Keine Ahnung vom Tango
Eines muss man der Zeitschrift „Tangodanza” lassen:
Sie räumt derzeit mit ziemlich vielen Klischees
auf.
Hierzulande wird ja – vor allem in hochedlen Kreisen
unseres Tanzes – immer noch die Botschaft verbreitet, Buenos Aires sei in dieser Hinsicht die unbestrittene Metropole.
Wer nicht, am besten gleich monatelang, dort verweile und sich im Blut des Tango
suhle, könne nicht ernsthaft mitreden.
Da überrascht dann ein Artikel über einen der
international bekanntesten Tangotänzer, Miguel
Angel Zotto, der unverblümt seine
Sichtweise darlegt: „In Buenos Aires interessiert sich niemand
für Tango“ (Tangodanza 2/2019, S. 5-8). „Die argentinische Gesellschaft hat keine Ahnung vom Tango! Wir sind de
facto eine sehr kleine Gruppe, wir Tangueros. (…) Es stimmt eben nicht, dass in
Buenos Aires jeder Tango tanzt, dass der Tango dort zuhause ist. (…) Ohne den
Tangotourismus würde er in Buenos Aires kaum mehr existieren.“
Man darf nicht vergessen: Die argentinische Metropole
zählt zirka 14 Millionen Einwohner. Ungefähr 300000, so meint Zotto,
beschäftigten sich irgendwie mit Tango – das sind gut 2 Prozent. In dieser
Größenordnung liegt der Mitgliederanteil der Sportschützen oder des Deutschen
Alpenvereins an der Bevölkerung der BRD (ca. 1,6 Prozent).
Und er zieht eine Parallele von Gardel über Piazzolla
bis Borges: „Die Größten unserer Geschichte mussten das Land verlassen und um die
Welt reisen.“
Zotto lebt inzwischen in Italien.
Sinnigerweise findet man in derselben Ausgabe der
Zeitschrift ein Interview zur „Milonga-Szene
in Buenos Aires“ mit der Organisatorin der dortigen Veranstaltung „Viva la Pepa!“, Pepa Palazón (S. 12-13).
Legendäre Milongas wie der „Club Sunderland“ oder die „Confiteria
La Ideal“ seien derzeit geschlossen, Eintrittsgelder von ungefähr 4 € seien zwar für Touristen kein
Problem, für Einheimische jedoch unerschwinglich. Daher entstünden derzeit neue
Formate wie die „Milongas a la gorra“
(auf Spendenbasis) sowie die Prácticas
(oft auch „für den Hut“), welche
häufig in Privathäusern stattfänden (kennen wir ja aus Pörnbach…).
Seit 2009 würden zudem im Landesinneren „Encuentros“ veranstaltet – welche aber
nicht vergleichbar mit den unseren seien: Auf strikte Regeln werde verzichtet (bis auf die Anmeldungspflicht), zu
erschwinglichen Preisen träfen sich dort oft über 1000 Tanzende. (Wer es noch
nicht wissen sollte: „Encuentros“ in europäischem Sinne gibt es in Argentinien
nicht – wer sich da auf „Traditionen aus dem Heiligen Land“ beruft, tut das
ohne jede Rechtfertigung…)
Zu den Auswirkungen der Inflation kämen behördliche Schikanen wie mitternächtliche
Besuche staatlicher Kontrolleure,
welche sich auf „störende Geräusche“
bezögen (ich lasse jetzt den Kalauer) oder schon mal die Gäste vor die Tür
setzten, wenn irgendein Lizenzdokument nicht sofort beigebracht würde oder seit
2 Tagen abgelaufen sei.
Offenbar, so vermutet Pepa Palazón, fördere die Verwaltung lieber lukrative internationale Tangoevents und wolle kostengünstigen
Milongas den Garaus machen.
Ganz neu ist dieses Problem sicher nicht – ich hatte
schon einmal davon berichtet:
Es kämen inzwischen auch deutlich weniger Tangotouristen ins Land – und blieben
vor allem nicht monatelang, sondern meist nur eine oder zwei Wochen.
Ganz ähnliche Aussagen findet man übrigens im
Blogbeitrag „Tourism
keeps the milongas open“:
Die
argentinische Milonga-Veranstalterin schließt daher mit dem Appell:
„Kommt nach Buenos
Aires, bleibt eine lange Zeit und genießt den Tango Porteño ausgiebig vor Ort.“
Tja,
Mädel, hätte ich vielleicht getan, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre!
Allerdings irritiert mich schon, was ich in anderen Quellen häufig gelesen
habe: Die Chance, dort einmal mit einem „Urweinwohner“
(männlich oder weiblich) aufs Parkett zu gelangen, ist offenbar verschwindend gering – eher bleiben die
Touristen unter sich. Ohne „vorgetanzt“ worden zu sein oder sich genauestens an
die Blinzel- und Tanzcódigos zu halten, geht zumindest an den traditionellen
Wallfahrtsorten gar nichts.
Ach,
echt, da bleib ich doch lieber daheim… und da kann ich auch genügend Argentinier erleben, welche mich auf Milongas ignorieren. Oder war das
Angebot so gemeint: „Hauptsache, ihr
zahlt Eintrittsgeld und Zeche – tanzen müsst ihr ja nicht unbedingt“?
Und
den „Salon-Einheitsstil“ kann ich ja
auch hierzulande auf den meisten Veranstaltungen bewundern. Vielleicht sollte
man sich einmal mit dem beschäftigen, was Altmeister Miguel Angel Zotto dazu zu sagen hat:
„Wichtig ist dann, deinen eigenen Tango zu finden. Jeder hat seinen Tango,
denn wir sind verschieden, haben unterschiedliche Körper, bewegen uns
unterschiedlich. Wirklich: Jeder muss seinen persönlichen Stil finden. Dort
findet man dann die Essenz, das Gefühl.“
Ach ja, und an die hiesigen Tango-Oberen: Ginge ein bissel weniger „Buenos Aires-Gedöns“? Das wäre sehr nett…
Mit deinem Kommentar, lieber Gerhard, belegst du geradezu die Richtigkeit dessen, was du für falsch erklärst. Selbstverständlich ist (und bleibt) Buenos Aires die Weltmetropole des Tangos. Und wem sich das - vielleicht aufgrund eines zu kurzen Aufenthalts - nicht erschlossen hat, der kann in der Tat nicht mitreden.
AntwortenLöschenIch war vor 10 Jahren das letzte Mal in Buenos Aires, und es war der alte Zauber wie am ersten Tag. Natürlich hat Zotto recht. Vielen (mag sein: den meisten) Porteños ist heutzutage der Tango egal. Und trotzdem kennen sie zumindest teilweise die bekanntesten Texte und die Musik und wie ein getanzter Tango auszusehen hat, um als authentisch wahrgenommen zu werden. Aber was beweist das schon? Die Menschen wachsen in diese Kultur hinein, ob sie wollen oder nicht. Die zahlreichen Ecken, Strassen und Plätze, die an Grössen des Tangos erinnern, die sind einfach da: Carlos Gardel triffst du überall, sein Bild in Cafés, auf Reklameplakaten, sein Bronzedenkmal auf der Strasse in Abasto und auf dem Chacarita-Friedhof und als Name einer U-Bahnstation. Die Homero-Manzi-Ecke an der Kreuzung San Juan und Boedo (Tango "Sur") u.v.a. Wer würde denn leugnen, dass die Musik von Beethoven und Brahms zu unserer ureigensten deutschen Kultur gehört, obwohl in den klassischen Konzerten überwiegend alte Leute anzutreffen sind? Das hat alles überhaupt nichts zu sagen. Buenos Aires ist so durchdrungen vom Tango, dieser Atmosphäre kann sich kein Fremder entziehen, und die Einheimischen merken das gar nicht mehr, weil sie Porteños sind und der Tango in allen seinen Facetten zu ihrem Lebensumfeld gehört. Diese Wellenbewegungen beim Tango hat es schon immer gegeben. Einer Massenbewegung folgte das Desinteresse. Aber der Tango war nie tot in Buenos Aires. Auch in den tristesten Zeiten gab es Peñas und Milongas. Was Zotto meint, heisst im Grunde nur, dass er in seiner Heimat mit dem Tango kein Geld mehr verdienen kann, und das ist natürlich bitter. Sein Beispiel mit dem Flamenco in Spanien als Touristenspektakel ist gut. Aber das beweist doch nicht, dass Sevilla nicht die Weltmetropole des Flamenco ist (und bleibt). So ähnlich ist es mit dem Tango in Argentinien auch. Also keine Aufregung Buenos Aires bleibt, und der Tango bleibt. Und wer den Tango vollständig erfahren will, muss ihn auch in Montevideo erleben. Ich habe viel darüber veröffentlicht.
Herzlichen Gruss - Eckart Haerter
Lieber Eckart Haerter,
AntwortenLöschenvielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Ich freue mich natürlich, dass auch ältere Artikel von mir noch Aufmerksamkeit erregen.
Allerdings wüsste ich nicht, was ich in meinem Text als "richtig" oder "falsch" erkläre. Ich mag solche Kategorien nicht.
Mein Bestreben war lediglich, einige Ansichten zur Tango-Metropole Buenos Aires aus einem Tangodanza-Artikel von 2019 darzustellen, die ein wenig von gerne herumgereichten Klischees abweichen. Und darzustellen, warum ich auf eine Reise dorthin bisher verzichtet habe und es sicher auch weiterhin tun werde. Und jedenfalls sind diese Zitate aktueller als Eindrücke von 2010.
Dass in der argentinischen Hauptstadt die Traditionen des Tango noch vielfältig greifbar sind, habe ich nicht bestritten. Und ich kritisiere niemanden, der gerne dorthin reist und dieses Flair genießen möchte.
Aber der Tango ist eben auch Weltkulturerbe und hat in den verschiedensten Ländern seine eigenen Spielarten entwickelt. Klar, Beethoven und Brahms gehören unbestritten zur deutschen (und österreichischen) Kultur. Nur muss ich dazu nicht unbedingt nach Bonn, Hamburg oder Wien reisen. Wunderbare (und wechselnde) Interpretationen dieser Werke kann ich sicherlich auch in New York oder Sydney erleben.
Allergisch bin ich allerdings dagegen, wenn von der hohen Warte des Experten diesem oder jenem verkündet wird, ob und unter welchen Bedingungen er denn "mitreden" dürfe. Gegen diese Attitüde kämpfe ich seit einem Jahrzehnt und werde es weiter tun. Aus meiner Sicht darf sich an solchen Diskussionen jeder beteiligen, ohne vorher seine Biografie zur Prüfung vorlegen zu müssen.
Ich bin da - wie in der Tangomusik - für persönlichen Geschmack und Vielfalt.
Mit besten Grüßen
Gerhard Riedl