Revival zulässig
Mein
Lieblings-Musikerwitz:
Der greise Maestro gibt
bei der Probe den Einsatz – unterbricht jedoch gleich wieder. „Die Streicher
sind zu laut.“ Betretenes Schweigen, neuer Versuch. Sofort klopft der sowohl berühmte
als auch bejahrte Dirigent wieder ab: „Die Streicher sind immer noch zu laut.“
Da fasst sich der Stimmführer ein Herz: „Maestro, heute haben wir Bläserprobe –
die Streicher sind gar nicht da.“ „Dann sagen Sie es ihnen, wenn sie kommen.“
Es
begab sich schon vor einigen Wochen: In einer geschlossenen FB-Gruppe von Tango-DJs meldete sich einer, von dem
ich die folgenden Aussagen nie erwartet hätte – er legt regelmäßig auf einer
Milonga auf, die für mich (jedenfalls in der Zeit, wo ich sie noch besuchte)
musikalisch zum langweiligsten gehört, das ich in knapp 20 Tangojahren erlebt
habe. Selbstredend achtet man dort bis heute laut Einladungstext auf eine „gepflegte Ronda“ und ruft „notorische
Kreuz-und-Quer Tänzer diskret zur Ordnung“.
Sorry, ich würde mich ja gerne einmal vom aktuellen Stand überzeugen – doch unter
diesen Bedingungen…
Und
nun aus nicht direkt berufenem Munde dies:
„Auf die Frage „Warum spielt ihr DJs immer
nur die alten Sachen“ antwortete ich wie viele andere DJs noch vor wenigen
Jahren mit Überzeugung: ‚Die Klasse der großen Orchester erreicht heute keiner.‘
Doch mittlerweile
gibt es zahlreiche Orchester, die dieses Urteil zumindest abschwächen, wenn
nicht widerlegen.“
Echt?
Doch jetzt schon entdeckt, was ich seit 2007 regelmäßig auflege? Da wird mir ob
des Tempos regelrecht schwindlig!
Der
DJ präsentiert sogar eine längere Liste von
weitgehend uneingeschränkten Empfehlungen:
ORQUESTA
TIPICA SANS SOUCI
ORQUESTA
TIPICA LA JUAN D’ARIENZO
SILENCIO
TANGO ORCHESTRA
ORQUESTA
TIPICA SILBANDO
TANGO
BARDO
ORQUESTA
ROMANTICA MILONGUERA
SEXTETO
PABLO VALLE
ORQUESTA
TIPICA ANDARIEGA
ORQUESTA
TIPICA VILLA URQUIZA
Lustig
die Vorbehalte gerade bei zwei der
populärsten Gruppen: HYPERION ENSEMBLE und SEXTETO MILONGUERO – da klänge
manches „schief“, „unsauber“ bzw. „aufdringlich“.
Es gibt zwar renommierte Musiker, die meinen, Tango dürfe nicht zu exakt und
perfekt wirken, sondern eher „schmutzig“
– aber gut, Geschmackssache.
Und
nun? Meldeten sich mal wieder die Ewiggestrigen mit ihren Verfluchungen moderner Tangomusik? Eher nicht. Ein etwas hitziges Wortgefecht entstand lediglich angesichts
der Tatsache, dass der DJ es gewagt hatte, auf Deutsch zu schreiben. Sowas könnten Englischsprechende trotz der
angebotenen Übersetzungshilfe nicht verstehen. Da flogen dann schon mal
Vokabeln wie „Ekel“ und „keine Manieren“ über die Rampe. Nun gut,
„internationale“ DJs unter sich – man gönnt einander ja auch sonst nix…
Nein,
erstaunlicherweise kamen weitere
Vorschläge, unter anderem:
SOLO
TANGO ORQUESTA
TANGO
EN VIVO
BASSA
SEXTETO
CRISTAL
QUINTETO
ÁNGEL
COLLECTIF
ROULOTTE TANGO
MANDRÁGORA TANGO
ORQUESTA SILBANDO
EL CACHIVACHE QUINTETO
PIAZZOLLEKY QUINTET
CUARTETO SOLTANGO
ALEJANDRO ZIEGLER TANGO QUARTET
ORQUESTA TIPICA ANDARIEGO
ORQUESTA TIPICA MISTERIOSA BUENOS AIRES
Bei
Fortdauer der Diskussion wurden dann doch noch einige Härchen in der Suppe gefunden: Die neuen Orchester spielten zu
wenig Valses, die Sänger und vor allem die Geigen klängen schwach beziehungsweise
schmerzhaft für die Ohren.
Ach
so: Die Streicher sind zu leise…
Man
sollte jedoch bedenken, dass sich bei jahrelangem Hören von frequenzreduzierten
alten Aufnahmen (noch dazu per Kopfhörer) die Ohren darauf adaptieren.
Es ist ein bisschen wie beim „Erdbeerjoghurt“, der ja heute in erster Linie
künstliche Aromastoffe enthält. Kindern, denen dann eine solche Milchspeise
erstmals mit natürlichen Früchten angeboten wird, schmeckt es nicht.
Eventuell
spielt beim Durchschnittsalter im Tango auch die mit fortschreitender
Lebensdauer abnehmende Empfindlichkeit
gegenüber höheren Tönen eine Rolle:
Man hört zwar noch ungefähr die „Fledermaus“,
ist aber keine mehr…
Aber
im Ernst: Ich propagiere ja keine „Qualitätsgarantie“
für jede zeitgenössische Formation – bei meinen Recherchen zu diesem Artikel
habe ich Beispiele gefunden, über die ich lieber den gnädigen Mantel des
Schweigens decke. Aber es gibt genug heutige Tangomusiker, zu deren Aufnahmen
man wunderbar tanzen kann. Und auf jeden Fall bringen sie mehr Energie aufs Parkett als viele alte
Einspielungen, die in simpelsten Arrangements und konstant langweiligem Tempo
vor sich hin plempern.
In
der genannten Facebookgruppe gibt es Berichte von der Begeisterung, welche gelegentliche Tandas moderner Gruppen auf den
Milongas auslösten. Ich kann das aus eigener Erfahrung nur bestätigen.
Von
einer Menge der obigen Ensembles habe ich schon etwas aufgelegt, ja sie als „musikalisches Special“ unserer
Wohnzimmermilonga vorgestellt. Und Kollege Thomas
„Waldorf“ Kröter hat Tausende von
Videos auf Facebook verlinkt. Ich hoffe daher, kein „traditioneller“ DJ wird
sich nun für seine verspäteten Entdeckungen feiern lassen.
Die
bisherige Situation ist wahrhaft traurig genug: Nach Piazzolla, Salgan & Co. sowie deren Schülern und Nachfolgern
hat man bereits zwei Generationen
von Tangomusikern „erfolgreich“ von den Tanzflächen fern gehalten. Nun geht es
also um die dritte. Und wer da geschmäcklerisch an Leistungsunterschieden zu den alten Orchestern herummäkelt, sollte
sich einmal überlegen, wieso die Altvorderen teilweise (!) so gut werden
konnten. Richtig, man hat ihnen unzählige
Auftrittsmöglichkeiten geboten. Das wäre auch den heutigen Tangomusikern zu
gönnen – und ich sehe inzwischen Tendenzen, sie mehr als früher auf Milongas
spielen zu lassen. Es wird sich bezahlt machen!
Vor
einem allerdings möchte ich warnen: Wer meint, die Aufgabe heutiger
Musikgruppen müsse sich darauf beschränken, die alten Arrangements ein zu eins nachzuspielen, um somit rauschfreie
Versionen der alten Aufnahmen zu erzeugen, ist schief gewickelt. Wir haben
heute in Europa und anderswo ein anderes Lebensgefühl
als vor 80 Jahren am Rio de la Plata – und auch die Spieltechniken und Bearbeitungen
haben sich weiterentwickelt, neue Instrumente,
Besetzungen und Musizierweisen
bereichern den Tango, wenn man es denn zulässt.
Man
kann über die Sendung „Let’s Dance“
unterschiedlicher Auffassung sein – aber die Tanzmusik, die man dort den Paaren
bietet, ist topaktuell. Und in jeder
normalen Tanzschule spielt man auch und vor allem Aufnahmen von heute. Ein Institut,
in dem musikalisch spätestens bei Erwin Lehn,
Kurt Henkels, Alfred Hause und Vico
Torriani Schluss wäre, hätte ein Publikum im Altersdurchschnitt des heutigen Tango argentino. Dort möchte man
aber die Jugend auf das Parkett
locken! Vielleicht sollten DJs, Tangolehrer und Veranstalter einmal darüber
nachdenken.
Wollen
wir im Tango so enden wie in den 1970-er Jahren in Argentinien, wo Tanz und Musik
in Seniorenzirkeln vor sich hin siechten? Bekanntlich bestand damals die
Rettung im Tango nuevo eines Astor Piazzolla, der eine neue
Generation zum Tango lockte – bis man dann 25 Jahre später erneut feststellte,
seine Musik sei „nicht tanzbar“.
Nun
gut, wir wollen nicht undankbar sein: Immerhin ist wohl die Frontlinie, moderne Tangomusiker seien allesamt Banausen oder bestenfalls deren Produkte nicht zum Tanzen geeignet, nicht mehr zu halten. Die Mehrheit des Publikums sieht dies
schlichtweg anders – und das bekommen DJs und Veranstalter immer stärker zu
spüren.
P.S. Wer dazu tanzen will, sollte hören, dass es sich um einen Vals handelt...
Boah, schöner Vals!
AntwortenLöschenPs: hab am Donnerstag grad das cachivache quinteto live erlebt ( in München!). Total mireissende Energie ...
Danke!
LöschenVon Cachivace Quinteto muss ich mir auch unbedingt mal Aufnahmen für unsere Wohnzimmer-Milonga besorgen, das Ensemble ging bislang irgendwie an mir vorbei.