Berlin kann man sich schenken


Arnold Voss ist ein in der Tangoszene bekannter Autor. Sein Buch „Aus dem Bauch des Tangos“ ist ein Klassiker, und soeben hat er mit „Tango ist eine Diva, die manchmal weint“ ein neues Werk zum Thema herausgebracht (in der „Tangodanza“ 3/2018 sehr positiv besprochen von Thomas Kröter).

In derselben Ausgabe der Zeitschrift (S. 30-31) findet sich jedoch ein Artikel von ihm, den ich nicht unkommentiert lassen mag: „Berlin bekommt man nicht geschenkt, Berlin muss man sich erobern“. Sein Fazit: Es ist sehr schwierig, im Berliner Tango Kontakte respektive gar Tanzpartner zu bekommen. Der Grund: In der Tangogemeinschaft der Bundeshauptstadt herrscht – gemeinhin und vergröbert gesagt – die Sozialkompetenz von Kellerasseln. So weit, so ehrlich. Was ich allerdings überhaupt nicht verstehe: Voss gibt „Neun Hinweise für deinen ersten Besuch der Berliner Tangoszene“. Wozu eigentlich?

Im Einzelnen:

Es fängt schon gut an: „Erwarte keine Gastfreundschaft“, so weiß der Autor seine Leserschaft zu warnen. Berlin habe einfach zu viel Zulauf. Das scheint dem Benimm nicht gutzutun: „Wenn du zum ersten Mal in der Hauptstadt aufschlägst und keine Berlinera und keinen Berlinero kennst, bist du erst einmal ein Nichts und wirst auch so behandelt.“ Wie schön, das macht mir natürlich Mut, mich von Pörnbach aus auf die zirka 530 km lange Fahrt zu machen!

„Komm besser nicht allein“: Was der Berliner nicht kennt, das frisst er nicht. Also lieber einen Tanzpartner mitbringen! Aber selbst das „Gesehenwerden“ (im Falle exzellenten eigenen Tanzkönnens) nütze nicht viel: „Die Berlineras und Berlineros fremdeln mehr, als bei einer solch weltoffenen Stadt zu erwarten wäre.“ Letzteres halte ich für eine unbewiesene Behauptung…

„Vermeide (nicht) Milongas mit (zu) vielen Edeltänzern und Lehrern“: Mit dieser schicken Dialektik deutet uns Voss an, Tango sei für viele dort eine Möglichkeit zum beruflichen und sozialen Aufstieg. Also sei es von Nachteil, mit jemand aus den unteren Klassen auf dem Parkett beobachtet zu werden: „Ein hohes Tanzniveau bedeutet in der Regel auch eine höhere Arroganz“. Immerhin könne man durch Einlassung auf den Konkurrenzkampf eventuell einen „Achtungspreis“ erringen. Ansonsten sei es ja interessant, den Künstlern bei der Arbeit zuzusehen.

„Wenn du keine ganze Woche Zeit hast, wähle die Milongas vorher aus“: Na klar, das mach ich im hiesigen Oberbayern seit vielen Jahren und lasse eine größere Anzahl von Veranstaltungen einfach aus. Aber gut, dass wir mal drüber gesprochen haben.

„Beobachte den Grad der ‚Argentinidad‘“: Hinter diesem schicken Neologismus verbirgt sich das, was wir rund um den Pörnbacher Kirchturm bislang „Código-Gedöns“ oder dessen Urheber schlicht bayerisch als „hochnaserts Gschwerl“ bezeichneten. In Berlin nennt man das „informelle Verhaltensregeln, die sich an den Traditionen von Buenos Aires orientieren“. Und: „Die ‚Argentinidad‘ nimmt dabei in der Regel mit dem Tanzniveau zu.“ Ach nee, det wüsst ick aber…

Immerhin: „Mach dir keine Sorgen um deine Kleidung.“ Damit ist leider nicht gemeint, in Berlin gäbe es weder verpappte Stühle noch Diebstähle in der Garderobe, sondern soll schlicht ausdrücken, der Hauptstädter liebe eher die unaufdringliche (bis ungewaschene) Lässigkeit. Hier gelingt Arnold Voss eine glitzernde Satire: „In diesem Eldorado des heroisierten, unbedingten Selbstausdrucks wird äußere Schönheit als gelungene Harmonie aus Kleidung, Bewegung und Körperform zum Zufallstreffer.“ Als Tangotourist könne man hingegen „durch eigene angemessene Bekleidungsanstrengungen (…) der Ästhetik der Berliner Tangoszene nur Gutes tun.“ Wahrlich, der Autor weiß die Zumutungen zu steigern: Tanzlos herumsitzend die versammelte „Kelly Familiy“ betrachten müssen, aber das fein herausgeputzt… Ich halte das für arm, aber unsexy.

Die letzten drei Tipps möchte ich nur noch kurz zusammenfassen: Tapfer bleiben, durchhalten, Gespräche versuchen, Freundschaften aufbauen, bald wiederkommen, damit man nicht gleich wieder vergessen wird. Und ja: Mit „Tango-Bohemiens“ (lies: Kneipen-Philosophen) versacken! Kann ich allerdings auch alles im Pörnbacher „Gasthof Bogenrieder“ (500 m Fußweg).

Im Ernst: Wozu soll ich Hunderte von Kilometern in eine Großstadt fahren und dann noch mühsam herumsuchen, bis ich vielleicht eine Milonga finde, in der es auch ein paar normale Menschen gibt, die nicht jeden Kontakt erstmal verweigern? Gehört Masochismus zur Pflichtausstattung, wenn man Tango tanzen will?

Mein Berlin heißt München: In einer ganzen Anzahl von Artikeln habe ich die Sozialdefizite dort beschrieben. Dass sich dadurch etwas ändern wird, halte ich für eine mutige Prognose. Erst recht, dass sich der Zustrom zu den dortigen Milongas verringern wird – und somit die Grundlage für affektierte Bedeutungshuberei abnehmen könnte.

Bezeichnenderweise gibt es vor den Toren der bayerischen Landeshauptstadt Milongas, auf denen der Fremde zum Freund wird: Beispielhaft unter anderem der „Tango de Neostalgia“ in Freising oder das „El Farolito“ in Gröbenzell. Dessen Veranstalter, Alfredo Foulkes, hat einmal über sein Heimatland gesagt: „Argentinien besteht aus Buenos Aires – und Argentinien.“ Das kann man auf viele Metropolen übertragen.

Und ich werde es so oft wiederholen, bis man es nicht mehr ignorieren kann: Auch im Tango stinkt der Fisch vom Kopf her. Solange Veranstalter und DJs nicht aufgeschlossen zumal gegenüber neuen Besuchern sind, ja sogar fallweise mit ihnen tanzen, werden sich viele Gäste ebenfalls distanziert verhalten.

In seinem Buch „Aus dem Bauch des Tangos“ schreibt Arnold Voss 1999 in einer Überschrift: „Tango ist Hingabe an einen Fremden“. Sollte er das inzwischen nicht vergessen haben, könnte er es den Berliner Tango-Verantwortlichen einmal ausrichten. Weinende Divas sollte er dabei in Kauf nehmen!

Inzwischen schenke ich mir den realen Eindruck und schaue ich mir die sensationellen Berliner Tänze lieber auf YouTube an:

Kommentare

  1. Danke für das "wunderbare" Video, aber ich wusste gar nicht, dass man in Berlin bei einem Leichenschmaus (so heißt das zumindest hierzulande) auch tanzen kann 🤣🤣

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    1. Gerne geschehen, ich musste auch gar nicht lange suchen!
      Nach Siegfried Lenz ("So zärtlich war Suleyken") hat man das verstorbene Tantchen schon mal hochkant gestellt, damit mehr Platz war...
      Auf masurischen Dörfern gings wohl lustiger zu als in Berlin!

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  2. Etiketten(schwindel) oder eine Bildungsreise

    Ein Besuch dieses (!) Berlins käme mir vor wie eine Station der „Bildungsreise“, die St. Exupérys kleinen Prinzen auf verschiedene Planeten führt:

    Den ersten bewohnt - ganz alleine - ein imposanter König. Vorsichtshalber dennoch mit Purpur und Hermelin angetan, sitzt er auf seinem Thron.
    „Ah! Ein Untertan!“, schreit er beim Anblick des kleinen Prinzen. Dieser wundert sich, woher ihn der König denn kenne.

    (Das unterscheidet diese Geschichte vom Berliner Tango – hier fehlen offenbar die Begrüßungsrufe. Trotzdem – man braucht Statisten, sonst funktioniert das König-Spielen nicht!)

    Der kleine Prinz wusste nicht, dass für Könige die Welt sehr einfach konstruiert ist: Alle Menschen sind Untertanen!

    „Komm näher, damit ich dich besser sehen kann.“ Und der König war ganz stolz, dass er endlich für jemand König sein konnte.

    Weil er müde war, wollte sich der kleine Prinz setzen, aber überall war der Hermelinmantel ausgebreitet.
    Er gähnte.
    Man gähne nicht in Gegenwart des Königs, tadelt dieser, das verstoße gegen die Etikette. „Ich verbiete es dir.“
    Er könne nicht anders, er habe auf seiner Reise lange nicht geschlafen.

    „Also, dann befehle ich dir zu gähnen, weil mich das amüsiert.“
    Dieses Hin und Her schüchtert den kleinen Prinzen ein, und nun kann er nicht mehr gähnen. So befiehlt der König ihm, bald zu gähnen und bald nicht.

    Denn der König war zutiefst darauf bedacht, dass man seine Autorität respektiere, und duldete keinen Ungehorsam. Er war nämlich ein absoluter Herrscher!

    Der kleine Prinz merkt, dass der Planet des Monarchen winzig ist. Worüber herrsche er eigentlich?
    „Über alles“, erklärt der König schlicht.
    Aber um zu vermeiden, dass seine Befehle ins Leere gehen, befiehlt er achtsam nur das, was möglich ist, z.B. den Sonnenuntergang am Abend! So bleibt seine Autorität erhalten.

    Den kleinen Prinzen drängt es, seine Reise fortzusetzen. Auch das Angebot des Königs, ihn zum Justizminister zu ernennen, als welcher er nach Belieben das Todesurteil über eine auf dem Planeten ansässige Ratte fällen und wieder aufheben dürfe (man muss sie aufsparen, denn es gibt nur die eine!), kann den kleinen Prinzen nicht verlocken.

    Schließlich legt ihm der König ans Herz, über sich selbst zu urteilen, das sei ohnehin das Allerschwerste.
    Aber da der kleine Prinz meint, das nicht ausgerechnet auf diesem Planeten tun zu müssen, zieht er lieber weiter, wobei er sinniert:

    „Die großen Leute sind entschieden sehr verwunderlich!“

    Stimmt!

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  3. Eine Ferndiagnose dieser Milonga über dieses Video würde Worte wie sterbenslangweilige Musik, ebensolche, uninspirierte Tänzer und strukturlose Ronda enthalten. Aber erstmal wäre eine solche Beurteilung auf Basis von nur einem Datenpunkt ein bisserl gemein. Und solche Milongas findet man ja auch anderswo.

    Was mich zu der Frage bringt "warum Baalin?". Darauf liefert der Voss'sche Text allerdings keine Positivantwort, was Du, lieber Jerhard, ja auch sehr schön rausgearbeitet hast. Leute gucken und über soziale Stöckchen springen, wer das mag, ist da sicher richtig. Mein Sport ist es nicht.

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    1. Immerhin erschien das Video auf YouTube beim Suchbegriff "Tango Berlin" gleich ganz oben, ich musste also nicht lang recherchieren.

      Das Problem ist halt: Es gibt im Berliner Umland sicher auch kleine, unbedeutende Milongas, die sehr nett sind. Aber da geht halt keiner hin - ist ja "nix los"...

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  4. Früher oder später kommt man vielleicht mal nach Berlin, und dann ist es doch gut, wenn man pauschal vorgewarnt ist. Wobei man "den Berlinern" ja gemeinhin eine gute Portion schnodderige Arroganz unterstellt. Um mit Einheimischen in Kontakt zu kommen kenne ich aber trotzdem keine zuverlässigere Möglichkeit als Tango.

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  5. Heute erreichte mich ein Kommentar von Regina Müller:

    Kürzlich war ich mit meiner Freundin in Berlin auf einer Milonga im La Bruja. Wir sind dort (als Frauenpaar!) außerordentlich freundlich aufgenommen worden. Nachdem wir ein paar Tandas zusammen getanzt haben, ist meine Freundin von den dortigen Herren so häufig aufgefordert worden, dass ich Mühe hatte, nach vier Stunden Tanzvergnügen die letzte Tanda mit ihr zu tanzen. Auch ich habe als Führende die Tänze mit den Berlinerinnen (korbfrei) genossen.

    Ach ja, wir hatten an der Kleidung der Berlinerinnen und Berliner nichts auszusetzen …

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    1. Vielen Dank für den Erfahrungsbericht!
      Solche Beispiele und Empfehlungen helfen sicher Auswärtigen, welche in Berlin Tango tanzen wollen.

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