Tempi passati



Angeblich stammt das Zitat von dem römisch-deutschen Kaiser Joseph II. (1741-1790). In seiner Regentschaft drängte er den Einfluss des Adels und der Kirche zurück. Gemäß seinem „Toleranzpatent“ wurde das Glaubensmonopol der katholischen Kirche gebrochen – zugunsten von Protestanten und Juden.

Bei einem Besuch des Dogenpalasts in Venedig wollte man ihn diplomatisch an einem Gemälde vorbei leiten, das den Kniefall Friedrich Barbarossas vor dem Papst Alexander III. (1177) zeigt. Joseph II. allerdings blieb gelassen vor dem Bild stehen und kommentierte es mit den obigen Worten – zu Deutsch: „vergangene Zeiten“.

Wenn ich auf einer bestimmten Milonga bin, muss ich jedes Mal daran denken, dass dort unsere Tangokarriere eine entscheidende Wendung nahm: Es war 2005, als wir nach einem rauschenden Tanzabend – und noch völlig im Endorphinrausch – beschlossen, unsere Laufbahn als Turniertänzer im Standard/Latein-Bereich aufzugeben und uns künftig auf den Tanz vom Rio de la Plata zu konzentrieren.

Mehr noch: Entscheidende Impulse für mein späteres Auflegen erhielt ich vom dortigen DJ, der es wunderbar verstand, traditionelle Aufnahmen mit modernem Tango zu verbinden, und so ein mitreißendes Musikprogramm bot. Beispielhaft für mich immer noch „El tango de Roxanne (eine gigantisch-dynamische Version des Mariano Mores-Titels „Tanguera“ aus dem Musical „Moulin Rouge“), den ich immer noch gerne auflege – und noch lieber tanze.

Trotz der weiten Anfahrt waren wir sehr oft zu Gast auf diesem Tangoabend. Nach wie vor ist der selbige DJ aktiv, allerdings mit feinem Gespür für den sich drehenden Wind: Seit einigen Jahren gibt es, wie auf vielen Milongas, weitestgehend traditionelle Aufnahmen – nun, wenigstens fachkundig ausgesucht und schön zusammengestellt. Der Mann versteht etwas vom Geschäft – keine Frage.

Neulich waren wir dort wieder einmal zu Gast – nach einer ziemlich langen Pause (auf deren Gründe ich nicht eingehen will, um konkrete Rückschlüsse möglichst zu verhindern). Nur so viel: Es waren äußere Einflüsse, die nichts mit unserer Sympathie für diese Veranstaltung zu tun haben.

Wir sind dann früher als geplant wieder heimgefahren, weder traurig noch erzürnt, aber doch in dem festen Bewusstsein: Hätte sich uns dieser Eindruck vor mehr als 11 Jahren geboten, würden wir heute noch vorwiegend Standard und Latein tanzen.

Lag es an der Musik? Wohl eher nicht: Die Tandas waren, wie stets, sorgfältig ausgesucht und gut zusammengestellt. Ob der DJ seine übliche „Alibi-Neo-Runde“ kurz vor Schluss noch bot, haben wir nicht mehr mitbekommen – ist ja auch egal.

Das „Tangogefühl“, weswegen wir früher diesen Ort so oft wie möglich aufsuchten, sprang allerdings nicht auf uns über. Von wo aus auch? Es war schlicht nicht anwesend.

Der Grund ist wohl, dass sich dort in relativ kurzer Zeit ein dramatischer Personalwechsel vollzogen hat: Von den „bunten Vögeln“, welche einst diese Milonga mit ihrer Ausstrahlung und ihren verschiedenartigen Tanzstilen bevölkert hatten, war kaum noch etwas zu sehen. Den Großteil der Gäste kannten wir schlicht nicht – und es gab auch keinen Anlass, sich diese zu merken. Man hätte meinen können, dass die meisten Tango beim selben Lehrer gelernt hätten: Beinahe identische kleine Tanzfigürchen – kennst du einen, kennst du (fast) alle. Allerdings: Einige der „Sparsam-Tänzer“, welche früher eher eine drollige Begleiterscheinung darstellten, waren fast alle noch da und fühlten sich in dem veränderten Biotop offenbar pudelwohl – wer kann es ihnen verdenken?

Na klar, und man kann ja unmöglich einen wirbelnden Laurenz-Vals wie „Mascarita“ mit der innewohnenden Mega-Dynamik interpretieren! Ich weiß schon: Hehres Ziel des traditionellen Tanzstils ist die Umsetzung der Musik. Guter Witz…

Eine Stimmung wie bei anderen Hochämtern: Starre Mienen, abgehobener Blick – fürwahr, Tango ist kein bisschen lustig! Unser Vergnügen beschränkte sich darauf, uns an alte Spitznamen für einzelnen Individuen zu erinnern wie den „Kontaktlinsensucher“ oder den „Tänzer mit Fernsteuerung“ – und bei einem alten Bekannten, der bei uns auf ein pädagogisches Pseudonym hört, bemerkte ich während des Vorbeitanzens zu meiner Frau: „Schau mal, sein Hawaii-Hemd hat inzwischen gekalbt!“ Es spricht für den kindischen Charakter meiner Gemahlin, dass sie daraufhin nur noch mühsam weitertanzen konnte…

Man muss es neidlos anerkennen: Das Konzept trägt sich – der Laden war rappelvoll. Selbst der lokale „Tango-Papst“ gab sich (und dem Rest!) die Ehre, wie immer in Begleitung eines branchenüblichen „Tango-Schneggerles“ und natürlich nur mit selbigem eine kultische Pflichtrunde drehend. Sein Problem – hätt‘ er halt was Anständiges gelernt…

Der Zustrom ist logisch: Die paar Schritte, die man dort – zumal im Gedränge – braucht, lernt jeder Depp in einem halben Jahr und kann sich hinfort, in engster Umarmung des anderen Geschlechts, eines exklusiven Hobbys rühmen. Na gut, sollen sie doch – sind sie wenigstens weg von der Straße, ohne dort für Sachen zu demonstrieren, welche ich mir ungefähr ausmalen könnte.

Aber selbst die dorten nun übliche Musik ging Einzelnen wohl schon zu weit: Bei Milongas war die Fläche halb leer (werden wohl demnächst als artfremdes Element abgeschafft), und als ein Sänger es am Ende eines romantischen Tangos wagte, den Schlusston, leise verklingend, zwei Ganztöne lang auszuhalten, platze in die Fast-Stille der Ausruf einer Tänzerin: „Laangweilig!“

Tja, Mädel, wenn du wüsstest, wie recht du hast – nur nicht so, wie du meinst…

Und so schließt sich der Kreis zum obigen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches: Vielleicht standen wir ja neulich, im Gegensatz zu ihm, vor einem alten Bildnis der Vielfalt und Toleranz. Unsere Erkenntnis glich dennoch seiner: „Tempi passati“!

Na gut, tanzen wir halt wieder katholisch

P.S. Und weil's dennoch anders schöner anders ist:
 

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