Practicas und nichts weiter?


Heute Morgen erhielt ich (fast zur selben Minute) zwei bemerkenswerte Nachrichten:

Die eine bestand aus einem Fax, in dem mir eine britische Anwältin mitteilte, ein 2008 verstorbener Robert Riedl (seines Zeichens australischer Goldschürfer und englischer Immobilienmakler – unverheiratet und kinderlos) habe eine Summe von 8,9 Millionen Pfund hinterlassen. Sie sei nun bereit, mich als einzig noch lebenden Verwandten des guten Robert auszugeben und die Asche locker zu machen – gegen 25 Prozent Beteiligung, versteht sich.

Die andere war ein Blogbeitrag des Lehrerkollegen und Neo-DJs Jochen Lüders mit dem Titel „Practica y nada más? – Hier irrt Riedl“: Darin kritisiert er die „undifferenzierte Schlichtheit“ meiner unsinnigen Idee, mit Practicas käme man beim Erlernen des Tango weitaus schneller zum Ziel. Er bescheinigt mir „didaktische Ahnungslosigkeit“ beim unsystematischen Gemurkse Riedlscher Practicas“.

Ich könnte jetzt nicht sagen, welcher der beiden Texte mich mehr amüsiert hat…

Hinnehmen könnte ich noch, dass der Kollege öfters die Methodik meint, wenn er von Didaktik spricht: Es dreht sich bei der ganzen Diskussion ja vor allem darum, wie man Lernenden etwas beibringt – und nicht was.

Bei Letzterem geht es ihm offenbar zentral darum, neue, auch anspruchsvolle(re) Figuren / Schrittfolgen zu lernen“. Mit dieser sehr konventionellen didaktischen Einschränkung verbaut sich der Autor nicht zum ersten Mal tiefere Einsichten zum Thema Tango.

Doch fangen wir einmal vorne an: „Practicas und nichts weiter“ (wie Lüders in Anspielung an den von mir meistgehassten Tango-Vals titelt) habe ich nie propagiert. In einer Reihe von Artikeln empfahl ich Tangolehrer wie Alfredo Foulkes oder Sonja Armisén. Leider bilden solch gute Beispiele eine Minderheit. Und auch da rate ich eher zu Privatstunden. Aber dass man „eigentlich gar keinen Tango-Unterricht braucht“, habe ich nie behauptet. Ich bin ja nicht bescheuert. Allerdings kenne ich persönlich etliche Tanzende, welche es ohne Besuch der üblichen Lehrgänge zu erstaunlichen Fähigkeiten gebracht haben.

Spannend wird es halt, wenn man „Unterricht“ nicht nur als Tangokurs mit maximal 30 Teilnehmern definiert, sondern schlicht als Oberbegriff für ganz verschiedene Lernsituationen. Und doch, Herr Kollege, ich habe beiläufig davon gehört, dass es unterschiedliche Lerntypen gibt!

Gerade im konventionellen Kurs tun sich „visuell orientierte Menschen“ leichter, da dort das Motto „vorzeigen – nachmachen“ dominiert. In einer Practica, wie ich sie empfehle (und in Pörnbach erlebe), wird dagegen ein breites Spektrum von Teilnehmenden angesprochen: Anfänger, Fortgeschrittene, Menschen, die in beiden Rollen tanzen, unterschiedliche Lerntypen. Gerade dadurch, dass wir nicht alle gleichzeitig „an einer Figur üben“, findet jede(r) das Tempo und die Art, wie er (oder sie) lernen kann und will – speziell auch Anfänger!

Und durch den häufigen Partner- und Rollentausch ist eben genau das „Spüren“ angesagt, an dem es beim üblichen Unterricht mangelt. Und wenn wir einer Frau eine neue „Figur“ beibringen wollen, dann führt die halt ein routinierter Tänzer. Und klar, „was die Frau eigentlich genau macht“, sollte man als Tanguero schon wissen – und bei uns gibt es Tangueras, die eine ziemlich klare Vorstellung davon haben, „was der Mann also eigentlich machen soll“. Und falls jemand mal am Verzweifeln ist, braucht es sicherlich das geübte Auge eines routinierten Tänzers – ob der sich nun als „Tangolehrer“ bezeichnet oder nicht!

Letztlich landet man bei solchen Themen zwangsläufig bei der Forderung, das überkommene Rollendenken zu überwinden. In den üblichen Kursen ist das kaum ein Thema. In Practicas, wie ich sie empfehle, bildet dies eine wichtige Basis. Und nein: Zumal bei künstlerischen Betätigungen lernt man kaum starr systematisch, sondern profitiert von der Breite der Möglichkeiten!

Aber klar: Ebenso, wie es lausigen Tangounterricht in Hülle und Fülle gibt, sind wohl auch viele Practicas ihr Geld nicht wert. Nach meiner Beobachtung wird bei diesen oft lediglich im festen Paar verbissen an einer „Figur“ herumgewurstelt. Wenn Jochen Lüders von solchen Beispielen ausgeht, sind manche seiner Behauptungen sicherlich verständlich.

Aber ich hatte den Kollegen ja nach Pörnbach eingeladen, damit er sich einmal von unserer Art, Tango zu üben, überzeugen kann. Stattdessen zieht er es vor, per Ferndiagnose ein Verdikt zu veröffentlichen. Im Gegenzug wäre ich gerne bereit, einmal zu einer seiner Playlists zu tanzen. Aber das lehnt er ja ab. Nichts beschreibt den Unterschied treffender.

Dabei hatte ich seine Gedanken zum Tangounterricht weitgehend unterstützt:

Eine Leserin wenigstens hat dies auf Facebook verstanden:

„Gerd, gratuliere zu diesem ungewohnt netten und objektiven Beitrag.
Und, danke für den Link zu dem Film, welcher wirklich gut gelungen und noch dazu unterhaltsam ist. Solche Beiträge wünsche ich mir mehr, denn gegenseitiges aufeinander Rumhacken bringt uns alle nicht weiter.“

Aber gut: Freunde bekommt man geschenkt – Feinde dagegen muss man sich verdienen…

Meine Ansicht zum Tangounterricht hätte Jochen Lüders übrigens schon in der 1. Version meines Tangobuches (und gleichlautend in den folgenden Ausgaben) erfahren können:

„Also was jetzt, Tangokurse ja oder doch? Formulieren wir es einmal so: Tangounterricht braucht man sicherlich, doch müssen es immer gleich Kurse sein?“ (S. 109)
 
In dieser Hinsicht bin ich ein Traditionalist: Die ersten Tango-Generationen lernten in Argentinien unseren Tanz in Prácticas, nicht durch die heute üblichen Kurse. Tangolehrer in unserem Sinne gab es lange Zeit nicht!

Daher lasse mich im Tango von keiner Fraktion vereinnahmen – auch wenn diese Offenheit in der Szene regelmäßig Bestürzung hervorruft…

P.P.S. Wer unsere Pörnbacher Erfahrungen noch nicht kennt:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/03/vier-wochen-pornbacher-practica.html

You teach best what you need most * www.tangofish.de

Kommentare

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