Die Tatsachen-Aufzähler

 „Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande.“

(Kurt Tucholsky: „Die Familie“, 1923) 

Wenn man eine Satire schreibt, hat man sich zumeist damit abzufinden: „Tucho“ hat es eh schon besser gesagt! Da mich das Thema aber seit Jahrzehnten umtreibt, nehme ich es in Kauf, bei der Bearbeitung dieses Sujets nicht den Ersten machen zu können – und daher einiges vom Meister abkupfern zu müssen. 

Wem würde schon ein passenderer Satz gelingen als der eingangs zitierte? Zumal der Autor ihn bezüglich der Verwandtschaft („siehe im Wörterbuch unter M“) so fortsetzt, dass er das ganze Elend der Familie eigentlich schon erschöpfend umfasst:

„Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken."

Was die Mischpoche gemeinhin von Freunden und Bekannten unterscheidet, ist aus meiner Sichte eine völlige Distanzlosigkeit. Durch genetische Übereinstimmungen respektive Anheiratung fühlen sich Menschen, mit denen man sich ansonsten keine drei Minuten abgeben würde, berechtigt, sich in nahezu alles einzumischen. 

Das beginnt schon beim Betreten einer Verwandten-Wohnung: Während ein normaler Besucher sich meist respektvoll und zurückhaltend benimmt, gleicht der Einmarsch von Onkeln, Tanten oder Nichten dritten Grades oft einer Inbesitznahme. Unverlangt mitgebrachter Kram wird großflächig irgendwo verteilt, gerne werden auch ungebetene Einrichtungstipps gegeben: „Das Bild hängt schief / die Tür quietscht – da müsst ihr euch mal drum kümmern!“ Sonstige Ratschläge fürs Leben natürlich inklusive.

Bei solchen Szenen wird mein Hals bereits dicker: Niemals im Leben würde ich mich als Besucher dazu hinreißen lassen, Gastgebern irgendwelche Direktiven zu geben, wie, womit und mit wem sie zu leben haben. Warum? Weil’s mich einen Dreck angeht.

Tucholsky beschreibt das Übel treffend:

„Die Familie weiß voneinander alles: Wann Karlchen die Masern gehabt hat, wie Inge mit ihrem Schneider zufrieden ist, wann Erna den Elektrotechniker heiraten wird, und dass Jenny nach der letzten Auseinandersetzung nun endgültig mit ihrem Mann zusammenbleiben wird. Derartige Nachrichten pflanzen sich vormittags zwischen elf und eins durch das wehrlose Telefon fort. Die Familie weiß alles, missbilligt es aber grundsätzlich. (…)

Man ist sich sehr nah. Nie würde es ein fremder Mensch wagen, dir so nah auf den Leib zu rücken, wie die Kusine deiner Schwägerin, a conto der Verwandtschaft.“

Verwandte sind Tatsachen-Sammler. Wie unsere Milchstraße kreist das Tanten-Huhniversum um ein unsichtbares Massezentrum. Die Gravitation wird hier ersetzt durch oft abenteuerlichste Verwandtschaftsgrade, die irgendwie auf einen gemeinsamen Urgroßvater oder eine Taufpatin im 18. Jahrhundert kreisen. Stammbäume dieser Akribie habe ich nicht mal bei unserem Schäferhund kennengelernt.

Das wäre ja nicht schlimm, wenn man daraus nicht etwas folgerte: Auf dieses genetische Epizentrum bezieht sich nämlich das wahre Leben: Man hat alles und alle zu kennen und darüber genauestens Protokoll zu führen. Daher wird bei einem Kontakt sämtliches Erzählenswerte gescannt.

Wieso es überhaupt interessiert, dass der Großneffe Urlaub in Spanien gemacht hat oder die Cousine der Tante neulich Brechdurchfall hatte? Überflüssige Frage: Man ist ja schließlich verwandt!

Das Leben der Verwandtschaft kreist um sich selbst. Über allgemeine Themen ins Gespräch zu kommen ist nahezu unmöglich: Spätestens ab dem dritten Satz wird der Schwager zitiert, dem genau das auch schon passiert ist – oder jedenfalls etwas ebenso Interessantes. In dieser Personengruppe ist die Spezies des Tatsachenaufzählers besonders häufig – und je größer das Einzugsgebiet, desto länger die Redezeit. Wie bei den Massezentren der Schwarzen Löcher verschwindet jeder sinnvolle Gedanke auf Nimmerwiedersehen in der Finsternis.

Was mich bei solchen Menschen immer wieder fasziniert, ist das Fehlen jeglicher Sensibilität. Im Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation ist es ja bei allem Informations-Ausstoß nicht ganz unwichtig, die Wirkung der eigenen Botschaften laufend zu überprüfen: Wirkt der Zuhörer nach einem 15-Minuten-Bericht über die Mandelentzündung des Patenkindes immer noch aufmerksam, stellt er vielleicht sogar Zwischenfragen? Oder hat man ihn mit riesigem Detail-Aufwand bereits in eine verbale Anästhesie versetzt? 

Tucholsky würde wohl sagen: Völlig egal – immer gib ihm!

Fürs Arsenal zum Tatsachen-Sammeln unentbehrlich sind natürlich regelmäßige Treffen des zu Klumpen geballten Genpools – sprich: Familienfeste. Tucho beschreibt das so:

„Hat die Familie aber den Fremdling erst einmal in ihren Schoß aufgenommen, dann legt sich die große Hand der Sippe auch auf diesen Scheitel. Auch das neue Mitglied muss auf dem Altar der Verwandtschaft opfern; kein Feiertag, der nicht der Familie gehört! Alle fluchen, keiner tut‘s gern – aber Gnade Gott, wenn einer fehlte! Und seufzend beugt sich alles unter das bittere Joch…“

Es gibt wirklich kaum etwas, das mich bei diesem Thema so aufbringt wie der manische Feierzwang: Schon bei zwanzig, dreißig Anverwandten kommt man dabei locker auf einen Termin in der Woche – schließlich müssen nicht nur Geburts- und Hochzeitstage, sondern auch Feste wie Weihnachten, Ostern, Vater- und Muttertag sowie Kirchweih miteinander verbracht werden – und irgendwann hat der Neffe den Führerschein gemacht, das Staatsexamen bestanden oder sich gar verlobt. Ach ja: Schlimmstenfalls heiratet er dann – und es droht noch eine Taufe… 

Um es dezent zu formulieren: Wirklich schöne Erlebnisse, die man zu recht feiern oder gar genießen dürfte, werden mit dieser Formalitäten-Kacke plattgewalzt. Treffen, die der Seele wirklich guttäten, fallen dem zum Opfer. Welches Herzensanliegen stellt es dar, wenn der Großonkel mal wieder Geburtstag hat? Gönnen wir ihm ja – aber ist das ein Grund, sich länger in unser Leben zu mischen als das Ausfüllen einer Glückwunschkarte benötigt? 

Dazu kommt, dass solche Events nicht selten ziemlich angespannt verlaufen:

„Die Familie ist sich in der Regel heftig zum Ekel. Die Familienzugehörigkeit befördert einen Krankheitskeim, der weit verbreitet ist: Alle Mitglieder der Innung nehmen dauernd übel. Jene Tante, die auf dem berühmten Sofa saß, ist eine Geschichtsfälschung: Denn erstens sitzt eine Tante niemals allein, und zweitens nimmt sie immer übel – nicht nur auf dem Sofa: im Sitzen, im Stehen, im Liegen und auf der Untergrundbahn.“   

Als Autor bewundert man da berühmte Kollegen wie Goethe, von dem Tucholsky sagt: 

Hätte Goethe eine alte Tante gehabt, sie wäre sicherlich nach Weimar gekommen, um zu sehen, was der Junge macht, hätte ihrem Pompadour etwas Cachou (Anm.: Hustenpastillen) entnommen und wäre schließlich durch und durch beleidigt wieder abgefahren. Goethe hat aber solche Tanten nicht gehabt, sondern seine Ruhe – und auf diese Weise ist der ‚Faust‘ entstanden. Die Tante hätte ihn übertrieben gefunden.“   

Wahrlich, da ist bei der göttlichen Lenkung der Welt etwas schief gelaufen:

„Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles ansah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da. Der verfrühte Optimismus rächte sich, und die Sehnsucht des Menschengeschlechtes nach dem Paradiese ist hauptsächlich als der glühende Wunsch aufzufassen, einmal, nur ein einziges Mal friedlich ohne Familie dahinleben zu dürfen.“

Und auf das Jenseits sollte man nicht hoffen:

„Und wenn die ganze Welt zugrunde geht, so steht zu befürchten, dass dir im Jenseits ein holder Engel entgegenkommt, leise seinen Palmenwedel schwingt und spricht: ‚Sagen Sie mal – sind wir nicht miteinander verwandt –?‘ Und eilends, erschreckt und im innersten Herzen gebrochen, enteilst du. Zur Hölle.
Das hilft dir aber gar nichts. Denn da sitzen alle, alle die andern.“
 

Eingangs zitiert Tucholsky Friedrich Nietzsche:

„Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund ist, haben die Verwandten mit einem Ausdruck bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes ‚Freund‘ ist. Dies bleibt mir unerklärlich.“

Mir auch. Natürlich kann ich auch mit einem Verwandten Freundschaft schließen. Aber dazu gehört mehr als die Ähnlichkeit von DNA-Basensequenzen.

Das Problem ist sicher zeitlos: Bereits 1921 hieß es in der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ (schon der Titel beschreibt Verwandtschaftsbeziehungen treffend):

„Onkel und Tante, ja das sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht.“


Hier der gesamte Text: https://tucholsky.de/die-familie/

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