Museums-Muse
Die
bekannte argentinische Tangolehrerin Susana
Miller hat auf ihrer Facebook-Seite einen Text zum „richtigen“ Auflegen
veröffentlicht:
Dieser hat unter den hiesigen DJs (und sonstigen “Experten”)
eine heiße Diskussion entfacht, vor allem in der Facebook-Gruppe „Tango-DJ-ing - Tools, tricks, tips &
topics: https://www.facebook.com/groups/1561200534159741/ (Beitrag vom
20.11.16)
Ich
habe den Text der Tanzpädagogin aus
Buenos Aires übersetzt:
„Die Aufgabe eines
DJs ist es, die emotionale Spannung einer Milonga aufrecht zu erhalten und
zugleich die Tänzer zu ‚erziehen‘, welche auf dem Parkett neu sind. Manche DJs
spielen Musik, die keiner kennt. Solche DJs sollten sich besser der Archäologie
statt der Musik widmen, weil ihre Tangos der Tangogemeinschaft nicht dienlich
sind. Wenn sie Buenos Aires besuchen, kaufen sie Dutzende von CDs in den
örtlichen Plattenläden; auf die meisten davon kann man nicht tanzen. Was sie
tun sollten, ist, sich eine oder zwei gute Sammlungen anerkannter DJs in Buenos
Aires zu besorgen und von den Meistern zu lernen. Warum zu Kopernikus
zurückkehren, wenn wir uns heute mit Quantentheorie beschäftigen?
Musik ist die Muse,
die inspiriert, sie ist die Königin. Die Qualität eines guten DJs beginnt
damit, die Musik zu respektieren, anstatt sie seinem Ego zu unterwerfen. Wenn
DJs experimentieren wollen, sollen sie das zu Hause machen.
Die Musik, zu welcher
soziale Tänzer tanzen, ist eine Art von Mantra. Sie hat einen festen Takt, so
wie der Schlag unseres Herzens, und sie kommt aus den Tiefen der Kultur, aus
einem Kessel von Leidenschaften, Freuden, Leiden und sogar aus aus ihrem
eigenen Gefühl von Humor. Wir finden das im Flamenco, in all den Tänzen
Zentralamerikas, im Hula, im afrikanischen Tanz usw. Entweder man ist in diese
Kultur hineingeboren oder man braucht Jahre, es zu verstehen.
Zu lernen, wie man
auf einer Milonga Musik auflegt, erfordert ebenso viel Zeit wie tanzen zu
lernen. Der Unterschied ist, dass man mit dem eigenen Körper tanzt und die
Schritte nicht überspringen kann, welche einen auf das Niveau bringen, das man
erreichen will. Im Gegensatz dazu wird die Musik von jemand ausgewählt, der
sich durch die Arbeit mit einer soliden Sammlung von Tangos ausgebildet hat.
Jedenfalls stammt die Musik stets von jemand anderem, und auf einer Milonga
gibt es nichts Neues unter der Sonne.
Die Musik, auf welche
wir tanzen, geht nicht über 1300 Titel hinaus, die Tango, Vals und Milonga
umfassen. Außerhalb Argentiniens verwenden DJs um die 5000 Aufnahmen. Aber
Kreativität beruht auf dem Wissen, wie man Tandas abwechselt, in der Vermeidung
eines „Karussells“, in der Auswahl der Cortinas, der Entscheidung, wie lange
diese dauern sollte – und, vor allem, dem Verständnis der Stimmung auf der
Tanzfläche.
Option 1: Öffne den
Kühlschrank, nimm Lebensmittel aus den Fächern und koche ein köstliches
Gericht.
Option 2: Gehe in den
Supermarkt, kaufe teures Essen und bereite ein mittelmäßiges Gericht zu.“
Meine
Anmerkungen dazu:
Für
mich ist ein DJ kein Erzieher,
sondern ein Unterhalter: Er liefert
Musik, zu welcher die Gäste (hoffentlich) gerne tanzen (oder auch einfach mal
zuhören). Neulinge „einzunorden“, damit sie „richtige“ von „ungültiger“
Tangomusik unterscheiden können, ist eine Anmaßung. Gerade beim Tango gibt es
oft Gäste, welche zwar in diesem Genre unerfahren sind, sich jedoch seit vielen Jahren
mit Musik beschäftigen. Und auch, wenn nicht: Erwachsene, die einem
Freizeitvergnügen nachgehen, brauchen keine Belehrungen – weder zu Benimmregeln
noch zu einem (angeblichen) künstlerischen Wertekanon! Wir sprechen bei den Titeln der EdO über Unterhaltungs-, Tanz- und Schlagermusik – und über nichts weiter.
Musik
zu spielen, „die keiner kennt“, dürfte zum täglichen Brot von
Platten-Jockeys gehören. Man mag es bedauern oder nicht: Der durchschnittliche
Milongabesucher kann keine drei Tangoorchester auswendig aufsagen, sondern beurteilt
höchstens äußerst subjektiv, ob ihm die Musik gefällt und er darauf tanzen
möchte. Ob ihn dabei eher Neues oder Bekanntes reizt, ist Persönlichkeitssache:
Manche Menschen essen zum Frühstück seit Jahren eine Semmel mit der gleichen Marmelade,
andere hingegen wandern nach Südamerika aus und erfinden den Tango…
In
Statements dieser Sorte wird gerne der Popanz einer „Tangogemeinschaft“
aufgebaut, welche autokratisch bestimmt, was ihr „dienlich“ sei, worauf
man tanzen könne und wozu nicht, welche Protagonisten als „anerkannt“ zu
betrachten seien, wer nun als „Meister“ oder Knecht gelte. In dieser
Oligarchie teilt man dann Geheimbotschaften
über Tandas aus derselben Studiositzung (und dem identischen 4. Bandoneonisten), welche das Gros auf der Tanzfläche keinen Deut interessieren. Und womit?
Mit Recht!
Das
alles wäre ja ein eher possierlicher Spleen, wenn dieser Tango-Klux-Klan nicht
ex cathedra Verdammnisurteile über gotteslästerliches Auflegen verhängen würde.
Glücklicherweise sind dabei Eigentore nicht selten: Wer beschäftigt sich denn beim
Tango mit „Archäologie“ oder will von der Quantenphysik zurück zu Kopernikus?
Ich habe da so eine Ahnung… Musik findet sich auf Scheiben, die ganze Welt
jedoch nicht!
Und
vielleicht zur Ihrer ästhetischen Weiterbildung, Frau Miller: Unter den neun „olympischen Musen“ Hesiods gibt es
zwar eine für Astronomie (Urania) respektive Tanz (Terpsichore), aber keine für
Musik! Dennoch nicht fehlen dürfen in diesem Zusammenhang natürlich wabernde
Beschwörungen des klanglich-rhythmischen „Mantras“, von geheimnisvollen
Tiefen der Kultur, Herzschlag, Blut, Boden und umliegender Dörfer, welche man
erst verstehen könne, wenn man da „hineingeboren“ sei oder es
zumindest in jahrelangem Minnedienst verinnerlicht habe: Das verdammt 95
Prozent der Kritiker schon mal zum Schweigen… Klar, nur der Cowboy darf Cola
trinken! Wie wäre es in der Hinsicht mit etwas Respekt, nicht nur der Musik
gegenüber, anstatt das alles „seinem Ego zu unterwerfen“?
Ausgerechnet
den Tango unter das Adenauer-Motto „keine Experimente“ zu stellen, ist
eine eigene Satire wert: Was haben denn die Auswanderer mit ihren jeweiligen
Volksmusiken gemacht, damit daraus der Tango entstand? Guardia vieja, guardia
nueva, Tango nuevo, Neotango – stets hat man Neues probiert, das sich die Vertreter
der bisherigen Richtung zunächst nicht vorstellen konnten. So ist das in der
Geschichte der Kunst!
Was
Frau Miller sucht, sind keine DJs, sondern Museumsverwalter
– oder bestenfalls Plätzchenbäcker: Aus ihrem 1300 Stücke-Teig dürfen sie dann
wahlweise Herzchen, Quadrate oder Sternchen ausstechen. Womit wir bei der
Bruchlandung ihrer Kühlschrank-Metapher wären: Mir sind unterschiedliche Backzutaten
(gerne auch unbekannte) lieber. Dann darf der Bäckermeister auch ruhig ein
Ego-Booster sein: Hauptsache, es schmeckt!
Aber
wer erwartet, dass Tangolehrerinnen auch backen (oder gar kochen) können? Es
erfordert sicher lange Jahre, bis man sich die Fähigkeiten einer
Tanzlehrerin erwirbt. Man sollte diese Zeit nicht mit pseudo-kulturkritischen
Aufsätzchen vergeuden.
Wahrlich,
unter der Sonne gibt es immer wieder etwas Neues – wenn dies unter dem
Millerschen Gestirn anders sein sollte, handelt es sich vielleicht doch nur um
eine Petroleumfunzel aus grauer Vorzeit.
Nein,
als Muse suche ich mir (nicht nur beim Tango) Persönlichkeiten, wie sie der
begnadete Stegreif-Rhetoriker Natias
Neutert unter dem Titel „Anrufung“
beschrieben hat:
O ihr
Musen,
pegasüsse
Kreatürchen
lasst
uns tanzen, singen, schmusen
bis es
wie am Schnürchen
läuft
bei mir, ja überschäumt,
weil
sich die Wünschelrute bäumt.
So
lasst mich euer Rotkehlchen sein
und ab
und zu euer Trüffelschwein.
Damn right, Gerhard. Oder wie der Japaner sagt: sososo. Selbiger Japaner würde auf Frau Millers schräges Kühlschrankbild mit einem herzhaften "????" reagieren: Wie gelangen denn die Zutaten dort hinein?
AntwortenLöschenTja, ich hoffe, durch die Tür (und nicht per Eigenwachstum)...
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