Soziologie einer Großstadtmilonga
Es
begab sich neulich, dass ich – allen Mut zusammennehmend – nach Jahren einmal
wieder eine traditionelle,
großstädtische Milonga besuchte. Ich war gespannt: War das Musikprogramm immer noch so langweilig
wie früher, und vor allem: Wie stellte sich das soziale Beziehungsgeflecht dar? Einladend und motivierend für alle
oder doch restriktiv bis ausgrenzend?
Die
gute Nachricht zunächst: Ja, es gibt
selbst an solchen Plätzen inzwischen DJs, welche von den allzu ausgetretenen
Pfaden abweichen und sich bemühen, energievolle,
durchaus zum Tanzen motivierende Tandas
zu spielen – selbstverständlich nach den festen Regeln eines orthodoxen Musikprogramms (Cortinas,
genaue Zahl und Verteilung von Tango-, Vals- und Milongarunden). Und
tatsächlich stammten die Aufnahmen nicht nur aus den hergebrachten EdO-Beständen, sondern zu einem guten
Teil von Cover-Orchestern, welche
die alten Sachen täuschend ähnlich, jedoch etwas frischer und rauschfrei
abliefern. Dass ich das noch erleben darf…
Um
die Sache endgültig ins Sensationelle zu steigern: Ich erhielt während meiner
Anwesenheit zwei (!) Runden mit alternativer (Non-)Tangomusik, die gut ausgewählt war. Technisches Handling und Wiedergabequalität waren vom Feinsten
und durchaus als professionell zu bezeichnen.
Wir
wurden vom Veranstalter sogar kurz begrüßt
– ob das daran lag, dass wir ihm bekannt waren, vermag ich nicht zu beurteilen.
Damit hatten sich die Sozialkontakte
dann allerdings auch fast erledigt.
Einem
Außenstehenden fiele am Verlauf des
Abends wohl wenig auf – manche weibliche
Neulinge würden höchstens bemerken, dass sie wenig bis gar nicht aufgefordert wurden. Für den, der
schon viele Milongas besucht hat, ist es jedoch atemberaubend, welch
unsichtbare Grenzen und Demarkationslinien durch den Raum
laufen:
Da
ist zunächst das Pult des DJs
(natürlich geäppelt), welcher – was doppelt schwer wiegt – hier gleichzeitig
als Veranstalter auftritt. Er tanzte
sowohl sehr gut als auch wenig. Und wenn, dann ausschließlich mit seiner Partnerin.
Beide sind nicht mehr ganz jung, aber schlank und schön, eben mit jenem Flair behaftet, das Reporter
reflexartig zu Mikrofon und Kamera greifen ließe. Noble Edelschleicher für den
Männe und das übliche Kleidchen-Schühchen-Ensemble für das zugehörige Weibi
sind obligatorisch. Sie wurde ebenso wenig von einem anderen Tänzer aufgefordert,
wohl, weil jeder spürt: Das wäre Majestätsbeleidigung,
ein unverzeihlicher Eingriff in das Revier des Alphamännchens Nummer 1. Eine „Unaufforderbare“
also.
Der
„Alpha 1-Tisch“ steht direkt neben
der Musikanlage. Er wird bewacht von Alphaweibi
Nummer eins. Bleiberecht haben dort einige engere weibliche Bekannte, alle
vom selben Zuschnitt: schlank und herausgeputzt – nur vielleicht nicht ganz so
deutlich wie die Tischherrin. Nennen wir sie „Alpha 2-Weibchen“. Da aber
der Chef nicht mit ihnen tanzt, erhält ein junger, schöner Herr – „Alpha 2-Männe“ – das stets
widerrufliche Bleiberecht am Tisch des Herrn. Er versucht, es „Alpha 1“ gleichzutun, indem er ebenfalls
weitgehend auch nur mit einem der „Alpha-2-Weibchen“
tanzt, wodurch die anderen Damen am Tisch eher seltener aufs Parkett kommen.
Aber hier scheint wohl zu gelten: Mitgliedschaft
geht vor Tanzvergnügen.
Der
junge Mann ist zwar edel gewandet, jedoch von seinen tänzerischen Fähigkeiten her
eher schwache Mittelklasse – eine wichtige
Eigenschaft für ihn, da er so dem „Alpha
1-Männchen“ keine Konkurrenz machen kann.
Der
DJ sitzt abwechselnd an seinem
Steuerpult, überwacht aber in regelmäßigen Abständen Lage und Stimmung an
seinem Tisch. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser…
Gegenüber,
an der anderen Seite des Raums, der „Alpha
2-Tisch“. Der drei bis vier Stück umfassende Hühnerhaufen dort wird von
einer szenebekannten, älteren Mannsperson – „Beta 1“ – zusammengehalten. Natürlich tanzt er vorwiegend mit
seinen Damen, und dies noch genauso wie vor zehn bis 15 Jahren, was
ausdrücklich nicht als Kompliment gemeint ist. Seine Partnerinnen agieren brav,
jedoch mit wenig sichtbarer Begeisterung – Mitgliedschaft
ist halt wichtiger als… hatten wir schon. Ein Austausch zwischen beiden Tischen findet kaum statt, insbesondere
gehen sich die beiden Revierinhaber
deutlich aus dem Weg.
Im
Laufe des Abends etabliert sich auf einigen Stühlen zwischen beiden Tischen ein
Bereich aus einigen alleinigen Damen, die zumindest teilweise wohl auch
szenebekannt sowie zumeist ähnlich edel und schön sind. Nennen wir ihn den „Gamma-Bereich“, da schon durch das
Fehlen eines Tisches dort ein deutlicher Rangunterschied besteht.
Nun
erscheint – mit einiger Verspätung – die dritte männliche Zentralfigur des
Abends, nennen wir ihn „Gamma 1“:
Nicht mehr ganz so jung, aber in der Schönheit vergleichbar mit den
Unterhosen-Models früherer Neckermann-Kataloge. Zum Schuhwechsel setzt er sich
kurz neben unseren Tisch, flieht jedoch alsbald unter Mitnahme seines Stuhls in
den „Gamma-Bereich“ – wodurch der
dort bislang herrschende Mangel eines Herrn zu Ende ist. Es folgen einige
Auswahltänze, bis er schließlich an einer langbeinigen Edeltanguera kleben
bleibt, die ihm nicht nur in Punkto Körpergröße, sondern auch hinsichtlich
ihres tänzerischen Vermögens über ist. Macht aber nichts, so schlecht tanzt er
nicht – und nur das Beste ist ihm gut genug!
Frecherweise
unternimmt unser „Gamma 1“ sogar
einige Vorstöße zum „Alpha 1-Tisch“
und mopst sich dort mal eine Tänzerin. Das macht er gar nicht schlecht. Mein
dringender Rat an unseren „Alpha 1-DJ“:
Vorsicht Stufe, der könnte ihm mittelfristig gefährlich werden!
Wer
ansonsten da war? Diverse Omegas
halt, an denen diese ganzen Spielchen folgenlos vorbeiliefen. Keiner von denen
hätte die Chance gehabt, mit einer „wichtigen Frau“ zu tanzen, die „erlauchten
Kreise“ zu stören. Er hätte sich wahrscheinlich einen Korb oder zumindest einen „Bofrost-Tango“
zugezogen. Aber die Szene ist inzwischen derartig konditioniert, dass ich kaum solche „Übergriffe“ bemerkt habe.
Und
selber? Zumindest wirkten wir wohl
etwas verstörend in dieser
hochheiligen Atmosphäre. Erstens schließe ich nicht aus, dass wir dem einen
oder anderen bekannt waren, und vor allem: Dank der besten Ehefrau von allen könnte ich mir schon vorstellen, dass
unser Tanzen etwas aufgefallen ist. Und ich forderte zwei (wie ich dann
feststellen durfte) wirklich gute Tänzerinnen auf, die offenbar noch keinem
Machtbereich zugeordnet waren. Es mag Einbildung sein, dass ich in den Augen
einiger Damen aus den „Edelzirkeln“ bemerkte, dass sie vielleicht schon ganz
gerne mal mit mir getanzt hätten. Aber das ging natürlich nicht. Jede
Annäherung ihrerseits wäre wohl von den eigenen Leuten gnadenlos abgestraft
worden: In diesen Kreisen tanzt man nach Zugehörigkeit,
nicht nach Lust und Laune. Und meine
Frau auffordern? Ja nicht – nachher fällt
es dem noch ein, wiederzukommen… Zudem war Karin mal mit einer Frau auf dem
Parkett – igitt!
Zum
wiederholten Mal am Schluss mein Hinweis:
Mir geht es nicht um eine bloßstellende Kritik an konkreten Personen. Daher wäre ich glücklich, wenn möglichst wenige
Leser draufkämen, wo das Ganze stattgefunden hat. Den Trend, den ich beschrieben habe, findet man wohl auf vielen
großstädtischen, „angesagten“ Milongas.
Und
sicherlich wird der DJ, sollte er sich wiedererkennen, eine Handvoll rationaler Gründe nennen, warum er
nicht mit seinen Gästen tanzt. Nur redet da der „Regierungssprecher“ Großhirn, nicht das Zwischenhirn, in dem solche
gefühlsmäßigen Entscheidungen getroffen werden. Ich finde das Ergebnis jammerschade,
da man so gerade auf sozial eingestellte
Menschen verzichtet, denen das ganze Getue im Tango nach einiger Zeit
fürchterlich auf den Senkel geht und die dann wegbleiben. Die könnten das Klima
auf Milongas wesentlich fördern. Im Gegenzug zieht man sich Hansel von der
Sorte „mein Haus, mein Boot, mein Auto“
zu.
Kurz
davor war ich auf einer Milonga, wo der DJ
Christoph Bos trotz drückender Schwüle (statt klimatisierter Atmosphäre) gerne
und vergnügt mit allen weiblichen Gästen
tanzte. Das hatte Vorbildcharakter,
so dass sich ein reger Austausch auf Augenhöhe ergab. Der Fisch stinkt oder
duftet halt immer vom Kopf her.
Erzähl doch noch a bisserl von deiner zeit auf dem lehmboden, lieber Statler...
AntwortenLöschenLieber Waldorf, soo viel älter als Du bin ich fei' auch net, gell? Aber wo wir schon überall getanzt haben, war teilweise schon abenteuerlich: Abbruchreife Wirtshäuser, versiffte Kunstateliers, Kellerräume in Jugendzentren - oft nur zu fünft oder sechst... aber schee war's vorm Krieg!
LöschenSo so, auf einer Edel-Milonga gab es also Edel-Musik, Edel-Tänzer und Edel-Grüppchen.
LöschenUnd Du bist mit den anderen "Gammas" nicht so richtig warm geworden - wobei Du mit Deiner Frau getanzt hast, die bedauerlilcherweise nicht aufgefordert wurde.
Ging mir auf einer Edel-Milonga in Paris - wo der Tango bekanntlich vor dem ersten Weltkrieg seinen edlen gesellschaftlichen Schliff erhielt - exakt genau so.
Tja, drum fahr ich nicht nach Paris, sondern bleib in der Provinz. Selbst wenns da mal nicht so läuft, sind die Reisekosten weit niedriger.
LöschenUnd übrigens haben wir auf der Milonga beide auch mit anderen getanzt - nur nicht mit den "Edeltänzern". Und darüber waren wir nicht traurig.
Die Großstadt trifft da keine Schuld - sie bietet lediglich viele Milongas zur Auswahl, wie sie überhaupt kulturell einiges mehr bieten kann als die Provinz. Paris wäre auch ohne Tango eine Reise wert gewesen. Am nächsten Abend waren wir dort jedenfalls auf einer sehr angenehmen Milonga.
AntwortenLöschenMein Artikel hatte keine Reiseempfehlungen oder -warnungen zum Inhalt. Ich wolte lediglich einmal die soziologische Struktur einer bestimmten Art von Milongas durchdeklinieren. Und die findet man in Großstädten häufiger als auf dem flachen Land.
LöschenSchöner Bericht!
AntwortenLöschenDas war nicht zufällig in Wien???
😁
Freue mich immer, Deine Berichte zu lesen.
LG Walter (bzw. Philos)
Vielen Dank! Und ja, netter Versuch - aber ich werde die Stadt nicht nennen.
LöschenDer Sound von dem Video (Lady Gaga glaub ich überlagert Gotan Project) ist ja furchtbar ...
AntwortenLöschenZur Milonga bei Christoph: da ist Ingolstadt immer ne Reise wert.
Ich find die Bilder schrecklicher als den Sound.
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