Buntenbachs Bußpredigt
Derzeit
macht im Netz ein Text die Runde, der Aufmerksamkeit verdient. Autor ist kein
Geringerer als der Herausgeber des Berliner Magazins „tango-argentino-online“, Jörg
Buntenbach. Was er unter dem Titel „Tanz mit dem Coronavirus“ schreibt,
findet allenthalben große Zustimmung. Der Mediziner Arthur Dent, der seit geraumer Zeit auf Tango-Seiten mit falschem
Namen und zackigem Ton Maskentragen befiehlt, verlinkte den Artikel mit
höchstem Lob in der FB-Gruppe „KoKoTango“.
Auch dort zunächst weitgehend Zustimmung. Aktuell kloppt man sich jedoch wieder
wie die Kesselflicker. Business as usual...
Das sind die Momente, an denen ich ins Grübeln komme und mir Texte genauer ansehe:
„Die Krise beweist: Tango immunisiert nicht gegen Verschwörungstheorien“ untertitelt Buntenbach seinen Beitrag. Das ist nicht die einzige Selbstverständlichkeit, welche der Autor für mitteilenswert hält. Klar, die Coronakrise hat „die Tangoszene ins Herz“ getroffen. Wie schon in der zurückliegenden „Online-Petition“ fürs Weltkulturerbe sieht er in der Herzgegend ausschließlich die am Tango materiell Verdienenden, denen es sicherlich das Geschäft verhagelt hat. Nennung von Spendenkonten inklusive.
Spannender wird es schon, was der Verfasser unter der Kapitelüberschrift „Auch VerschwörungstheoretikerInnen tanzen Tango“ zu berichten weiß:
„Wer nicht aufpasst, wird selbst bei einem Kurs oder einer Práctica mit verstörenden Sichtweisen konfrontiert, wie das Beispiel aus einer Berliner Tangoschule zeigt: Eine Kursteilnehmerin klärt unvermittelt darüber auf, dass Kinder durch das Tragen von Masken gestorben seien. Den Hinweis, dass es sich hier um Fake-News handelt, lässt sie nicht gelten (…). Die Bitte, dass man nicht diskutieren wolle, wird ignoriert. Sie erzählt weiter, dass Bill Gates das Corona-Virus erfunden hat und uns alle Zwangsimpfen lassen will. Schließlich schürt sie die Angst, dass wir uns auf dem Weg in eine Diktatur befinden. Sie konnte die gesamte krude Bandbreite der Verschwörungstheoretiker runterbeten. Völlig abstrus!“
Als Südstaatler wundert mich das keineswegs, betrachten wir doch hier seit Wochen staunend, wie der dortige Senat grandios daran scheitert, seine über 3,5 Millionen Einwohner sowie marodierende Querdenker-Gäste daran zu hindern, sich – ob in Kneipen oder auf Demos – zu Klumpen geballt zu infizieren. Warum man unbedingt das preußische Ischgl werden möchte? Dazu hätte ich mir aus Berliner Tangosicht mal eine Aussage gewünscht!
Übrigens wäre auch die Auskunft interessant gewesen, ob man obige Dame denn mit sofortiger Wirkung aus dem Kurs geworfen hat. In Anbetracht der sonstigen Konsequenz in der Bundeshauptstadt vermute ich: wohl kaum. Effektiv ist man dort vorwiegend bei wirklich existenziellen Entscheidungen wie der Umbenennung von Mohrenstraßen…
Auch im weiteren Verlauf bleibt Buntenbach lieber im Unverbindlichen: „Freie Meinungsäußerung oder gezielte Hetze?“ Na klar, da tritt er fürs Erstere ein. Und wer würde nicht zustimmen, wenn er schreibt: „An der freien Meinungsäußerung darf kein Weg vorbei gehen! Wir müssen diskutieren. Auch innerhalb der Tangoszene. Dabei sollten wir uns jedoch an einem argumentativen Rahmen halten, der auf seriösen Quellen basiert.“
Und klar müsse man die Corona-Einschränkungen kritisch begleiten und hinterfragen. Politisches Engagement sei jedem erlaubt, ja sogar vonnöten. Demokratische Legitimation wäre aber die Voraussetzung. Hier entgleitet ihm allerdings ein Satz, den ich gerade in diesem Zusammenhang nicht verstehe: „Wir alle wissen, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist.“ Echt? Und dann bei sowas mitmachen, gar solche „Schmutzfinken“ um finanzielle Förderung angehen? Seltsam…
Wie bei jeder guten Predigt kommt am Schluss ein Appell ans Gemeinschaftsgefühl:
„Wenn wir in der
Tangoszene ein paar wichtige Basics in Sachen Rücksichtnahme beherzigen, werden
wir gut durch die Krise tanzen. (…) Gehen wir davon aus, dass die Maßnahmen
dazu beitragen, das Virus zu besiegen. Am Ende werden wir den Tango-Restart
gemeinsam feiern. Darauf freuen wir uns alle!“
Zum Schluss geht nochmal der Klingelbeutel rum. Amen.
Hier der Originaltext:
https://www.tango-argentino-online.com/post/tanz-mit-dem-coronavirus
Damit man mich nicht missversteht: Für mich ist das meiste, was Jörg Buntenbach schreibt, eine Selbstverständlichkeit. Insofern ist ihm sicherlich ein gar löbliches Traktat gelungen. Schlimm genug, dass man solche Dinge in der Tangoszene offenbar immer noch betonen muss.
Allzu tief schürft der Autor freilich nicht. Sonst hätte ihm auffallen können, dass der Satz „Auch VerschwörungstheoretikerInnen tanzen Tango“ seit mehr als zehn Jahren zutrifft: Wer hat denn in der ganzen Zeit ungeprüft die Behauptungen stehen lassen, die orthodoxen Milongas, die sich immer noch „traditionell“ nennen, seien ein zu eins auf eine „Urform“ argentinischer Tangoveranstaltungen zurückzuführen, die es spätestens seit der „Goldenen Epoche“ der 1940er-Jahre gebe?
Wer hat denn in all den Jahren wohlweislich zu Behauptungen geschwiegen, die Aufforderung per Blickkontakt bilde ebenso eine jahrzehntelange, ungebrochene Tradition, welche als Einzige sexuelle Nötigungen auf den Tanzveranstaltungen verhindere? Dass im selben Atemzug das pflichtgemäße Aneinanderpappen von Personen unterschiedlichen Geschlechts als die einzige wahre Tanzweise verkauft wurde, ordne ich eh schon unter der Rubrik „Kabarett“ ein…
Hat sich jemand aus dem
Personenkreis der Buntenbachs schon irgendwann mal gegen die Verschwörungstheorie gewandt, die Tango-Erneuerer seien wegen ihres
laxen Ronda-Begriffs schuld an schwersten Verletzungen auf dem Parkett, ersatzweise an heftigen psychischen
Belastungen der
Código-Befolger? Konträre Wortmeldungen auf Cassiels Hetzer-Blog sind mir seitens der Tango-VIPs nicht aufgefallen. Im Gegenteil hat man brav dazu geschwiegen oder es sogar unterstützt, dass man Zweifler der Häresie gegen heiligste Tangotraditionen bezichtigte: Verschwörungsmythen pur!
Hat man mal Einspruch gegen den hirnverbrannten Katechismus eingelegt, man könne ausschließlich auf sorgsam ausgewählte Aufnahmen eines Dutzends antiker Orchester Tango tanzen? Eine Auswahl, welche ausschließlich bestens ausgebildeten linientreuen DJs obliege? Hat mal einer aus dieser ehrenwerten Gesellschaft dagegen protestiert, dass man auf vielen Milongas gegen Abweichler an der Konsole ziemlich rüde vorgegangen ist und sie aus dem Kreis der „wahren Gläubigen“ ausgeschlossen hat? Oder gegen die jahrelangen Schmähungen von Komponisten wie Astor Piazzolla?
Über solche Fragen diskutiert auch ein Herr Buntenbach ungern. Ich habe es einmal versucht, als ich die lautere Absicht der „Rettung des UNESCO-Tango-Weltkulturerbes“ bezweifelt habe. Meine Frage, ob denn dazu nur die historischen Tangoaufnahmen der EdO gehörten, blieb bis heute unbeantwortet. Stattdessen hat Jörg Buntenbach mich damals wissen lassen:
„Die ganze Diskussion ist aus meiner Sicht überflüssig. Oberlehrer Riedl hat m.E. nur ein Ziel: Provozieren! An einem konstruktiven Austausch ist ihm nicht gelegen. Ich werde ihn ab sofort ignorieren“.
Auch sonst hält sich die Neigung des Autors zur Diskussion abweichender Ansichten in Grenzen. Gerne wird sie ersetzt durch persönliche Abwertungen bekannter FB-Art:
„Lieber Martin, Dein Post zeigt, wie wenig Hintergrundwissen hast.“
„Liebe Manuela, auch Dein Post zeigt, dass auch Du Dich nicht wirklich mit dem Thema beschäftigt hast.“
Wer es nachlesen möchte:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2020/06/die-tango-mafia-lasst-dissen.html
https://www.facebook.com/thomas.kroter.5/posts/3115527448526804
Daher bleibe ich dabei: In der Sache hat der Verfasser weitgehend recht. Der Schein der Heiligkeit jedoch beeindruckt mich nicht wirklich.
Fest steht für mich natürlich: Eine Tango-Tanzveranstaltung ist kein Ort für ideologische Auseinandersetzungen. Weder früher über die Musikauswahl des DJs noch heute über andere Verschwörungstheorien. Ich habe auch in Zeiten, wo man im Internet böse über mich hergefallen ist, auf Milongas (außer bei Buchlesungen) stets die Klappe gehalten. Ich war dort nämlich aus einem Grund, der heute manche erstaunen dürfte: um zu tanzen. Das hat andere nicht davon abgehalten, mir allein wegen meiner Gesinnung Hausverbote zu erteilen.
Dennoch möchte ich aktuell die Tangoveranstalter in Schutz nehmen. Es liegt in ihrer Verantwortung, ob sie unter den momentanen Bedingungen Unterricht und andere Aktivitäten anbieten. In einer Freiburger Tangogruppe auf FB lese ich gerade, dass man Organisatoren angreift, die bei einem Inzidenzwert von 45,4 den Laden schließen. Das wäre doch angesichts der „Rechtslage“ unnötig.
Da sage ich ganz klar: Es gibt neben der juristischen Erbsenzählerei ein Bauchgefühl, ob man sich bei einer Unternehmung wohlfühlt oder nicht. Gut, dass dies manche noch haben. Die Antworten der Veranstalter lassen nachempfinden, welchem Anspruchsdenken sie oft ausgesetzt sind:
„Korrekt, Praktika darf stattfinden, allerdings mit Maskenpflicht. Es hat sich keiner gefunden der das durchsetzen will, mich eingeschlossen. Wir gehen außerdem davon aus, dass die Zahlen weiter steigen und weitere Einschränkungen kommen werden. Moralische Bedenken haben auch eine Rolle gespielt.“
„Es ist sehr anstrengend, wenn unsere Entscheidungen hier in den Kommentaren immer wieder hinterfragt werden.“
https://www.facebook.com/groups/238993587043
Welche Blüten das treiben kann, lese ich gerade in einem Kommentar aus der „KoKo-Tangogruppe“ auf FB:
„Jetzt haben wir gut gelüftete Milongas mit 20% Besucher wie vorher. Gute kalte Luft aber stinkend langweilig. Und dicke Wollsachen statt elegant gekleideter Ladies.“
Klar, das senkt die Libido erheblich. Wenn daher Bußprediger Buntenbach auf einen „Tango-Restart“ setzt, fürchte ich: Es könnte sich auch um „Tango-Rest-Art“ handeln…
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