Des Kaisers neueste Kleider

„Der Sinn empfängt von den Worten seine Würde,
anstatt sie ihnen zu geben.“
(Blaise Pascal)


Es gibt in unseren Breiten sicherlich nicht viele, die vom Tango leben können (eher solche, die vom Leben Tango können). Das hier agierende Paar aber dominiert anscheinend derzeit eine großstädtische Szene mit beachtlichem Erfolg.

Wenn man dieses Ziel hat, muss man  wohl werben wie die beiden. Einen solchen Spot entdeckte ich kürzlich auf der Seite eines lokalen Fernsehsenders:


Man sollte sicherlich den Tango so darstellen, als sei er nicht von dieser Welt. Zunächst sieht man das veranstaltende Traumpaar auf dem Parkett, im Hintergrund eher unscharf einige umhertappende Schüler- und Gästepaare. Aus dem Off wird schon zu Beginn das Sehnsuchtsmotiv angestimmt: „Ihre Art Tango zu tanzen, das möchten viele lernen.“

Das Outfit der beiden erinnert an die legendären sowjetischen und tschechischen Märchenfilme früherer Zeiten: Der Prinz im dunkelblauen Brokatrock, Hosenträgern und Ornamentik-Hose nebst güldenen Tangoschleichern – sie im geschlitzten Satinröckchen, weißem Spitzentop plus silbernen Highheels, die Haare tuscheschwarz (oder schwarz getuscht). Beide teilen sich die gleiche Langhaarfrisur (oder vermutlich zumindest den zugehörigen Friseur).

Auch was der Tangoprinz zu sagen hat, zielt weitestgehend informationsfrei auf Emotionen (von mir sprachlich ins Deutsche übertragen):

„Elegant Tango tanzen muss man immer wieder dran denken, dass man das elegant macht, sinnlich, erotisch, und so funktioniert‘s.“

Etwas später bringt er einen zweiten O-Ton mit ganz ähnlicher Erklärung – irgendwie hat man den Eindruck, solche Statements wären bei ihm per Knopfdruck jederzeit erhältlich:  

„Wichtig ist, dass man immer wieder dran denkt an diese Sache, dass man elegant geht, dass man sinnlich sein kann und erotisch, und das ist ein Sozialtanz, und jeder, der hier reingeht, kann tanzen.“

Klick, dritte Version: „Muss man als Allererstes Verbindung haben als Paar, als Tanzpaar, Verbindung… der Mann hat seine Rolle als Mann, die Frau hat ihre Rolle als Frau.“

Die Prinzessin (natürlich sintemalen bei einem Tangokurs von ebendiesem Lehrer gefreit) darf ihre Rolle als Frau bei der Beschreibung des märchenhaften Interieurs der Tanzstätte ausleben. Kernsatz: Sie fühle sich „wie Alice im Wunderland“.

Klar, was da auf und zwischen den Zeilen verkauft wird: Jeder kann „elegant, sinnlich und erotisch“ sein, wenn er denn die zwölf Euro für eine Unterrichtsstunde aufbringt (Ronda-Training" inklusive), ist fähig, eine „Verbindung“ aufzubauen zwischen den Geschlechtern, und das in den althergebrachten Rollenklischees. Und vielleicht ereilt die Tangoadeptin ja auch der Weckruf des Traumprinzen hoch zu Ross (tote Drachen kann man ja inzwischen sicherlich bei „Amazon“ bestellen – oder gebraucht bei Ebay ersteigern…).

Zu Wort kommen dürfen auch zwei Schülerpaare (davon drei Personen aus dem Anfängerlevel), geschätztes Durchschnittsalter ganz tangotypisch bei etwa 30 Jahren… Ältere Semester sieht man eher im Hintergrund umherhuschen.

Die Beschreibung des Tanzes vom Rio de la Plata bleibt marketingtechnisch so vage, dass keiner damit ein Problem hat: „Der Tango argentino ist ein freier und sehr individueller Improvisationstanz“, so die Sprecherin aus dem Off – freilich nach festen „goldenen Regeln für ein schönes Tanzerlebnis“, deren zwanzig bereits zu Beginn auf dem Plakat im Hintergrund prangen. Und „Grundschritte“, so der Student im Interview, habe er auch. Ferner verwendet ja der Meister den Begriff „Sozialtanz“ – mithin der übliche Kotau vor der Tradi-Szene…

Und trotz des ganzen Satin- und Brokat-Chichis sei Tango „ein Tanz des Volkes“ – da bleibt doch kein Wunsch offen!

Nun, so muss man wohl heute für den Tango werben, um marketingtechnisch Erfolg zu haben – auch wenn das angebotene Produkt mit wirklichem Tango etwa so viel zu tun hat wie eine Büttenrede mit einem Tucholsky-Text. Die Kundschaft liebt eben Märchen – oder, wie die Kabarettistin Monika Gruber einmal ihren italienischen Ex-Freund beschrieb: „Er lügt so schön.“

P.S. Die Ironie der Benennung des obigen Lokals nach einem Mann, der schließlich im Irrenhaus landet, dürfte sich allerdings nur Gerhart Hauptmann-Fans erschließen… 
https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnw%C3%A4rter_Thiel

 

Kommentare

  1. Dass die Geschichte der beiden auch noch falsch in einer wichtigen Tangozeitschrift dargestellt wurde, hab ich mir nicht gefallen lassen und daher an Tangodanza folgenden Leserbrief geschrieben, der sogar veröffentlicht wurde:
    Leserbrief zum Artikel "Die Lugos aus München", Tangodanza 2015/1
    Die Aufgabe eines Journalisten besteht nicht unbedingt in einer streng objektiven Berichterstattung. Auch, dass er /sie nicht alles erzählt, ist tolerierbar. Nicht tolerierbar aber sind Falschdarstellungen, wie in diesem Artikel. Da heißt es auf S. 24 unten: "Seit sieben Jahren veranstalten sie (Fabian und Michaela) sonntags die traditionelle Milonga im Schlachthof." Das ist falsch. Vor sieben Jahren, also im Jahre 2007, begann Fabian mit seiner damaligen Ehefrau Christina diese Veranstaltung. Ideen, Verhandlungen und Werbung wurden von Christina durchgeführt (ihr Mann konnte ja nicht Deutsch), und ihr ist es zu verdanken, dass aus dieser Veranstaltung ein dauerhafter Erfolg wurde. Die Trennung der beiden wäre eine eigene Geschichte wert, doch das gehört nicht hierher.
    Dass Christina Lugo mit keinem Wort erwähnt wird, hat Tradition: Auch andere Tangopaare ignorieren ihre Vergangenheit völlig. Beispiel: Nicole Nau, die ihren Ex-Ehemann Ricardo nicht mehr kennt, obwohl sie zusammen mit ihm berühmt wurde und sogar eine argentinische Briefmarke schmückt. Das Ignorieren der Vergangenheit ist für die Personen verständlich, ein Journalist aber ist kein bezahlter Geisterschreiber. Eine seriöse, auf objektive Information ausgerichtete Fachzeitschrift wie Tangodanza, sollte dabei nicht mitmachen.
    -Peter Ripota, Milonga-Veranstalter in Freising-

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    1. Lieber Peter,

      danke für die Info! Die abgelegten Ehepartner von Tangogrößen haben es wahrlich nicht einfach - häufig werden sie schlicht aus der Biografie getilgt.

      Im vorliegenden Video wird allerdings korrekt das Jahr 2011 genannt, ab dem die beiden die genannte Milonga veranstalten.

      Ja, professioneller Tango (Tanz überhaupt) scheint nicht gerade eheerhaltend zu wirken! Da haben wir Amateure es doch leichter...

      Liebe Grüße
      Gerhard

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  2. Lieber Gerhard,

    aufgrund dieses Videos hätte ich wahrscheinlich nie Tango tanzen angefangen. Aber das liegt wohl schon allein daran, dass ich primär nicht etwas deswegen toll finde, weil es optisch und geographisch aus Südamerika kommt. (hüstel).

    Man beachte vor allem gleich zu Beginn das Schwenken auf die Códigos und das schon etwas längere Verweilen dort. Scheint ihnen (oder dem Kameramann / der Kamerafrau?) wohl recht wichtig gewesen zu sein.

    Aufgrund der Botschaft, die dieses Video sendet (u.a. ist es ja wichtig, dass man erotisch ist und Verbindung zur Partnerin / zum Partner hat) und eigener Erfahrungen würde ich diese Códigos gerne um eine 21. Regel erweitern:
    - ACHTUNG IRONIE!! -
    Enge Tanzhaltung ist erst erlaubt, wenn
    - der Mann den Unterschied zwischen Tango, Milonga und Vals erkennt UND
    - der Mann erkennt, wo eine PHRASE beginnt UND
    - der Mann neben den Grundschritten wenigstens einen Vorwärts- und einen Rückwärts-Ocho beherrscht.

    ;-)

    Liebe Grüße in den Süden!
    Sandra

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    1. Liebe Sandra,

      das sehe ich ähnlich! Aber wir müssen uns wohl damit abfinden, dass der Exotik- (inklusive Erotik-)Faktor ein wirksames Werbemittel darstellt.

      Ich kann mich noch deutlich an die „Italien-Filme“ der 50-er Jahre erinnern. Jetzt ist es halt Argentinien…

      Diese Tangoschule ist übrigens eine der wenigen, welche die Códigos noch sehr weit nach vorne rückt – übrigens nicht nur theoretisch. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass man dort von der „Saalaufsicht“ schon mal angemosert wird, wenn man die Spur nicht einhält etc.

      Schade, ich hab die Milongas dieser Schule früher gern besucht – inzwischen ist damit Schluss.

      Hast Dir das mit der 21. Regel reiflich überlegt? Da würd‘s auf den Tanzflächen ziemlich leer (und man hätte gut Platz).

      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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  3. ... ich hab ja nicht geschrieben, dass betreffende Leute gar nicht tanzen dürfen, sondern dass die enge Tanzhaltung erst dann erlaubt ist
    ;-)

    Liebe Grüße
    Sandra

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    1. Stimmt schon, nur würde die Mehrzahl der heutigen Tangueras dann umfallen... Mist, wäre das Parkett auch wieder voll!

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