Zehn Gebote der Milongueros
Es erstaunt mich
immer wieder, welcher Regelungsbedarf
im Tango herrscht – in 40 Jahren
Standardtanz habe ich davon kaum einen Bruchteil erlebt. Da ging es eher um
die Gesetze der Tanztechnik oder
irgendwelche Schrittfolgen – aber das
alles kommt beim Tango ja noch hinzu.
Einen etwas
absonderlichen Text aus dem Blog „Tango
Chamuyo” habe ich neulich schon besprochen:
Nun erfreut uns Janis
Kenyon mit einem neuen (besser:
uralten) Fund: Unter dem Titel „Ten commandments of
the milongueros” druckt sie einen Dekalog ab, der natürlich „mit
dem Tango geboren wurde" – so jedenfalls zitiert sie den bekannten
Milonguero Ricardo Vidort
(1929-2006).
Hier der
Originaltext, den ich übersetzt habe und mir auch zu kommentieren erlaube:
Zehn Gebote der
Milongueros
Dies
sind die ungeschriebenen Regeln, die
jeder Milonguero beachtet:
1.
Du sollst dich immer
gut anziehen.
Ein Milonguero badet und rasiert sich vor der Milonga. Ein gebügelter Anzug,
ein sauberes Hemd und eine Krawatte sind seine Uniform. Gut geschnittene Haare,
glänzende Schuhe und der Duft von Kölnisch Wasser vervollständigen seine Bekleidung für die
Milonga.
Na ja, das mit dem
Anzug schmeckt ein wenig nach den Mottenkugeln von einst, aber sauber und
gepflegt sollte man schon auf einer Milonga erscheinen – keine Frage. Da weisen
zahlreiche Milongueros durchaus einen suboptimalen Schnuckeligkeits-Faktor auf…
Aber in der langen
Zeit meiner Standardtanz-Laufbahn hat uns nie ein Trainer gesagt, wir sollten
gewaschen und gut duftend zum Tanzen erscheinen. Haben wir trotzdem gemacht.
Ein einziges Mal
hörte ich einen Übungsleiter, wie er Jugendlichen vor einem Turnier mitteilte: „Wer
scheiße aussieht, bleibt daheim.“ (Nein, jetzt keine Tango-Parallele – morgen ist
Ostern!)
2.
Du sollst deinen
eigenen Stil tanzen.
Ein Milonguero ist ein autodidaktischer Tänzer mit einem eigenen Stil, der
elegant mit jeder Frau tanzen und sie glücklich machen kann. Ein Milonguero hat
durch Beobachtung anderer gelernt, sie aber nie kopiert.
Dass ich sowas noch
erleben darf! Das erledigt natürlich die ganzen Tanzlehrer-Sprüche, man habe genau
so und nicht anders zu tanzen… wie schön!
3.
Du sollst gut oder
gar nicht tanzen.
Wenn es keine Frau gibt, mit der er sein Bestes geben kann, ist ein Milonguero
damit zufrieden, die Musik zu hören und das Tanzen zu beobachten.
Beißt sich halt etwas
mit dem vorher Gesagten! Wenn ein Maßstab für Können darin besteht, mit jeder
Partnerin einen passablen Tango hinzukriegen (was ich bejahe), muss ich nicht
ellenlang warten. Aber es gehört zur Natur von Regeln, dass man ihren
Sinngehalt lieber nicht hinterfragen sollte – wären sie logisch und evident,
bräuchte man sie ja nicht…
4.
Du sollst für dich
und deinen Partner tanzen. Ein Milonguero tanzt, was er fühlt, und überträgt dieses
Gefühl auf seinen Partner. Er tanzt nicht, um aufzutreten oder wegen des Applauses.
Super! Wenn es nicht
um die Außenwirkung geht, könnten die Elitetänzer ja mal damit aufhören, nach „Ranghöhe“
oder „Cliquenzugehörigkeit“ aufzufordern. Wär‘ das schön…
5.
Du sollst Frauen mit
Respekt behandeln.
Ein Milonguero nähert sich niemals einer Frau an ihrem Tisch oder begrüßt
Frauen beim Betreten der Milonga.
Aber wenn da gar kein
Tisch steht? Und soll ich wirklich an Tangueras, die ich kenne, wie ein Stoffel
vorbeilaufen? Jetzt weiß ich endlich, woher dieser glasige Blick stammt, den
ich seit langem im Tango kenne!
6.
Du sollst keine Frau
zum Tanzen von deinem Platz aus einladen. Ein Milonguero benutzt entweder eine
Neigung des Kopfes oder eine Bewegung der Lippen, um eine Frau zum Tanzen
einzuladen. Die Einladung ist subtil und für andere im Salon nicht
offensichtlich. Sobald eine Frau seine Einladung ablehnt, wird er sie nicht
erneut auffordern.
Ich sehe da schwarz:
Wenn man auf einer Milonga auffallen will, versucht man am besten, etwas
heimlich zu tun… Und Körbe gibt es halt solche und andere: „Jetzt grad nicht“
kann ich verstehen – aber ein unbedingtes Nein schützt die Dame vor jeglicher
weiterer Annäherung meinerseits.
7.
Du sollst nicht mit
der Partnerin eines anderen Mannes tanzen. Ein Milonguero braucht Zeit, um für
mehrere Tandas auf das Parkett zu schauen, damit er weiß, ob eine Frau, die er auffordern
möchte, an einen anderen Mann gebunden ist. Dies ist nicht immer
offensichtlich, da sie getrennt sitzen, aber sie tanzen nur miteinander. Ein
Milonguero hat Geduld gelernt.
Wohl wahr! Wenn ein
mir unbekanntes Paar nur miteinander tanzt, halte ich mich auch zurück. Daher
mein Tipp: Wenn eure Partnerin Wert darauf legt, auch von anderen aufgefordert
zu werden, solltet ihr mit gutem Beispiel vorangehen!
8.
Du sollst auf der zur
Verfügung stehenden Fläche tanzen. Ein Milonguero tanzt kompakt, ohne andere zu
stören. Wenn er andere Tänzer berührt, entschuldigt er sich schnell, indem er
seine Hand erhebt.
Ja, die Welt kann so
einfach sein! Braucht es wirklich die ganzen Skizzen mit Spuren und Pfeilen
sowie „Figuren-Begrenzungen“? Offenbar konnten halt die alten Milongueros noch
navigieren…
9.
Du sollst nicht aufeinander
folgende Tandas tanzen. Ein Milonguero tanzt nur, wenn ihn die Musik inspiriert.
Er kann Stunden warten, um sein Lieblingsorchester oder eine bestimmte Tanda zu
hören, die ihn zum Tanzen inspiriert. Ein Milonguero bevorzugt Qualität
gegenüber Quantität der Tänze.
Genau! Daher besuche
ich vorwiegend Milongas, auf denen ich nicht stundenlang auf eine Runde warten
muss, bei der mich die Musik inspiriert.
10.
Man soll dich nicht
sehen, wie du die Milonga mit einer Frau verlässt. Ein Milonguero
arrangiert ein Treffen mit einer Frau auf der Straße. Er verlässt die Milonga
immer alleine, so wie er sie betritt.
Na ja, das stammt
schon ein wenig aus der Fibel für den „galanten
Kavalier“ von vorgestern. Amüsant jedoch, dass man wohl schon in den „guten,
alten Zeiten“ gelegentlich noch eine horizontale
Tanda vereinbarte. Vielleicht traf man die einschlägigen Damen auch von
vornherein auf der Straße…
Fazit:
Besonders erfreut es
mich bei solchen Katechismus-Gesetzlein
stets, dass man die Botschaft vermittelt, sie stammten aus Zeiten des ersten
veganen Obstgenusses im Paradies. Dann kann daran ja nichts falsch sein!
Dennoch sollten „ungeschriebene Regeln“ halt nicht
aufgeschrieben werden…
Ich habe sogar ein Tanzvideo
von Herrn Vidort gefunden: Mir
erscheint es nicht nur in Punkto Aufnahmequalität ein wenig krisselig. Aber
immerhin zeigt es die Ehrfurcht,
welche man in Argentinien den alten Maestros
trotz geriatrisch bedingter Bewegungseinschränkung entgegenbringt.
Der Milonguero dürfte
damals um die 70 gewesen sein – und das ist ja nicht weit von meiner
Altersklasse entfernt. Daher gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass man auch
meinen Tanzvideos dereinst die Achtung
zollt, welche dem Alter gebührt.
P.S. Und wieso gerade Männer so auf Regeln stehen, wird hier sehr gut erklärt:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2017/02/birkenbihl-die-manner-und-der-tango.html
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