Zwei Erfolgsmodelle: das G 8 und der „T 8“



Ich hätte es selber, so muss ich gestehen, nicht mehr für möglich gehalten: In Bayern wird bereits für die heuer ins Gymnasium eintretenden Schüler das neunjährige Gymnasium wieder zur Regelschule!

Ich hatte es hier schon beschrieben, wie ein Ministerpräsident, von dem heute (berechtigterweise) keiner mehr spricht, im Jahr 2004 überfallartig und per ordre de Mufti seinen Landeskindern den Wechsel zum G 8 verordnete – einige Wochen nach Schulbeginn und mit sofortiger Geltung. Die kurz vorher neu herausgekommenen Lehrpläne fürs G 9 wurden eingestampft, neue gab es zunächst nicht – sie wurden dann in fliegender Hast und mangelhafter Qualität zusammengestöpselt.


Was mich damals am meisten fuchste: Jedem, der auch nur das Wort „Gymnasium“ fehlerfrei schreiben konnte, war natürlich klar – das regierungsamtliche Mantra, man werde in acht Jahren eine höhere Bildungsqualität hinbekommen als vorher in neun, gehörte in die Rubrik „galoppierender Wahnsinn“.

Bedauerlicherweise war mir damals das Wort „Blog“ noch völlig unbekannt – ich hätte sicherlich eines aufgemacht und gegen die Demontage des bayerischen Bildungssystems gekämpft! Immerhin veröffentlichte ich 2012 meinen „Lehrer-Retter“, in dem ich nicht nur diesen Unterschied zwischen Schein und Sein in meinem Beruf entlarvte.

Der Effekt: zunächst sehr bescheiden. Immerhin erlebte mein Lehrer-Buch (obwohl im Ton noch schärfer) nicht den Shitstorm, den der „Milonga-Führer“ auszustehen hatte – offenbar hatten die Kollegen damals andere Sorgen. Ansonsten begaben sich – nach einer rituellen Protestphase – bayerische Opposition und Lehrerverbände auf die Suche nach den richtigen Schritten beim Eiertanz – man müsse eben „die Herausforderung annehmen“, das Beste aus der neuen Situation machen. Das Interesse der Wahlbevölkerung ließ nach, ein Volksbegehren scheiterte schon im Ansatz: Immerhin gab‘s ja für den werten Nachwuchs das Abitur ein Jahr früher – und ob es dann noch diesen Namen verdiente, schien kaum einen zu scheren.

Dass man eine ganze Generation (von 2004 bis 2017) um ihre Bildungschancen betrog und sportliche sowie künstlerische Aktivitäten, ja überhaupt die notwendige Freizeit deutlichst beschnitt  – kein Thema! Dass man diejenigen, welche den Käse umzusetzen hatten, also uns Lehrer, im Jahrestakt mit Reförmchen der Missgeburt G 8 (wie kostenlosen Nachhilfeunterricht am Nachmittag) bei Laune und Beschäftigung hielt – kein Thema! Folgenlos offenbar auch, dass all die Reparaturbemühungen es nicht schafften, aus Scheiße ein margarineähnliches Produkt herzustellen…

Den wenigen Ewiggestrigen (also auch mir) wurde beschieden, bedauerlicherweise sei der Zug nun eben abgefahren, der Trend auch in anderen Bundesländern eindeutig: Das G 9 sei Geschichte, eine Rückkehr zu ihm werde es nie mehr geben.

Offenbar hatte man aber versehentlich doch eine Rückfahrkarte gebucht: Vielerorts flammten immer wieder Elternproteste auf, die Unzufriedenheit mit dem „Erfolgsmodell Restgymnasium“ ließ sich nicht wegbügeln. Immer mehr Teilstaaten dieser Republik knickten ein und ließen neunjährige Modelle wieder zu – den radikalsten Schritt unternahm nunmehr der traditionelle Spitzenreiter in Bildungssachen, der Freistaat Bayern – geführt von einem Ministerpräsidenten, dem man zumindest eines nicht absprechen kann: eine Witterung dafür, wie man Wahlen verlieren könnte…

Freilich – dies zur Beruhigung der CSU-Landtagsfraktion, die sich bis zur vorletzten Sekunde weigerte, sich selber des früheren Votums für Blödsinn zu bezichtigen: Das „neue“ G 9 werde natürlich nicht das alte sein, sondern viel besser! Okay, is ja gut…

Verständlich, dass ich derzeit wieder mit Freude Zeitung lese – und dabei kam mir ein Gedanke: Ebenfalls vor mehr als zehn Jahren begann ja, allerdings eher schleichend, eine Entwicklung im Tango zu ähnlicher Qualität und mit vergleichbaren Folgen!

Man versuchte uns einzureden, es wäre ein Fortschritt, wenn wir hinfort auf einen Großteil der bisher zum Tanzen verwendeten Tangomusik verzichteten: Durch die Beschränkung auf die Einspielungen einer engen zeitlichen Epoche, der berüchtigten „EdO“ von 1935-1955, werde das Weltkulturerbe Tango auf ungeahnte Höhen katapultiert. Auch auf dem Parkett zeige sich durch Beschränkung die wahre Meisterschaft: Die Limitierung auf einfache, „ungefährliche“ Aktionen schaffe erst den wahren, ultimativen Tango – ebenso wie das pflichtgemäße Zusammenpappen der Tanzpaare in der „engen Umarmung“, welches unerwarteterweise zu kreativeren, musikalischeren Bewegungen führe. Gleichermaßen sei ein lockeres, freundliches Miteinander auf den Milongas nur durch Zwang zu erreichen, indem man alles, von der Aufforderung bis zur korrekten Spurbenutzung, mit Vorschriften überziehe.

Im Netz trommelte jahrelang ein Blogger, dem man getrost eine vergleichbare Kopfsteuerung und einen ähnlich missionarischen Zwangsbeglückungstrieb wie dem G8-Schöpfer „Haspel-Ede“ unterstellen kann, für diesen Rollback. Zunächst mit umwerfendem Erfolg: Viele Veranstalter bestiegen die Salami, um den goldenen Tangozeiten entgegenzureiten, und bekannten sich zu den allfälligen Códigos sowie hundertprozentig langweiliger Musik.

Als Vertreter der 68-er Generation bin ich in meiner Opposition stur geblieben. „Keuschheit ist ebenso wenig eine Tugend wie Unterernährung“ – wer sich in seiner Jugendzeit an solchen Sätzen erfreuen konnte, ist wohl lebenslang unzugänglich für ideologische Beschneidungen des bunten Lebens!

Inzwischen ist es auf diesem Feld deutlich ruhiger geworden: Natürlich existiert die Sparte weiterhin, in welcher manche Menschen das tanzen, was sie für traditionell halten. Aber gerne, sollen sie doch! Diese Variante jedoch zur „Pflichtform“ des Tango zu machen, hat nicht funktioniert. Das Bedürfnis nach Milongas mit vielfältiger Musik scheint zuzunehmen – und auch viele Organisatoren haben wohl begriffen, dass man nicht mehr Gäste anlockt, wenn man sie in ihrer Freizeit mit Verhaltensregeln überzieht. Selbst knochen-konservative Tangovereine bemühen sich derzeit, sich durch vermehrte Zulassung moderner Musik ein liberaleres Image zu geben. Und im Netz ist die Blechtrommel für den Rückschritt inzwischen fast verstummt – stattdessen gibt es eine größere Anzahl viel gelesener Blogs, die für Toleranz und Vielfalt werben.

Dies macht mich sehr froh – nicht nur deshalb, weil ich mir daran einen gewissen Anteil zuschreibe.

Eine vollständige Rückkehr zum „T 9“ wie in der Bildungspolitik? Ach, muss gar nicht sein! Ich wäre damals mit einer achtjährigen Variante für begabte Schüler einverstanden gewesen. Und völlig vergleichbar: Hätte man vor Jahren die „traditionelle Milonga“, Mirada, Cabeceo & Co. als eine gleichberechtigte Variante im Tangoleben propagiert, hätte ich zwar klargemacht, auf welcher Seite ich stehe, mehr aber auch nicht. Und immerhin habe ich auf konservativen Milongas noch mehr Spaß als beim Betrachten von „Lets dance“ im Fernsehen – denn da kann ja wenigstens einer im Paar tanzen…

Aber nein, man musste diese ganzen Versatzstücke (in der Schule wie im Tango) ja als Elemente des höheren Seins verkaufen… Ab genau diesem Punkt werde ich bockig!

Abschließend eine ziemlich aktuelle Anekdote, welche den momentanen Trend recht treffend beschreibt:

Als ich es vor fast zwei Jahren wagte, mich mit einer Satire der (inzwischen kaum noch existenten) Welle der „Cabeceo-Seminare“ entgegenzustellen, zog ich mir aus diesem Lager eine Flut von Beschimpfungen zu. Unter vielen anderen schrieb damals ein Tanguero, welcher inzwischen als Tangolehrer und Veranstalter agiert:

„Herr Riedel scheint augenblicklich ein ziemlich unbefriedigtes Ego zu haben - sonnst würde er sich seine zynischen Kommentare verkneifen.“ Er würde als Frau in solchen Kursen gerne lernen, „wie ich mir solche Stinkstiefel vom Leib halte“.

Nun, inzwischen bin ich gern gesehener Gast auf seinen (übrigens empfehlenswerten) Milongas mit gemischter Musik, er fordert (sehr erfreulich) stets fast alle weiblichen Besucher auf – allerdings, was ich bemerkenswert finde: Meist ohne Cabeceo – nein, er geht einfach hin und fragt. Seine Partnerin hat mich auch schon zum Tanz gebeten und ich sie ebenfalls – allerdings jedes Mal per Cabeceo.

So schön und widersprüchlich kann Tango sein!

P.S. Wer's nochmal nachlesen will:
http://www.robinson-riedl.de/index.php/bitterboeser-lehrer-retter-start 


P.P.S. Meine Leserin Sandra hat mich zum Thema „Überforderung am G 8“ auf folgendes Video aufmerksam gemacht:



Thomas Kröter verdanke ich den Hinweis, dass auf „Facebook“ diskutiert werde, ob dieses Tangostück „tanzbar“ oder doch „zu experimentell“ sei:



Kommentare

  1. Markus Betz, WI8. April 2017 um 19:24

    zu Thema 1: Echt unglaublich, :-((
    zu Thema 2: Echt unglaublich, :-((

    Und ansonsten, recht haste:(..)So schön und widersprüchlich kann Tango(und das Leben)sein!(..)

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    1. ...und manchmal wird vieles klar, wenn man scheinbar Unvergleichliches vergleicht!

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  2. Lieber Gerhard,

    zwar schon ein paar Tage alt, aber ich muss meinen Senf dazu geben.

    zu G8: war es nicht eigentlich nur eine Frage der Zeit? Ich versuche manchmal, im Schlechten noch was Gutes zu finden....muss aber hier ziemlich schwer nachdenken...vielleicht hat es zumindest ein paar überambitionierte Eltern davon überzeugt, dass ihre Kinder eben nicht auf's Gymnasium gehören.
    Mit den "Folgen" von G8 werden "wir" uns auch noch eine Zeitlang rumschlagen müssen. Zumindest empfinde ich das so, wenn mein lieber Gatte erzählt, wie wenig vorgebildet die Studenten bei ihm ankommen im Vergleich zu früher und mit welchem geringem Verantwortungsbewusstsein und welch schlechter Arbeitseinstellung die künftige "geistige Elite Deutschlands" bei ihm Examen machen. Bevor sie ihrerseits auf die "künftige geistige Elite Deutschlands" losgelassen werden.
    Hört sich bissl an als beißt sich da die Schlagen selbst in den Schwanz...

    zu T8:
    Ich stell mir das so vor wie die Entwicklungsphasen bei Kindern: Da ich da gerade ein bissl mitreden kann ;-) , empfinde ich dieses EdO und Codigos-Aufstellen-Gehabe momentan wie die Trotzphase bei 3jährigen. Und da hilft ja bekanntlich nicht viel, außer:
    durchhalten
    und
    sich immer wieder selber sagen:
    "es ist eine Phase....es ist eine Phase....es ist eine Phase...."

    Liebe Grüße in den Süden!
    Sandra

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    1. Liebe Sandra,

      leider hat das G 8 die Eltern eher motiviert, ihre Kinder ans Gymnasium zu schicken: Die Übertrittsquote war 2001 noch 34,4 %, der signifikante Anstieg erfolgte ab 2004 (G 8-Einführung) auf nunmehr 40,5 %. Ist doch klar: Man musste das Level ja um fast ein Jahr runterschrauben – bei einem G 7 lägen wir wohl (wie andere Bundesländer schon jetzt) bei mehr als 50 %.
      (Ältere Übertrittsquoten sind im Netz vorsichtshalber nicht mehr zu finden – ich schätze, sie lagen zu meiner Schülerzeit um die 20 %).
      Die Kehrseite sind dann Studienabbrecher-Quoten von rund 30 % (in den mathematisch-technischen Fächern um 50 %).
      Mit den Unis (und der Wirtschaft) habe ich da null Mitleid – genau von dieser Seite wurde nämlich jahrzehntelang für eine Verkürzung der Gymnasialzeit getrommelt.
      Ein Tipp: Realistische Bewertungen könnten helfen – aber da will sich ja heute kaum noch wer als „Quäler der armen Kinder- (oder Studenten-)seele" unbeliebt machen…

      Zum T 8: Völlig einverstanden – vielleicht mit dem Zusatz: den „kleinen Terroristen“ nicht alles durchgehen lassen (ich meine natürlich den Tango…).

      Liebe Grüße
      Gerhard

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  3. Lieber Gerhard,

    nochmal zum G8: das ist ja interessant, dass Zahlen, Daten und Fakten mal wieder nicht das wiederspiegeln, was man landläufig annehmen sollte, wenn man den Aussagen der gestressten Eltern von G8-Schülern Glauben schenken mag. Dass das nämlich alles soooo viel wäre seit dem neuen Lehrplan G8 und dass die armen Kinder ja nicht mal mehr einen Sport machen können oder ein Musikinstrument spielen, denn da wäre ja soooo viel Nachmittag-Unterricht und die Hausaufgaben wären ja soooo viel, das schaffen die armen Kinder nicht mal in der mittags anschließenden Hausaufgabenbetreuung und dass man JEDEN Abend noch mit den Kinder da sitzen würde....

    Ach da fällt mir ein super Video ein. Kann man verlinken?
    https://www.youtube.com/watch?v=OXIgVkmHQTE

    Vielleicht trifts das am Besten?

    ;-)

    Nochmal liebe Grüße
    Sandra

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    1. Liebe Sandra,

      das mit der Überlastung mag quantitativ stimmen, qualitativ sicher nicht!

      Zum Thema "Hausaufgabenbetreuung": Als ich noch im Dienst war, trieben sich viele Schüler am Nachmittag lieber irgendwo im Schulhaus rum - Hausaufgaben machte da nur eine Minderheit!

      Ich hab das Video oben in den Text gestellt, zusammen mit einem höchst passenden Tangobeispiel.

      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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