Bezeichnung!

Was mir schon öfters auffiel: Wenn ich per „Word“ einen Text verfasse, unterringelt das Programm den Begriff „untanzbar“. Meine heutigen Nachforschungen ergaben, dass der „Duden“ das Wort nicht kennt. Dort kommt lediglich der Begriff „tanzbar“ vor:

„Bedeutung: (von Musik) zum Tanzen geeignet“

https://www.duden.de/rechtschreibung/tanzbar

Spätestens seit 1880, als Konrad Duden sein „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ erstmals herausbrachte, hatte man im Sprachgebrauch kein Bedürfnis, zu einer Musik festzustellen, man könne zu ihr nicht tanzen.

Dies blieb zirka 130 Jahre später der konservativen deutschen Tangoszene vorbehalten.

Immerhin ein wichtiger Beitrag zum Tango-Kulturerbe!

Begeben wir uns also lieber in die „Tanzbar“. Ist viel lustiger:

https://www.youtube.com/watch?v=S1Sq0pD4y5o

Kommentare

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