Die Ultima Ratio?
Die Ultima Ratio (von lat. ultimus, hier: „letzter“, „äußerster“; ratio, hier: „Mittel“, „Möglichkeit“) bezeichnet allgemein den letzten Lösungsweg, das letzte Mittel oder den letzten Ausweg in einem Interessenkonflikt, wenn zuvor alle sonstigen Lösungsvorschläge verworfen wurden, da mit ihnen keine – oder angeblich keine –Einigung erzielt werden konnte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ultima_Ratio
Wenn man die Wucht betrachtet, mit der sich momentan das Corona-Virus wieder verbreitet, könnte einem schon ein solcher Begriff in den Sinn kommen: Das RKI meldet heute 4122 nachgewiesene Neuinfektionen. Ende März waren wir schon einmal bei fast 7000, durch einen ziemlich kräftigen Lockdown konnte man die täglichen Inzidenzen Mitte Juni auf unter 200 drücken. Seither geht’s wieder aufwärts. Und natürlich füllen sich wieder die Intensivstationen – derzeit noch langsam, aber darauf sollten wir uns nicht zu sehr verlassen.
Auch wenn inzwischen deutlich mehr getestet wird, ist die Botschaft doch sonnenklar: Falls wir so weitermachen, gibt das ein lustiges Weihnachten! Da hilft es nichts, wenn wir einander weiterhin in den sozialen Medien die Statistiken um die Ohren hauen.
Mir reichen die heutigen 7 Tages-Inzidenzen (pro 100000 Einwohner) der folgenden Städte: Pfaffenhofen 18,7 / Ingolstadt 37,8 / München 53,7 / Berlin 60,5
Der Motor der momentanen Entwicklung sind die Ballungszentren, und dort die mangelnde Bereitschaft vor allem jüngerer Menschen, auf größere Feiern und ausgedehnte Lokalbesuche zu verzichten. Wird das ein Vernichtungsfeldzug Jung gegen Alt?
Letztlich haben die Politiker keine gute Wahl: Reagieren sie nicht, wird ihnen das äußerst verübelt, von pauschalen Entscheidungen fühlen sich viele missachtet, und differenzierte Regelungen sind erst recht nichts: Wer soll sich so noch auskennen? Blieben die Herrschaften, welche Corona eh für nicht existent respektive stark übertrieben halten… Lecker!
Insgesamt gibt das jedenfalls genug Stoff her, um verbissen über die verschiedenen Maßnahmen zu diskutieren, die sich – wie die Infektionszahlen – täglich ändern: Wie viele Menschen dürfen sich derzeit wo treffen – im Freien oder unterm Dach, privat oder öffentlich? Wer darf noch Gäste aus welcher Stadt beherbergen? Und natürlich ganz entscheidend: Was ist die Höchstzahl von Tanzpaaren pro Fläche in den entsprechenden Bundesländern oder gar Kommunen? Darf man dabei die Partner wechseln?
Ich glaube nur, Ursache für den täglich wechselnden Wirrwarr sind nicht die Politiker oder Behördenvertreter, sondern das Virus, welches sich nicht an Bestimmungen oder gar Wünsche hält. Es werde sich die Aufmerksamkeit zurückholen, sagte Christian Drosten schon vor einiger Zeit. Ich fürchte, er behält Recht.
Und dann geht es natürlich, eines der deutschen Lieblingsthemen, um die Strafen: Sollen Masken-Sünder nun 50, 100 oder 250 Euro löhnen? Wirklich alle? Oder nur dort, wie die Ordnungsämter noch halbwegs verlässlich arbeiten? Wieviel muss es kosten, wenn einer statt seines wirklichen Namens „Donald Duck“ (oder gar „Cassiel“) in die Restaurant-Liste schreibt? Pseudonyme waren ja auch im Tango mal modern… Und wer darf dann blechen: der Kunde oder der Gastwirt? Oder beide? Wie sind hierfür die genauen Bestimmungen? Muss sich der Theken-Repräsentant den Personalausweis zeigen lassen? Ist er dazu überhaupt befugt?
Ich fürchte nur: Juristen sind diejenigen, welche die wohltuende Wirkung gesetzlicher Bestimmungen mit der größten Distanz betrachten. Daher folgen sie dem „Ultima Ratio-Prinzip“: Das Strafrecht dürfe nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer nur das letzte Mittel sein, um den Rechtsfrieden zu erzwingen.
„Unter dem Aspekt der Vorbeugung betrachtet steht die Strafe erst an dritter Stelle. Als primäre Prävention gilt das Einwirken auf den Menschen zu einem normgetreuen Verhalten durch Erziehung und die Schaffung eines günstigen sozialen Klimas durch jugendpolitische und/oder sozialpolitische Maßnahmen; als sekundäre Prävention gilt die Vermeidung von Gelegenheiten und negativen Einflüssen. (...)Strafrecht hat deshalb immer nur ‚fragmentarischen Charakter‘, deckt nicht alle Regelverstöße der Bürgerinnen und Bürger ab."
https://www.bpb.de/izpb/268230/strafrechtsprinzipien-und-strafverfahren
(Nebenbei: Ich beziehe hier das Ordnungswidrigkeiten-Recht mit ein, nach dem die meisten Strafen für Corona-Verfehlungen verhängt werden.)
Mit anderen Worten: Nicht jedes gesellschaftlich unerwünschte bis hirnrissige Verhalten ist verboten – jedenfalls in demokratisch verfassten Gemeinwesen. Man darf also vom Staat ungestraft seiner Schwiegermutter mittteilen, dass man sie auf den Tod nicht ausstehen kann – und Masken für gesundheitsgefährdend halten. Oder Verschwörungstheorien verbreiten.
Umgekehrt ist somit aber Straflosigkeit kein Beleg dafür, dass man sich vernünftig oder gar sozial verhält – im Gegenteil: Man kann dann immer noch jede Menge Mist anstellen.
Daher verstehe ich viele der aktuellen Debatten nicht wirklich: Da möchte man nun aber ganz exakt wissen, ab welchem Punkt in der Corona-Situation man sich strafbar macht. Das tun vor allem Leute, die ansonsten lauthals für sich reklamieren, einen ganz eigenständigen Kopf zu haben. Dann sollten sie ihn aber auch benutzen!
Muss ich derzeit also wirklich wissen, ob ich mich nach Personenzahl, Bundesland und Raumgröße auf einer erlaubten Veranstaltung befinde? Ob ich mir das letzte Bier fünf vor oder nach Zehn kaufe? Im gewünschten Urlaubsland nun ein Hotelzimmer kriege oder mich vor- oder nachher testen lassen muss? Das Fußballstadion nach den aktuellen Regelungen vorschriftsmäßig besetzt ist?
Wäre es – bei eingeschaltetem Gehirn (und sogar einer Spur Empathie) – nicht ebenso möglich, eine größere Party erstmal sausen zu lassen, das Bier erst zu Hause trinken, das Spiel im Fernsehen anzusehen oder mal auf die nächste Urlaubsreise zu verzichten und stattdessen dem freundlichen Pensionswirt eine Spende zu schicken, damit sein Laden nicht Pleite macht? Oder beim Wirt eine Mitnehm-Mahlzeit ordern?
Einfach, weil man kein gutes Gefühl dabei hat, etwas zu tun, was zwar gerade noch erlaubt wäre, einem aber – mit dem gesunden Menschenverstand – derzeit zu riskant erscheint? Oder weil man das Risiko selber zwar eingehen würde, aber niemand anderen gefährden möchte?
Über solche Dinge sagt das Recht überhaupt nichts aus. Es ist zwar oft sehr klar und logisch, aber nicht hilfreich. Dazu einen meiner Lieblingswitze:
Eine Lehrer erscheint beim Rechtsanwalt. Sein Problem: Ein Missetäter (wohl aus der Schülerschaft) habe ihm – mit Verlaub – vor die Haustür geschissen. Wie da die Rechtslage sei? Des Advokaten Antwort: „Lassen Sie das Ganze sechs Monate liegen. Wenn es keiner abholt, gehört es Ihnen.“
Verrückt? Nein, nur gesetzlich geregelt. Einschlägig sind hier die Paragrafen 965 i.V.m. 973 BGB:
§ 965 Anzeigepflicht des Finders
(2) Kennt der Finder die Empfangsberechtigten nicht oder ist ihm ihr Aufenthalt unbekannt, so hat er den Fund und die Umstände, welche für die Ermittelung der Empfangsberechtigten erheblich sein können, unverzüglich der zuständigen Behörde anzuzeigen. Ist die Sache nicht mehr als zehn Euro wert, so bedarf es der Anzeige nicht.
§ 973 Eigentumserwerb des Finders
(1) Mit dem Ablauf von sechs Monaten nach der Anzeige des Fundes bei der zuständigen Behörde erwirbt der Finder das Eigentum an der Sache, es sei denn, dass vorher ein Empfangsberechtigter dem Finder bekannt geworden ist oder sein Recht bei der zuständigen Behörde angemeldet hat.
Das wäre somit die „Ultima Ratio“. Aber es muss ja nicht das Letzte sein. Wie wäre es einfach mit „Ratio“, also Vernunft?
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