Im traurigen Monat November

Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.

(Heinrich Heine: „Deutschland. Ein Wintermärchen“, 1844) 

Ab kommenden Montag ist es also Fakt: Viele Bereiche unseres öffentlichen und privaten Lebens werden wieder heruntergefahren. Ich hatte bereits im August das Gefühl, es werde nicht gut weitergehen, und damals lagen wir bei über 1700 Neuinfektionen täglich, also nicht einmal einem Zehntel des Wertes von heute.

http://milongafuehrer.blogspot.com/2020/08/allmahlich-werd-ich-sauer.html

Und ich bleibe dabei, was ich damals schrieb: Die jetzige heftigere zweite Welle geht aus meiner Sicht zu einem beträchtlichen Teil auf die Unvernunft derer zurück, welche – durch dichtgedrängte, maskenlose Großdemonstrationen, den deutschen Reise-Wahnsinn, auf engstem Raum sich drängende Jugendliche und Fußball-Fanatiker – ihr Ego bedingungslos abfeiern mussten. 

Obwohl die Medien uns täglich dutzende Male über Masken, Tests und Impfungen aufklärten, blieb seltsamerweise manches unkommentiert, was mir einen kalten Schauer einjagte – beispielsweise das rudelweise Abküssen, welches die hochbezahlten Fußballprofis nach jedem Tor weiterhin nicht lassen konnten. Man komme mir dabei nicht mit Sicherheitskonzepten wie massenweisem Testen der Millionenverdiener – die Vorbildwirkung solcher eklatanter Verstöße gegen die Abstandsregeln halte ich für katastrophal.    

Herzlichen Dank auch den diversen Verwaltungsrichtern, die es beispielsweise Ende August in Berlin zuließen, dass sich über 20000 Demonstranten in größter Enge drängen konnten, obwohl von vornherein klar war, dass sich diese Geistesgrößen an keinerlei Infektionsschutz-Auflagen halten würden. Auch hier ist es für mich weniger wichtig, ob damals tatsächlich Ansteckungen stattfanden – viel schlimmer ist die vorgeführte Sorglosigkeit für die Nachahmer.

Natürlich darf man beklagen, dass durch die Corona-Auflagen Einkünfte den Bach heruntergehen, gerade auch Künstler und andere Kleinunternehmer schwer unter der Krise leiden. Finanziell betrifft uns das zwar glücklicherweise nicht, künstlerisch jedoch sehr wohl: Geplante Musik- und Zauberauftritte wurden abgesagt oder auf das nächste Jahr verschoben. Nach längerer Zeit durften wir letzten Samstag wieder einmal ein kleines Konzert geben – im riesigen Kursaal von Bad Gögging spielten wir vor 20 Gästen. Ein zweiter Auftritt dort in einer Woche fällt dem Shutdown zum Opfer.

https://diemagiedesgr.blogspot.com/2020/10/kurkonzert-in-bad-gogging.html 

Klar darf man engagiert darüber streiten, ob man den Fluggesellschaften Milliarden zusteckt, während der kleine Solo-Kabarettist schauen darf, wo er bleibt. Aber ich fürchte: Egal, was der Staat tut oder lässt – es wird immer gejammert werden. Versucht man regionale Regelungen, beklagen sich viele, durch das Verordnungs-Wirrwarr blicke keiner mehr durch. Erlässt man bundesweite Vorschriften, gibt es viele örtliche Proteste, weil die Verordnung für die Eckkneipe in St. Nirgendwo gar nichts bringe. 

Was mich ebenfalls zunehmend nervt: Statt sich auf seinen gesunden Menschenverstand oder ersatzweise das Bauchgefühl zu verlassen, will nun jeder aber auch ganz genau wissen, was denn gerade noch erlaubt sei. Offenbar, um es dann bis zum Äußersten auszureizen. So lese ich in diversen Tango-Veranstaltungskalendern, dass man gnadenlos noch bis zum morgigen Sonntag Milongas veranstaltet – anstatt zu kapieren, dass solche Events bereits einen oder zwei Tage vor dem Verbot riskant sein könnten. Statt sein Hirn einzuschalten liest der Deutsche lieber im Verordnungsblatt nach.

Was man insgesamt nicht zur Kenntnis nimmt: Diese Pandemie ist eine Katastrophe. Zu deren Natur gehört es, dass kein Staat, keine menschliche Gemeinschaft ihre negativen Folgen aus der Welt schaffen kann. Bestenfalls gelingt es, die schlimmsten Schäden zu begrenzen.

Mich erinnert das an ein Rundschreiben, welches wir Lehrkräfte einst erhielten, als die ersten Amokläufe an deutschen Schulen stattfanden. (Was ich nie verstehen werde: Sie wurden von Schülern und nicht von Lehrkräften verübt.) Statt sich um Zugangskontrollen und Sicherheitsleute zu kümmern, erließ das Kultusministerium irgendwelche schlauen Regelungen, nach welchen jede Schule ein Sicherheitskonzept zu erarbeiten hatte. Ich weiß noch genau, wie ein älterer Kollege das Anschreiben aus seinem Brieffach holte und sich krümmte. Schwer atmend zeigte er es mir. 

Mit einer satirischen Ader hat man in unserem Beruf oft genug Anlass, sich über behördliche Erlasse lustig zu machen. An diesem Tag jedoch las ich das Verrückteste, was ich je als Lehrer amtlich zur Kenntnis nehmen musste – ich war nahe an einem Zwerchfellriss: Eine Katastrophe, so stand da, lasse sich in drei Phasen gliedern. 

Nein, liebes Ministerium, liebes Direktorat: In der Natur einer Katastrophe liegt es, sich weder gliedern noch sonst was zu lassen. Sie ist einfach nur furchtbar und beachtet weder Gesetze noch Verordnungen und schon gar keine kopfschüssigen Interpretationen dieser Welt, wie sie uns derzeit in den sozialen Medien angedient werden. Corona-Viren lassen nicht mit sich verhandeln. Wenn man sie kriegt, kann man schwer krank werden oder sogar sterben. Also sollte man sie besser nicht kriegen. Indem man sich womöglich schon mal weit von den Ausatemöffnungen der Mitmenschen entfernt. So einfach ist das. 

Wir wären viel schlimmer dran, wenn sich nicht viele daran halten würden – mehr noch: Beinahe rund um die Uhr daran arbeiten, die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie zu reduzieren – medizinisches Personal, Verwaltungskräfte, aber auch alle anderen „systemrelevanten“ Berufe von Verkäuferinnen bis zu Paketfahrern. Und ja: auch Politiker. Ich glaube nicht, dass derzeit viele von ihnen einen Arbeitstag unter 16 Stunden haben, und das sieben Tage die Woche. Wenn ich dann höre, sie würden eine „Diktatur“ errichten, bleibe ich skeptisch: Die würde man doch – weit weniger mühsam – mit einem kleinen Militärputsch hinbekommen anstatt von einem Krisenstab zum nächsten zu eilen.

Doch der Staat kann nicht alle retten und jedes Unheil verhindern – und schon gar nicht, wenn nicht möglichst viele kapieren: Der Staat, das sind nicht nur wir alle, sondern auch jeder Einzelne. Und der kann ganz konkret etwas gegen die Folgen der Pandemie tun – ob er nun vor der Tür Hauskonzerte veranstaltet, für alte Menschen die Einkäufe erledigt oder beim Lieblings-Wirt Essen bestellt, damit der nicht Pleite macht.

Wer sich dagegen an die Tastatur setzt und im Internet dummes Zeug behauptet, um die Panik zu schüren – egal, ob vor dem Corona-Tod oder der drohenden Diktatur – ist für mich ein asoziales Individuum. Ich kann es nicht mehr hören oder lesen, dass selbsternannte pädagogische Weltenretter es „Kindesmisshandlung“ nennen, wenn ihre Blagen in der Schule nun ein Lätzchen vor der Klappe tragen müssen. Ehrlich gesagt habe ich mir dies als Lehrer stets gewünscht. Am besten ein schallgedämpftes. (Hinweis: Jetzt den Shitstorm beginnen!) 

Aber glücklicherweise ist die Diktatur (auch des Prekariats) bei uns noch nicht so weit ausgebildet, dass wir Satiriker – anders als noch Heine und Tucholsky – emigrieren müssten. So verbrachte auch einer meiner Lieblings-Kabarettisten, der studierte Physiker Vince Ebert, ganz freiwillig ein Dreivierteljahr in den USA (was als Fluchtpunkt für verfolgte Spötter derzeit ebenso ungeeignet erscheint wie Frankreich). Nach der Erprobung auf New Yorker Bühnen geht er nun – soweit möglich – mit einem neuen Programm auf Tour: „Make Science great again“ lautet der in jeder Hinsicht zeitgemäße Titel. 

Bei seinen Auftritten versucht Ebert stets, dem Publikum die Grundzüge naturwissenschaftlichen Denkens nahezubringen: Skepsis und empirische Überprüfung. Kein Forscher hat (im Gegensatz zu Ideologen) ewig Recht, sondern nur so lange, bis eine bessere Theorie gefunden wird. Ich meine, die derzeitige geistige Umnachtung eines Teils unserer Bevölkerung wäre nicht eingetreten, hätte man die naturwissenschaftlichen Fächer in der Bildung nicht immer weiter abgebaut. 

Das folgende Video zeigt einen charakteristischen Teil seines Programms: Er habe in New York einen Taxifahrer aus Venezuela gefragt, was die Hauptprobleme in seinem Land seien. Die ganz einfache Antwort: Ob man genug zu essen und ein Dach über dem Kopf habe sowie gesund sei. In den reichen Industrieländern dagegen plagten viele minimale, aber komplexere Sorgen: Da habe man bei der letzten Flugreise doch 40 Minuten auf dem Rollfeld warten müssen – und im Flugzeug wenig Beinfreiheit gehabt, zudem seien die Sitze nicht verstellbar gewesen und das Sandwich kostenpflichtig.

Ebert malt sich aus, was die Gebrüder Wright um 1900 gesagt hätten, wenn man ihnen diese Probleme geschildert hätte: „Also, wenn das so ist, dann lassen wir die Sache mit dem Fliegen.“

Wahrlich: „Glücklichsein macht keinen Spaß“, wie es Ebert formuliert. Nun gut, wer in diesem „traurigen Monat November“ Trübsal blasen möchte, sei daran nicht gehindert. Ich finde, wir könnten aus dieser Zeit etwas Gutes machen. 

Aber wer denn unbedingt trauern möchte, soll es wenigstens mit Humor tun wie Heinrich Heine:

Kommentare

  1. Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

    Diesen Satz konnte ich noch nie leiden!
    Viele Kunstbetriebe, selbstständige Künstler, Gastronomen, Bildungs- und Breitensportanbieter haben monatelang Höchstleistungen erbracht.
    Nur so konnten sie ihre Angebote und Aktivitäten mit durchdachten Konzepten aufrechterhalten, ohne damit ihr Publikum bzw. ihre Kundschaft gesundheitlich zu gefährden.
    Genau solchen, die mit so viel Verstand, Empathie und Kraftaufwand mit der Situation umgegangen sind, droht im zweiten Lockdown unter Umständen die Existenznot.
    Und das durch den Leichtsinn und Egoismus von Leuten, die nun jammern, dass ihnen ihre Freizeitbeschäftigungen beschnitten werden.
    Denen fehlt offenbar die elementare erzieherische Kindheitserfahrung, dass der Magen irgendwann rebelliert, wenn man zu viel isst.

    Schade, dass sie diese Erkenntnis auf Kosten der Gemeinschaft nachholen müssen!

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    1. Das gilt ja ganz generell.Nach vielen Umfragen befürwortet eine Mehrheit von bis zu 90 Prozent die Schutzmaßnahmen. Das ist demoskopisch sensationell hoch.

      Aber es reicht halt, wenn zehn Prozent sie missachten, um die Infektionsraten wieder hochzutreiben. Und das sind dann die Leute, welche von "Demokratie" faseln, aber nicht bereit sind, sich einer klaren Mehrheitsentscheidung zu beugen.

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