Kalorilonga


„Übergewicht bzw. Adipositas werden mit dem Body Mass Index (BMI) klassifiziert. Übergewicht dient als Überbegriff und bezeichnet Personen mit einem BMI ≥ 25, mit einem BMI ≥ 30 sind sie adipös. (…)
Die Zahl der Übergewichtigen nimmt in Deutschland weiterhin zu. 59 % der Männer und 37 % der Frauen sind übergewichtig. (…) Männer sind besonders häufig zu dick: Am Ende ihres Berufslebens sind 74,2 % übergewichtig. Bei den Frauen im gleichen Alter sind es 56,3 %.
Viele Menschen in Deutschland essen zu viele energiereiche Lebensmittel und bewegen sich zu wenig. Preiswerte und schmackhafte Lebensmittel und Getränke mit hohem Energiegehalt sind nahezu überall verfügbar – egal ob zu Hause oder unterwegs. Und diese Faktoren machen es schwer, normalgewichtig zu bleiben.
Auch immer mehr Ältere sind extrem dick. Insbesondere bei den über 65-Jährigen hat die Anzahl der Personen mit sehr ausgeprägter Adipositas (BMI ≥ 40) in der Zeit von 1999 bis 2013 bei den Männern um 300 % und bei den Frauen um 175 % zugenommen.“

Inwieweit sich welches Über- oder Untergewicht schädlich auf die Gesundheit auswirkt, ist statistisch nicht unumstritten. Dennoch führen höhere Norm-Überschreitungen sicherlich zu Kreislauf- und Stoffwechselleiden – ob nun als direkte Auswirkung oder über die Erhöhung von Blutdruck, Cholesterinwerten usw.

Wer von mir allerdings eine heute umfassend angesagte Gesundheits-Predigt erwartet, ist schief gewickelt: Die Apologeten des Ernährungs- und Gesundheitswahns gehen ja stillschweigend davon aus, dass eine Erhöhung der Lebenserwartung das höchste aller Güter sei.

Da wünsche ich im Einzelfall viel Spaß: Mit neunzig bei Abwesenheit von schlimmen Diagnosen (also bis auf eine fortschreitende Demenz ziemlich „gesund“) nach Jahren des Verfalls im Pflegeheim zu sterben (oder ebenso lange die Arbeitskraft der Familie zu binden) ist nicht so ganz mein Fall. Hatte man dann – bei Verzicht auf alles, was schmeckt, ungesund oder unmoralisch ist – ein „glückliches“ Leben? Oder eher dann, wenn einen nach hohem Lebensgenuss statistisch frühzeitig ein Herzinfarkt niederstreckt? Aber Glück als Parameter ist halt völlig ungeeignet für randomisierte, doppelt verblindete und placebokontrollierte Studien…

Was mich noch mehr schreckt: Die Tangoindustrie hat ja nun – nach der Inklusion – die Alzheimer-Therapie für sich entdeckt. Daher quält mich die Vorstellung, in gagaeskem Zustand vielleicht noch das erleiden zu müssen, was ich zu klaren Zeiten in der Birne stets vermieden habe: Zu angeblich „schöner und gefühlvoller Musik“ im Kreis herumzulatschen.

Und, das muss hier einmal gesagt werden: Auf der 187 Länder-Hitliste der Fettleibigkeit steht Argentinien mit zirka 26 Prozent Dicker (Platz 46) deutlich vor Deutschland (20 Prozent, Platz 94). Vielleicht auch deshalb, weil man im Mutterland gerne und viel auf den Milongas isst?
Die vordersten Plätze nehmen übrigens diverse Südseeinseln ein!
Aktuell sind hierzulande sind 61 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen übergewichtig!
https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Gesundheit/Uebergewicht.html 

Sollten Sie jedoch schon schwer erkrankt sein, gilt für Sie möglicherweise das „Adipositas-Paradoxon“, wonach bei bestimmten Leiden die Überlebenszeit bei höherem Gewicht steigt. Dann haben Sie auf der Intensivstation mehr zuzusetzen – Tango tanzen wird allerdings nicht mehr gehen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Adipositas-Paradoxon

Es sind dennoch keine Gesundheitsaspekte, die mich zu einer Aussage treiben, bei welcher sich die Zustimmung in noch engeren Grenzen halten dürfte als sonst: Mir missfällt die immer mehr um sich greifende Kombination von Tango und Nahrungsaufnahme.

Zunehmend erkenne ich bei Tanzveranstaltungen, zu denen ich in durchaus freudiger Erwartungshaltung erscheine: Ich bin mal wieder auf eine „Kalorilonga“ geraten!

Nun ist ja nichts dagegen einzuwenden, als Veranstalter zum Ausgleich für stundenlanges Tanzen ein wenig Brennwert vorzuhalten, vielleicht ein Stück Kuchen (KEINE Torte!) oder ein wenig Brot und Käse – zum Einwerfen nebenbei. Machen wir ja in Pörnbach auch. Was ich de facto öfters erlebe, hat damit nichts mehr zu tun: Meterlange Büfetts, bei denen sich die Balken biegen. Leider hat sich so in vielen Tangoszenen der Typus der „gemeinen Nudelsalat-Mitbringerin“ etabliert: Statt zu Hause mal ein wenig Tango zu hören und gar zu üben, wird in stundenlanger Vorbereitung alles aufgeboten, was Küche und Keller hergeben.

Manchmal wird man auch selber zum Essens-Transport verpflichtet: Man solle, so liest man in der Einladung, etwas zum Büfett bei- bzw. herantragen. Es macht vor allem im Winter viel Spaß, dann vom eventuell weiter entfernten Parkplatz, schon beladen mit Handtasche und Schuhbeutel, den Teller mit den Käsehäppchen über Schneewehen und Glatteis zum Tupper-Tango zu bugsieren. Die meisten Selbstmorde, so sagte man früher, fänden mit Messer und Gabel statt. Nun ja, beim Tango gibt es ja „Fingerfood“

Mich erinnert das an eine Beschäftigung, der meine Oma früher nachzugehen hatte: Da es einst in den Fabriken keine Kantinen gab, mussten die Frauen „Essen tragen“, also den Männern in der Mittagspause den Henkelmann mit dem Eintopf vors Werkstor bringen. Eigentlich dachte ich, diese Zeiten seien vorbei.

Auch das Lamento von Veranstaltern, der Wirt storniere den Tango, wenn nicht genug gegessen werde, beeindruckt mich wenig. Wer speisen will, kann eine Stunde früher kommen oder, noch besser: Zahlt's doch dem Gastronomen eine ordentliche Saalmiete! Dann hört das Dauersterben der Milongas auf, welches auf zu geringen Umsätzen der Lokale basiert. Die Szene muss endlich einmal kapieren, dass ein Tanzabend nicht weniger Eintritt kosten kann als eine Kinokarte!

Nun kenne ich natürlich die Reaktion auf solcherlei Kritik: Lass doch jeden nach seiner Façon selig respektive dick werden! Was stört mich daran, wenn es auch Milongas gibt, deren Gäste sich auch an andere Schnitten heranmachen?

Nun könnte ich eventuell den Gestank von ranzigem Frittier- und Pizzafett sowie den Knoblauchdunst des Tsatsiki ins Feld führen, den der Konsument möglicherweise mit aufs Parkett nimmt. Als Raucher lasse ich das wegen der zu erwartenden Retourkutschen lieber. Aber immerhin gebe ich zu bedenken: Qualmen darf man inzwischen nur noch vor der Tür – gerne begleitet von einschlägigen Gesundheitssprüchen der Tango-Passanten. Ich hätte daher nichts dagegen, wenn man auch den Ort der Nahrungsaufnahme nach draußen verlegen würde – zumal bei Wind und Wetter würde dies die Abwesenheit von der Tanzfläche minimieren. Alternativ ließe sich auch an Gesundheitsvorträge (wie Diabetes-Statistiken) im Tango-Restaurantbereich denken – stieße sicherlich auf viel Sympathie…

Spaß beiseite! Im Kern geht es mir darum: Für mich ist eine Milonga die Gelegenheit, einen Dialog mit dem Tango und den Tanzpartnerinnen zu führen. Ich möchte mich in die Musik einfühlen, sehen, wer vielleicht gerne mit mir tanzen möchte, in eine gewisse Stimmung kommen. „Nebengeräusche“ wie Essen, Sektempfänge oder ellenlange Gespräche verhindern diese zuverlässig.

Und der Widerspruch bleibt: Tanzen und Futtern unterscheiden sich im Vorzeichen der Gewichtsentwicklung!

Gerade, wenn Tanz- und Essgelegenheiten räumlich getrennt sind, entwickeln sich gerne „Parallelgesellschaften“: Eine stattliche Anzahl von Gästen zieht sich für längere Zeit in den Fresstempel zurück und pflegt ausführliche Gespräche. In diesem Licht erscheinen mir Klagen von Frauen, zu wenig aufgefordert zu werden, ziemlich absurd. Ja was denn, Mädels – soll ich euch vom Esstisch wegzerren? Oder euch erklären, dass das Wort „Konfektionsgröße“ den Begriff „Konfekt“ enthält?

Nein, kein Sexismus: Wie man an der einleitenden Statistik sieht, sollten wir Männer uns lieber um den eigenen Bauch kümmern, bevor wir uns dem der Tanzpartnerin zuwenden. Und ich habe schon mit vielen verspannten Dünnen und lockeren Dicken getanzt. Aber bitte, liebe Damen: Ich möchte tanzen und nicht mit euch Essen gehen!

Wer mich allerdings für einen Kostverächter hält, irrt: Ich essen gerne nach der Rückkehr von einer Milonga zu Hause. Da ist Gelegenheit, die Erlebnisse des Abends durchzuhecheln – und am nächsten Morgen kann ich dann einen Artikel wie diesen schreiben!

Grafik: www.tangofish.de

P.S. Da ich die Frage nach meinem eigenen Body Mass Index (BMI) schon ahne – also Körpergewicht (in kg) durch Quadrat der Körpergröße (in m): Er liegt bei zirka 27 – nach WHO-Norm also leichtes Übergewicht. Abgesehen davon, dass es inzwischen genauere Wertesysteme gibt: Nach neuen Erkenntnissen hat sich die optimale Lebenserwartung im Lauf der Zeit verändert. Während vor 40 Jahren der „gesündeste“ BMI noch bei 23,7 lag, ist er nun auf 27 (!) angestiegen. Da hab ich doch wenigstens einmal was richtig gemacht!
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-optimales-uebergewicht-1.2987480

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