Karin Law Robinson-Riedl: Der Kanon im Koffer
Derzeit ist man im
Tango ja fröhlich dabei, einen „Kanon“ tänzerisch wertvoller Musik
zusammenzuzimmern, selbstredend ausschließlich aus Aufnahmen der inzwischen mehr
als 70 Jahre zurückliegenden „Goldenen Epoche“. Auf einen entsprechenden Text
der Tangolehrerin Susana Miller bin
ich im letzten Beitrag eingegangen:
Eine Frage lag für
mich nahe: Wie ist das eigentlich in der Literatur oder der „E-Musik“? Gibt es
da auch „Kanons“, welche derartig mit Zähnen und Klauen verteidigt werden?
Wie schön, dass ich
mit einer studierten Germanistin und Romanistin zusammenlebe, die sich außerdem
seit mehr als 50 Jahren (auch als ausführende Künstlerin) mit Musik beschäftigt
und „nebenbei“ noch Tango singt, spielt und tanzt! So habe ich meine Frau um
eine kleine Expertise zum Thema gebeten. Ich freue mich sehr, ihren Text als Gastbeitrag
veröffentlichen zu dürfen:
Der Kanon im Koffer
Anno
2004 beherrschte ein kurioser Streit die literarische Szene in Österreich: Der
Journalist und Schriftsteller Günther
Nenning (1921-2006) plante, eine Sammlung von Werken österreichischer
Autoren unter dem Titel „Austrokoffer“
herauszugeben. Die Auswahl der Schriften nahm er ganz alleine vor, angeblich
wurde sein Projekt unterstützt vom damaligen konservativen Bundeskanzler Wolfgang
Schüssel.
Nicht
alle „erwählten“ Dichter waren jedoch erbaut darüber, unverhofft zu solchen
Ehren zu gelangen. Die Aufnahme ihrer Werke in
einen „nationalen Kanon“ schien nicht immer willkommen. Schon der Titel
des Werkes wurde als „grauslich“
(Peter Handke) empfunden!
Nach
vielen Debatten verschwand der „Austrokoffer“ schließlich in der Versenkung,
aber Nenning durfte 2005 noch dessen Wiederauferstehung, nun unter dem Titel
„Landvermessung“ und mit lizenzierten Schriften, erleben – einer
repräsentativen Sammlung österreichischer moderner Literatur seit 1945: 21
Bände umschließen 8000 Seiten von 139 Autoren.
Was
will uns diese Geschichte sagen?
Ein
literarischer Kanon ist nicht
allgemein und für alle Zeiten definierbar, hängt seine „Gültigkeit“ doch von
historisch bedingten und somit wandelbaren Denkweisen und Wertesystemen ab, die
politischen, ethischen, religiösen, ja auch individuellen Vorstellungen und
Zielen unterliegen.
„In einem
‚Spiegel‘-Gespräch mit Volker Hage (‚Der Spiegel‘, 18. Juni 2001) entwickelte Marcel Reich-Ranicki Ideen für einen ‚Kanon lesenswerter deutschsprachiger
Werke‘. ‚Ein Kanon ist nicht etwa ein Gesetzbuch‘, führt der Kritiker-Papst
aus, ‚sondern eine Liste empfehlenswerter, wichtiger, exemplarischer und, wenn
es um die Schule geht, für den Unterricht besonders geeigneter Werke.‘ Die
Auswahl helfe den Leserinnen und Lesern, die angesichts der Fülle der
verfügbaren Literatur die Orientierung zu verlieren drohen. ‚Ohne Kanon gibt es
nur Willkür, Beliebigkeit und Chaos und, natürlich, Ratlosigkeit.‘“ http://www.dieterwunderlich.de/Reich_Ranicki_kanon.htm
Nun,
hier geht es immerhin um Erziehung, Bildung, auch die Frage nach Identität
eines Volkes und dessen Kulturgut. Orientierung ist wichtig, Ziele sollten
definiert werden. Aber Ranicki selbst war sich schon darüber klar, dass heftige
Kritik auf seinen Kanon wartete, die dann auch prompt kam: Warum ist dieser
Autor des Kanons nicht würdig, der andere schon usw….?
Lässt
sich das Kanon-Problem auch auf die Musik übertragen? Speziell auf die Musik
zum Tango argentino? Sollte es auch
hier einen „Kanon“ geben?
Susana Miller (https://www.facebook.com/susana.millertango?fref=nf&pnref=story.unseen-section) schlägt ganz Abenteuerliches vor: 1300 Titel (oder
dürfen es doch 5000 sein?), wohl aus der EdO, aus denen bei jeder Milonga, nach
dem Vorbild argentinischer „Meister-TJs“ jeweils neue Tandas „gebacken“ werden.
Eine
bestimmte Anzahl von Titeln, keiner mehr und keiner weniger…? Wie viele nun
eigentlich? Also eine quantitative
Festlegung?
Oder
geht es um eine bestimmte Art von Musik, die exakt gewissen Anforderungen zu
genügen hat?
Muss
man sich also qualitativ festlegen?
Da
kann man schon ins Schleudern geraten!
Ohne
Frage: Es ist sicher sinnvoll, diese (welche eigentlich?) Titel zu kennen, um
sich ein Urteil erlauben zu dürfen.
Es
ist aber ebenfalls erlaubt, irgendwann ein neues
Stück zu entdecken, das würdig genug ist, in einen Kanon aufgenommen zu
werden! Was tun? Welches „alte“ Stück muss nun weichen, um die (?) magische
Zahl zu erhalten?
Wenn
es einen unantastbaren Kanon in der klassischen
Musik gäbe, der besagen würde, dass es nach Mozart keine Musik mehr gibt,
hätte dieser im Jahr 1791 geendet… Denn, ohne Zweifel, nach Mozart hat keiner
mehr so komponiert. Vielleicht würde man ja gnadenhalber die Werke der „Wiener
Klassik“ noch als „gültig“ bezeichnen…
Wie
müssen die Menschen gelitten haben, als die Gavotte oder die Allemande aus der
Mode kamen… Sind nur sie Tänze, die
diesen Namen verdienen?
Reich-Ranicki
war nicht so naiv, die Historizität seiner Idee zu übersehen, trotz seines
deutlich gezeigten Selbstbewusstseins.
Wohl
geschieht dies leider bei den Verfechtern und erbitterten Verteidigern der
EdO-Musik: Nur die Stücke aus den
Jahren 1935 (oder doch 1925?) bis 1955 gehörten auf die Milongas des 21.
Jahrhunderts, das sei man dem Ursprung dieses Kulturgutes schuldig – oder sind
es doch nur die aus den 1940-er Jahren?
Wieder
diese Unsicherheit!
Fazit:
Was
soll eigentlich diese ständige Suche nach Standards, Mustern, Regeln und
Normen, vor allem auf künstlerisch geprägten Gebieten, wozu natürlich auch der
Tango argentino gehört?
Die
Antwort wäre wohl einen eigenen Text wert!
Nur
so viel an dieser Stelle:
Warum
müssen wir eigentlich immer sofort urteilen,
wenn uns etwas Neues begegnet? Können wir nicht einfach ganz offen und
unvoreingenommen sein, schauen, hören, lesen, tanzen, bevor wir unsere Bewertung
darüberstülpen? Zumal diese halt fast ausschließlich geprägt ist von den bisherigen Sichtweisen!
Klar:
Eine Infragestellung oder gar Ablösung von Gewohntem erzeugt Angst. So wehren wir uns lieber gegen
das Neue, qualifizieren es ab, um unsere Geborgenheit im Altvertrauten nicht aufs
Spiel zu setzen, geschweige denn zu verlieren.
Ich
meine, wir sollten mehr Neugier wagen!
Erforschen
wir doch die ganze Bandbreite von
Literatur oder Musik! Je mehr wir kennen – aus den verschiedensten
Richtungen, desto besser werden wir merken, was Wert hat – und, halten zu
Gnaden, was uns selbst gefällt.
Wie
kann man unterstellen, dass das Bemühen moderner, heutiger Tangomusiker am
Tango vorbeigeht? Ist Literatur von 2016 keine Literatur, nur weil sie eben neu
ist?
Keine
Sorge: Was keinen Wert hat, überdauert auch nicht ewig!
Aber
gar keinen Wert hat es, Neues und damit sinnvolle (!) Entwicklungen zu
verhindern, indem man sie von vorneherein abqualifiziert.
Also:
Ich wünsche mir DJs mit Koffern ohne Kanon darin, dafür viel
abwechslungsreiche, zum Tanzen reizende und spannende Musik!
Herzlichen Dank an
die Autorin!
Übrigens bin ich auf
meiner Recherche zu dem ominösen Begriffspaar „E- und U-Musik“ (was ja gerne als Unterscheidung zwischen „künstlerisch
Anspruchsvollem“ und „Wertlosem“ verwendet wird), auf den Ursprung dieser Einteilung
gestoßen: Sie wurde 1903 unter dem Einfluss von Richard Strauss von der „Anstalt für musikalisches
Aufführungsrecht“ (AFMA)“ – also dem Vorläufer der GEMA – eingeführt, um
bei der Verteilung der Tantiemen die als „ernst“ eingestuften Komponisten zu
privilegieren.
Hallo Karin, hallo Gerhard,
AntwortenLöschenich habe die Diskussion auf FB auch gelesen, (obwohl ich ja eigentlich von FB nichts halte).
Es gibt eine Clique von Leuten, die meint, es müsse definiert werden, wie Tango zu sein hat, dazu gehören vor allem Beschränkungen: Nur ein kleiner Ausschnitt des Spektrums der Musik darf gewählt werden, nur eine bestimmte Art des Tanzens ist erlaubt, nur eine bestimmte Art des Benehmens (Cabeceo und nichts anderes) usw.
Darin besteht zwar ein innerer logischer Widerspruch, denn der Tango wäre nie entstanden, wenn nicht alles Kreative erst mal erlaubt gewesen wäre, aber der wird konsequent ignoriert.
Es wird auch Geschichtsklitterung betrieben, indem ständig Traditionen zitiert werden. Diese sind aber zum großen Teil erst viel später so definiert worden. Traditioneller wäre es, weiterhin verschiedene Musikstile miteinander verschmelzen zu lassen, wie in der Entstehungsgeschichte des Tangos.
Das wäre alles nur ein Kuriosum, wenn die Liebhaber dieser Haltung dazu stünden, nur eine Strömung unter vielen zu sein. Leider gibt es einige Vertreter, die meinen, ihre Haltung sei allen anderen überlegen, und es hätten sich Neulinge gefälligst daran zu halten. Definieren, was in einen "Kanon" soll, dürfen nur "Kundige" usw. Das ist das Ärgerliche daran.
Als ganz besonders provokant wird es empfunden, wenn jemand sich nur auf seinen eigenen Geschmack verlassen will, statt sich an die Vorgaben der "Kundigen" zu halten.
Da geht mir auch die Hutschnur hoch, ich beschäftige mich fast mein ganzes Leben lang mit Musik und nun kommen Leute daher, die meinen, sie müssten mir vorschreiben, was ich als Qualität zu empfinden haben und was nicht! Das ist so, als ob man im Restaurant nicht mehr selber aussuchen darf, nur weil man dort noch nicht so oft gegessen hat.
Vielleicht schreibe ich mal etwas darüber, wie "Tradition" nachträglich konstruiert wird, da gibt es wieder jede Menge Beispiele aus allen möglichen Lebensbereichen.
Und ein zweites, anderes Thema: Die Gema! Da gibt es nicht nur die Gründungsgeschichte ab 1903, sondern auch die weitere Geschichte ab 1933, wie die Nazis die Gema (bzw. STAGMA, wie sie damals genannt wurde) umkonstruierten, um die jüdischen Komponisten herauszudrängen. Bis heute hat die Gema (die nur ihren Namen geändert hatte) eine Struktur, die 95% ihrer Mitglieder quasi entrechtet. Wen's interessiert, kann mal hier mehr nachlesen:
http://www.wieland-harms.de/html/gema_geschichte.htm
und hier: https://wielandharms.wordpress.com/
LG Annette
Diese Ignoranz gegenüber zeitgenössischwr Musik finde ich auch höchst merkwürdig. Oder besser gesagt dumm. Neulich meinte jemand sogar, Tradi-Musik mache ihn allmählich aggressiv. Hier ist eine Tradi-Milonga kurz vor dem Abnippeln, mangels DJs; ich bin kurz davor, trotz knapper Zeit den Versuch zu starten, hier etwas frischen Wind reinzubringen.
AntwortenLöschenLieber Yokoito,
Löschendann mach's, und zwar gleich!!
Viel Glück!
Gerhard
Liebe Annette, lieber Yokoito,
Löschendanke für eure zustimmenden und ergänzenden Worte zu meinem Text.
Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser bei Menschen Stirnrunzeln (wenn nicht Schlimmeres) erzeugt, die meinen, sie seien wegen ihrer intensiven Beschäftigung mit Tangomusik und -tanz aus den viel zitierten goldenen Jahren dem Tango schlechthin ganz nahe gekommen oder hätten ihn sogar schon eingefangen!
Die Unsicherheit zeigt sich aber doch in den ständigen Diskussionen und wütenden Verteidigungen der gefundenen (oder erfundenen?) Prinzipien.
Ich fürchte, die sich stets wandelnde Realität macht alle Versuche, sie für immer und ewig zu packen, zu dressieren und „in span’sche Stiefel einzuschnüren“ irgendwann zunichte!
Das ist eine zweifellos anstrengende und vielleicht manchmal auch frustrierende Erkenntnis. Aber, um literarisch zu bleiben: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne…!“
Deswegen: Nur Mut zu neuen Wegen in der Musik, Annette, und mit einer neuen Milonga, Yokoito!
Herzliche Grüße
Karin
Hach, da fällt mir ein Lied von Mozart ein, ganz und gar zum Thema:
LöschenDie Alte
Wien, 18. Mai 1787
Ein bißchen aus der Nase zu singen
(Der Stil ist barock, wie in der Generation vor Mozart, Text von Friedrich von Hagedorn (1708–1754))
Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
Bestand noch Recht und Billigkeit.
Da wurden auch aus Kindern Leute,
Aus tugendhaften Mädchen Bräute;
Doch alles mit Bescheidenheit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Es ward kein Jüngling zum Verräter,
Und unsre Jungfern freiten später,
Sie reizten nicht der Mütter Neid.
O gute, Zeit, o gute Zeit!
Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
ward Pflicht und Ordnung nicht entweiht.
Der Mann ward, wie es sich gebühret,
Von einer lieben Frau regieret,
Trotz seiner stolzen Männlichkeit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Die Fromme herrschte nur gelinder,
Uns blieb der Hut und ihm die Kinder;
Das war die Mode weit und breit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
war noch in Ehen Einigkeit.
Jetzt darf der Mann uns fast gebieten,
Uns widersprechen und uns hüten,
Wo man mit Freunden sich erfreut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!
Mit dieser Neuerung im Lande,
Mit diesem Fluch im Ehestande
Hat ein Komet uns längst bedräut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!
Hier ein sehr schöner Vortrag des Liedes:
https://www.youtube.com/watch?v=BPreFRC5GVM
Ich sachja, Konstruktion von Traditionen.
LG Annette
Liebe Annette,
Löschendass du gerade auf dieses Lied gekommen bist!
Tatsächlich habe ich es vor Jahren schon einmal gesungen, damals vielleicht noch nicht ahnend, wie „weise“ es ist.
Herzliche Grüße
Karin
Liebe Karin,
Löschenda haben wir was gemeinsam, ich habe das Lied auch mal gesungen. Ich finde es total witzig.
LG Annette