Weder Kuss noch Leben
Antike Tragödie in einem Akt
Dramatis personae:
Mister
Fohlenschwanz
Ritter
Eisenarm
Tanguero
SloMo
(nebst
je einer Tanguera, welche jedoch im antiken Tango keine Rolle spielt)
Chor:
En un beso la vida
(Carlos Di Sarli, Héctor Marcó, 1940)
Innerer Monolog:
Wenngleich mich
diverse, ständig abgenudelte DiSarli-Nummern nicht gerade begeistern, muss ich
bei „In einem Kuss das Leben“
unbedingt aufs Parkett: Dramatik, Leidenschaft und Schnulzenklang ohnegleichen! Also schnell die Lieblingstanguera aufgefordert – die Zeit ist knapp, denn
dieses Stück dauert gerade mal 2:26!
Daher bloß nicht
hinter „Mister Fohlenschwanz“ beginnen, der trabt frühestens Schlag 12 der
Turmuhr los… Geisterstunde. Längst hat der Geigenteppich-Schnulzero Di Sarli
den ersten Teil der Strophe ausgerollt, den nachher der Sänger wie folgt
intonieren wird:
„Besándome en la boca me dijiste,
sólo la muerte podrá dejarnos.
Y fue tan hondo el beso que me diste,
que a tu cariño me encadenó.“
sólo la muerte podrá dejarnos.
Y fue tan hondo el beso que me diste,
que a tu cariño me encadenó.“
Jetzt aber wenigstens
auf der Strophe zweiter Teil loslegen:
„Qué culpa tengo si hoy otros amores,
me arrancan de tus labios, los traidores.
¿Qué culpa tengo yo de amarte tanto
si fue tu boca quien me encendió?“
Ja verdammt nochmal,
was macht „Tanguero SloMo“ da eigentlich? Statt einfach ein paar Schritte nach
vorn zu gehen, angelt er nach dem Füßchen seiner Tanguera, das er natürlich
erstmal nicht findet. Dann endlich Kontakt, beide stehen jetzt ungewohnterweise auf je
einem Bein, was sie natürlich nicht ohne Wackelei hinkriegen – und schon ist
auch dieser Teil des Stückes im Eimer…
Jetzt zu
Anfang des Refrains der erste Höhepunkt, an dem Meister Carlos sein Ensemble
förmlich detonieren lässt:
„En un beso la vida,
y en tus brazos la muerte.
Me sentenció el destino,
y sin embargo prefiero verte.“
Plahatz jetzt,
Herrgottsakrament – wer hier nicht dreht, ist ein Depp! Wildentschlossen
rausche ich am SloMo-Paar vorbei, Richtung Mitte, steige mit meiner Partnerin
in eine weite Rechtsdrehung ein – nein – stoppe sie wieder: „Mister
Fohlenschwanz“ ist nun endlich in die Gänge gekommen und tappert genau auf uns
zu. Mühsam killen wir die Schwungenergie und trappeln ein wenig auf der Stelle,
ungeachtet des Orchesters, welches nun den Refrain-Kracher erneut explodieren
lässt:
„En un beso la vida,
te entregué y lo has mentido
y si ayer me hirió tu olvido,
hoy me matará tu amor. “
Jetzt aber der Sänger mit dem
herrlichen Klischee des getrennten, jedoch immer noch verliebten Mannes:
„Du küsst mich auf den Mund und hast mir gesagt:
Nur der Tod kann uns trennen.
Und er war so tief, der Kuss, den du mir gegeben hast,
das kettet mich an deine Liebe.“
Hallo, Kuss, Leben, Liebe,Tod? Hört ihn denn keiner diesen treibenden Rhythmus? Wie kann man auf
derartige Leidenschaft so müde im Schritt reagieren? Wie entstehen in dieser
Region eigentlich Kinder?
„Welche Schuld habe ich, wenn heute andere Lieben
mich von deinen Lippen reißen, die Verräter?
Welche Schuld habe ich, dich so sehr zu lieben,
wenn es dein Mund war, der mich entzündet hat?“
Mühsam haben wir uns wieder in das eingereiht, was man hier wohl als Ronda
versteht, versuchen, die Dramatik des Gehörten mit einigen heftigen Fußaktionen
darzustellen, soweit das zwischen den Laufwegen der Untoten möglich ist. Gleich
muss er kommen, der jubelnde Refrain des Sängers:
„In einem Kuss das Leben
und in deinen Armen der Tod.
Dazu verurteilte mich das Schicksal,
und doch sehe ich dich lieber.“
Nun aber, auf „Leben“ und „Tod“ müssen einfach kleine Sprünge her – der erste
gelungen – aber jetzt, NEIN: „Ritter Eisenarm“ marschiert mit grimmigem Blick
und ausgestelltem Ellbogen genau auf uns zu! Schnell den Hupfer abgebrochen und
mit dem dynamischen Rest unter dem Betonarm durchgetaucht – grade nochmal gut
gegangen… Folgenlos intoniert der Sänger:
„In einem Kuss das Leben,
ich habe es dir gegeben und du hast gelogen.
Und wenn gestern dein Vergessen mich verletzte,
wird deine Liebe mich heute töten.“
Ich töte jetzt auch gleich jemand… Während wir uns zum Orchester-Nachspiel in der fast
bewegungslosen Runde leerer Blicke irgendwie durchhampeln, wissen wir doch: Die
2:26 nahen, die Schlacht ist verloren, die Leidenschaft des Liedes zieht sich
leise weinend ins Gestern zurück.
Während uns die dudelnde Cortina endgültig vom Rest unserer Gefühle
befreit, frage ich meine Tanzpartnerin: „Wieso brauchen die eigentlich Musik?
Die stört doch nur!“ Ihre Antwort: „Schon, aber ohne Musik würde ihnen das
Ganze komisch vorkommen.“
Wer das Drama musikalisch nacherleben will:
Quellen :
Hier ein Kommentar von Werner Naaff:
AntwortenLöschenHerr Riedl, die von ihnen erlebte Vernichtung eines schönen Tanzmusik-Stückes kenne ich zur Genüge. Genau aus diesem Grund suche ich Veranstaltungen mit relativ wenigen Besuchern. Da ich ein ausgesprochener Fan des Vals bin und bei dem richtigen Stück auch entsprechend Fahrt aufnehme, habe ich mir den einen oder anderen vernichtenden Blick zugezogen. Aber darf ich nicht einmal aus der Reihe tanzen und die Musik so umsetzen wie es mir/uns gefällt?
Sehr gut ist mir folgende Szene in Erinnerung geblieben: Entspannt sitzen wir in der Nähe der Tanzfläche (regelmäßig sind wir auf Standard- und Latein-Veranstaltungen), da erklingt unser Lieblingswalzer "Pirates of the Caribbean", wir wissen, in ca. 2 Minuten ist er Geschichte. Also geschwind auf die Tanzfläche und losgelegt. Nach ein paar Sekunden nähern wir uns der vorgegebenen Geschwindigkeit und los geht's.... wir werden in den Tornado der Karibik hineingezogen, drehen uns rechts- und linksherum in schnellem Tempo, durchqueren die Saallänge innerhalb von Sekunden und sind glücklich in den Wogen des tosenden Meeres gefangen, als plötzlich ein Paar auf der Tanzspur anhält und zu diskutieren anfängt. Wie ein Fels in der Brandung. Leute, dazu ist beim Walzer in der Mitte der leere Raum vorgesehen... unglaublich... also versuchte ich mit der angefangen Rechtsdrehung an dem Paar links vorbeizukommen, was knapp gelang... deren Blick tötete mich auf der Stelle. Und der Tornado zog ohne uns weiter...
Lieber Werner Naaff,
AntwortenLöschenvielen Dank für die Bestätigung!
Meine Vorliebe sind ebenfalls Milongas, die nicht überlaufen sind und daher noch Raum zum Tanzen bieten. Es muss ja nichts Schlechtes heißen, wenn eine Veranstaltung nicht viele Besucher anzieht – ebenso, wie eine proppenvolle Milonga ganz fürchterlich sein kann.
Auch die Parallele zum Standardtanz ist völlig berechtigt. Ich kenne dort auch die bösen Blicke, wenn man einen Wiener Walzer mal mit Raumgewinn interpretiert anstatt auf der Stelle herumzueiern.
Beste Grüße
Gerhard Riedl
Heute erreichte mich ein Kommentar von Wolfgang Sandt:
AntwortenLöschenMeine Güte, wo geht Ihr zum Tanzen?
Ich erlebe das in regulären Milongas eher selten. Schwieriger wird es manchmal bei Tangobällen, da kommt wirklich manchmal ein, sagen wir mal, sehr buntes Publikum.
Allerdings sind genau die oben geschilderten, offensichtlich nicht ronda-tauglichen Tänzer ein Argument für den Sinn der Ronda, wo, im besten Fall, alle zusammenarbeiten, keiner blockiert, und dadurch auch niemand gezwungen wird, zu überholen.
Und da wir gerade bei Tornados, tosenden Meeren und anderen meteorologischen Vergleichen sind: Die Ronda soll fließen wie ein Fluss, welcher dahinfließt, wo im Flussbett Platz ist. Sie muss ja nicht gleich zum Tsunami werden, der alles und jeden wegspült.
Zum Thema tödliche Blicke: Sofern wir niemand umgerempelt oder sonstwie Leib und Leben beeinträchtigt haben, gilt der schöne Spruch "gor ned ignoriern".
Lieber Wolfgang,
Löschenden Ort unserer Erfahrung möchte ich lieber nicht nennen – man muss sich nicht unnötig noch mehr Feinde machen. Zudem betrifft das viele Szenen, wo (oft aus erster argentinischer Hand) ein Unterricht gehalten wird, der – vorsichtig gesagt – eventuell vorhandene Talente nicht ausschöpft, schon gar nicht hinsichtlich der Musikinterpretation.
Aus meiner Sicht ist es dann völlig egal, ob solche Paare linksrum, rechtsrum oder quer tanzen. Das ist eine Bestätigung für gar nichts außer der Tatsache, dass man mit einfältiger Beschallung und Figurentanzen genau nichts erreicht.
Auch auf einem Fluss (oder der Autobahn) kann und darf man andere Fahrzeuge überholen. Die „ideale Ronda“, die man gerne zusammenfantasiert, habe ich noch nie erlebt, daher orientiere ich mich lieber am Realen.
Und klar, die „tödlichen Blicke“ halt ich schon aus – zumal sie oft Stoff für einen neuen Text liefern. Inzwischen muss man ja niemanden mehr rempeln oder behindern – allein die Störung der Meditation reicht völlig.
Besten Dank und herzliche Grüße
Gerhard