Plätschern im Krokodilbecken
Der langjährige Münchner Tangolehrer Michael G. Kronthaler („Tango-X“) hat am 28.11.16 einen bemerkenswerten Text veröffentlicht. Da dies auf der Facebook-Seite „Tango München“ geschah, werde ich meine Gedanken dazu lieber nur hier veröffentlichen: Sich dort gegen den „Heiligen Geist des traditionellen Tango“ zu äußern, kann erfahrungsgemäß zu Löschungen oder zumindest wüstem Geschimpfe führen. Auf beides habe ich nicht direkt Lust, und es würde den Fokus vom Artikel nehmen.
Hier zunächst Michael Kronthalers Text:
Gedanken über den Tango
Tangotanzen macht
Spaß. Es haben sich vielfältige Stilrichtungen entwickelt, so dass für jeden
etwas dabei ist: „Von tango-super-traditional ohne Kreativität über Tango
clasico und Nuevo bis hin zu super-kreativ ohne Tango“.
Zirka von 2003 bis in
etwa 2010 lag das Hauptgewicht der Tango-Entwicklung beim Tango Nuevo. Es
wurden viele Figuren erfunden oder wiederentdeckt, wie beispielsweise Colgadas,
Volcadas oder Soltadas (die Liste lässt sich lange fortsetzen). Takt und Rhythmus
dienten als gemeinsame Synchronisierungspunkte, um gemeinsam weit und
ausdrucksstark zu tanzen.
Obendrein brauchte
man Platz
Der Nuevo war auch
für den Mainstream ein wunderbares Mittel, sich auszudrücken. Man wollte sich
darstellen. Das „Gemeinsame innerhalb des Paares“ und die Musik traten in den
Hintergrund. Überspitzt formuliert: Der Partner diente als Stütze für die
eigenen Moves, da stört rhythmische Tangomusik. Nun kam die Zeit der Non-Tangos
mit weiten, ausladenden Bewegungen (und den vielen Karambolagen).
Non-Tangos erzeugen
ein gleichmäßiges, monotones Tanzen.
Während dieser Zeit
keimte im „Underground“ eine Gegenströmung. Die Hinwendung des Tangos in die
traditionelle Richtung, verbunden mit dem Know-how des Nuevo. Stilmittel dieser
neuen Richtung waren enges Tanzen, innige Umarmung, kleine und genaue Schritte
in der Musik, wobei man versuchte, Nuevo-Figuren auf kleinstem Raum
unterzubringen. Hervorragend klappte dies bei den verschiedenen Colgadas und
Volcadas sowie bei Ganchos und Boleos. Dieser neue, eng getanzte Tango rückte
auch in den Fokus junger Tänzerinnen und Tänzer. Es gab eine große Anzahl
junger Lehrerpaare, die weich, geschmeidig und supereng jede Art von
Tango-Musik hervorragend interpretierten. Sie tanzten jedoch kaum auf Non-Tango-Musik.
In der Regel fehlen dieser Musik akzentuierte Startpunkte für die
Beschleunigung, um dynamische Schritte auszuführen.
In den letzten Jahren
drängten die meisten Tangotänzerinnen und -Tänzer in die Milongas, in der
vornehmlich traditionelle Musik aufgelegt wurde. Das Tanzniveau wurde spürbar
nach oben gehoben. Wie beim Tango Nuevo, wo sich im Höhepunkt zugleich sein „Untergang“
signalisierte, deuten die Zeichen der Zeit darauf hin, dass sich dieses gerade
bei dem neuen, engen Tanzen wiederholt.
Verbote mindern
Empathie
In den sogenannten
Encuentros entwickelten sich strikte Regeln (Codigos): Cabeceo, Tanzen in
Spuren, Verbot bestimmter Figuren (typischerweise Ganchos oder Boleos). Ein
Reizthema in den Encuentro-Milongas ist die Musik. Gerne wird Musik aus der
Entwicklungsgeschichte des Tango bis hin zur sogenannten „Goldenen Ära“
aufgelegt. Musik aus dieser Zeit passt mit dem heutigen, weiter entwickelten
Tango nicht zusammen, allenfalls mit dem Tangostil des vorigen Jahrtausends.
Rigide Regeln bedingen zudem einen Typ von Tänzerinnen und Tänzern, denen die
Einhaltung von Richtlinien wichtig ist. Das Tanzen wird unökonomischer,
unmusikalischer und rücksichtsloser.
Das macht nicht
(mehr) jeder mit; zudem für Kreative kaum „Luft zum Atmen“ bleibt. Das Spiel
beginnt von vorne. Wieder verändert sich der Tango. Je nach Sichtweise, ein
wieder erwachender, eng getanzter „Nuevo“ oder ein etwas weiter getanzter
Clasico mit anspruchsvoller Tangomusik, die sich durch ihre typische
Vielschichtigkeit der musikalischen Ebenen auszeichnet. Tanzpaare können sich
im Tango differenzierter ausdrücken: von einfach getanzten Schritten bis hin zu
engen Nuevo-Figuren. Das Niveau wird nochmals steigen; zudem wird es ein
Revival der „alten“ Nuevo-Figuren geben, kombiniert mit den kleinen, feinen,
schnellen Schritten des Clasico. Soltada-Kombis, Nuevo-Ganchos und -Boleos –
sie alle werden in veränderter Form wieder kommen.
Hier
der Originalbeitrag inklusive Kommentare:
Meine
Sichtweise unterscheidet sich in etlichen Punkten von der des Autors: Die
genaue Abfolge der einzelnen Stile erscheint mir etwas konstruiert. Tatsächlich
glaube ich, dass da vieles nebeneinander her lief – je nach Szene und
Tangoschule. In der Summe trifft es aber völlig zu, dass die tänzerische
Entwicklung der letzten 20 Jahre vom Nuevo zum heutigen traditionellen Stil führte, von mehr Abstand im Paar sowie teilweiser Auflösung des Kontakts zur
heutigen engen Umarmung.
Ob
in dieser nun so viele Nuevo-Elemente integriert sind, ja sich überhaupt ohne
große Probleme einbauen lassen, sehe ich auf den Tanzflächen nicht – eher eine
totale Reduktion hin zu kleinen, fast automatisierten Bewegungen, die sich
ständig wiederholen und ausschließlich mit der EdO-Musik kompatibel sind: Daher
ja auch das verbissene Festhalten an diesen Aufnahmen! Von einer „Erhöhung des
Tanzniveaus“ ist mir in diesem Zusammenhang nichts bekannt – viel eher das
Gegenteil.
Inwiefern
der Nuevo-Tanzstil die Gemeinsamkeit im Paar plus die Musik in den Hintergrund
treten lässt und der Partner nur als Stütze für die eigenen Moves dient, müsste
mir der Autor, welcher ja diese Tangosparte jahrelang unterrichtet hat, noch
erklären. „Karambolagen“ waren früher ebenso selten wie heute – dieses
Alibi-Argument muss man nun wirklich nicht noch öfter aufwärmen! Und: Monoton sind
nicht nur viele „Non Tango“-Stücke…
Entsprechend
hat es der traditionelle Stil nicht verdient, mit Vokabeln wie „unmusikalischer und rücksichtsloser “
charakterisiert zu werden – das ist er nicht, nur langweilig und verkopft.
Dennoch
halte ich den Text für wertvoll und bedenkenswert – schon eine Aussage wie „Verbote mindern Empathie“ rechtfertigt
diese Zeilen. Zutreffend sieht der
Autor keine Entwicklung hin zu einem „ultimativen Tango“, sondern eine
schlichte Abfolge von Moden und Trends, die keinen Endpunkt kennt – und erst
recht nicht die Rückkehr zu dem, was er den „Tangostil des vorigen Jahrtausends“ nennt.
Allerdings,
und da bin ich weniger optimistisch, ist derzeit der Zulauf zum reduzierten
„EdO-Tango“ ungebremst – und die für diesen Sektor typische
Persönlichkeitsstruktur wird sich die Butter nicht leicht vom Brot nehmen
lassen, sondern die eingeübten Rituale mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Umso
mehr Anerkennung verdient es, dass sich ein altgedienter Tangolehrer ins
Krokodilbecken wagt und ziemlich heftig gegen den momentanen Hype anschreibt. Immerhin macht sich da einer seine eigenen Gedanken, statt mit den Wölfen das Loblied des historischen Tangos zu singen.Bislang
sind die Kommentare auf Facebook eher zustimmend und konstruktiv. Wollen wir
hoffen, dass es so bleibt – der Text hätte es verdient!
Und da sagt man immer, ich hätte was gegen Tangolehrer...
Und da sagt man immer, ich hätte was gegen Tangolehrer...
Nachtrag:
Wie
ich schon vermutet habe, treten auf der besagten Facebook-Seite nun natürlich
die bekannten Propheten des Traditionstangos auf. So präsentiert Theresa Faus ihr
geläufiges Bekenntnis, der Tango sei so kreativ, dass er auch spurtreu und platzbeschränkt
noch genügend Raum zur Entfaltung lasse. Prinzip: Die Freiheit wird größer, wenn man sie einschränkt.
Selbstredend
ist dieser simpelster Logik widersprechende Standpunkt argumentativ ebenso
wenig zu retten wie Edmund Stoibers Ankündigung im Jahr 2005, das achtjährige
Gymnasium würde mehr Bildung vermitteln als das bisherige G 9. Im Unterschied
zum Tango kehrt man inzwischen klammheimlich wieder zur neunjährigen Form
zurück, und von den Hofschranzen, welche diesen Unsinn dereinst abgenickt
haben, ist keiner mehr im Amt…
Der
Münchner Tradi-DJane gelingt dabei allerdings eine Formulierung, die man sich
schon auf der Zunge zergehen lassen sollte:
„Und dass die Musik eindeutig bestimmt, wann man sich im
Raum bewegt und wann man auf der Stelle tanzt, leuchtet mir nicht ein. Welche
Inspiration man der Musik entnimmt und welche Bewegung man damit macht, ist
doch sehr subjektiv.“
Na
gut, zum ersten Teil sollte sie mal einen Choreografen oder Balletttänzer fragen…
Aber wenn dem schon so sein sollte – warum dann nicht jedem seinen subjektiven
Stil lassen anstatt ihn mit Verboten einzuschränken?
In
seiner Replik stellt Michael Kronthaler zutreffend fest;
Der Tanz wird nicht durch Regeln effizient, musikalisch
und innig. Das ganz natürliche Miteinander sollte für rücksichtsvolles,
höfliches, respektvolles Verhalten sorgen. Solche „natürlichen“ Regeln erzeugen
Empathie und Harmonie. (…) Werden die „künstlichen“ Codigos noch in „Stein
gemeißelt“, sprich auf Papier gebracht und in Milongas propagiert, dann
bekommen diese ein solches Gewicht, dass die natürlichen Regeln der Bewegung
und Höflichkeit überschrieben werden.
Insgesamt
fällt mir in letzter Zeit zunehmend auf, dass sich allenthalben Widerspruch
regt, wenn mal wieder das Mantra vom „regelkonformen“ Tango ertönt. Ist dies
gar ein Hoffnungsschimmer?
Ich glaube auch, daß die Tanzstile, ähnlich anderen Moden, zyklisch sind (das heißt nicht, daß man sich einfach zurücklehnen und warten sollte, bis der Wind wieder aus der für einen selbst richtigen Richtung bläst).
AntwortenLöschenIn einem Punkt würde ich dem Autor allerdings widersprechen - daß große Bewegungen immer ein Indiz für Egozentrik sein müssen (erinnert mich ein wenig an TV of A' Exhibitionismusverdacht). Genauso kann es das genußvolle gemeinsame Erleben von Bewegung sein, die in ihrer Größenskala und ihrem Energiegehalt der Dimension des menschlichen Körpers entspricht.
Aber natürlich - völlig klar!
AntwortenLöschenAußerdem besteht beim Tanz stets der Antagonismus, sich so zu bewegen, wie es einem selber gefällt, in der Hoffnung, dass es auch dem Partner und der Umgebung zusagt.