Liebes Tagebuch… 29
Gestern
erhielt ich die E-Mail von einer Tänzerin, die ich nicht persönlich kenne. Durch
Buchbestellungen und Interesse an unserer „Wohnzimmer-Milonga“ gab es bislang
einen kleinen Austausch via Internet. Sie schrieb:
„… war Deine Milonga
ganz bestimmt eine bessere Wahl als die (…) wo ich war: Musik langweilig, so
voll, dass man kein Schritt machen konnte und als ich mit meinem Tanzpartner
eine gute Lücke für zwei größere Schritte gefunden habe, habe ich sofort eine
Ermahnung von der Organisatorin bekommen..., man muss schön langsam die Runden
im Kreis drehen... Ich verstehe man muss Rücksicht nehmen, aber müssen es
wirklich immer Runden sein, ich drehe meine kleine Figuren gerne in den
Ecken...;-)na ja."
Mir
wurde nach dem Lesen des Textes speiübel: So geht man also heute beim Tango mit
Gästen um, die einen via Eintrittsgelder und Kursgebühren finanziell versorgen!
Natürlich
habe ich die Szene nicht persönlich erlebt – ich schließe allerdings durch
meine bisherigen Kontakte aus, dass es sich dabei um eine Erfindung handelt
oder die tänzerisch nicht sehr erfahrene Tanguera ihre Nachbarn auf der Piste
mit einem eingesprungenen Doppelaxel gefährdet hat.
Was
war nun also ihr Delikt? Sie hat – tänzerisch sehr sinnvoll – einen freien
Platz (noch dazu in einer Ecke) angesteuert. Denkbar (wenngleich nicht
wahrscheinlich), dass es dadurch zu einer kleinen (oder gefühlten) Behinderung
kam. Andererseits hat sie aber dort, wo sie vorher war und es offenbar sehr eng
zuging, Platz gemacht. So what?
Und
das ruft gleich die „Tango-Polizei“ auf den Plan – man muss sich die Situation
wirklich auf der Zunge (oder besser anderswo) zergehen lassen!
Für
mich steht jedenfalls fest: Wer in einem solchen Fall stur auf den „Códigos“
besteht (Spurwechsel verboten) und gar noch das Tanztempo von Paaren
reglementieren will, hat vielleicht von sonst was eine Ahnung, vom
Gesellschaftstanz jedoch absolut keine.
Und:
Früher waren Tanzlehrer vielleicht langweilig und spießig, aber auf jeden Fall
Fachleute in Sachen Benimm. Auch davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein.
Das
wirtschaftliche Kalkül ist natürlich klar: Wenn man langsames
Hintereinanderher-Latschen zur Pflicht erhebt, bekommt man von der entsprechenden
Klientel noch 50 Stück mehr als sonst auf die Milonga – da kann sich die
Ermahnung einzelner „Störenfriede“ durchaus lohnen. Den Besuchern genügend
Platz zur Bewegung auf dem Parkett zu garantieren, ist somit völlig überflüssig:
Eine solche Milonga ist ja keine Tanzveranstaltung, sondern eher ein historischer
Ritus zum Gedenken an alte Tangozeiten mit sozialem Kastenwesen, Machismo und
verklemmten Moralvorstellungen…
Selbstredend
werden nun gewisse Kreise wieder einmal einwenden, der Veranstalter könne
bekanntlich seine eigenen Spielregeln bestimmen – man müsse sich dann daran
halten oder aber solle gar nicht hingehen. Na klar – so lange es nicht illegal ist,
kann er beispielsweise auch verfügen, dass bei ihm nur auf allen Vieren getanzt
werden dürfe. Und fehlendes Fingerspitzengefühl, Arroganz oder gar Borniertheit
sind nicht strafbar. Ebenso wenig verboten ist es dann aber auch, hieran deutlich
Kritik zu üben. Leider machen Menschen wie meine Mail-Partnerin hiervon – weil
sie sich halt besser benehmen können – selten Gebrauch. Sie randalieren dann
nicht, wie gewissen Herrschaften aus dem Traditionslager, nach drei Stücken „falscher“
Musik am DJ-Pult.
Manchmal
ist aber vornehme Zurückhaltung ein Fehler – daher habe ich mich hier kein
bisschen um sie bemüht!
Meiner
Gesprächspartnerin schrieb ich gestern zurück:
„Tja, die ‚Reglements‘ auf den Milongas werden immer verrückter. Hat sich
Herr (…) schon mal überlegt, dass seine Gäste erwachsene Menschen sind?
Bei uns waren es gestern zeitweise 8
Paare auf 20 qm, und das ohne jegliche ‚Regeln‘ - und trotzdem auch ohne
Zusammenstöße...“
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