Tanzen ohne Schritte


„Der Horizont der meisten Menschen ist ein Kreis mit dem Radius Null. Und das nennen sie ihren Standpunkt.“ (Albert Einstein)

In meinem Text „The same Tango as last Week“ zitierte ich einen Kommentator auf Thomas Kröters Blog, der meint, „die wirkliche Improvisation“ stelle sich „erst nach jahrelangem Hören“ der immer wieder selben Tangoaufnahmen ein.

In einer weiteren Wortmeldung bestätigt er nun, „auch nach 1000maligem Hören noch etwas in der Musik zu entdecken, das die Entwicklung deines Tanzes beeinflusst."
Schlimmer noch: Momentan beschäftige er sich „z.B. mit dem Thema: ‚Tanzen ohne Schritte‘ (Cadencia), das erheblich zum Wohlfühleffekt beitragen kann.“

Tanzen ohne Schritte? Nun ja, das kann sicher beträchtlich zum Wohlgefühl beitragen, vor allem, falls man eh nicht tanzen möchte… Aber „Cadencia“? Die Urtiefen meines Tangogedächtnisses meldeten mir, ich hätte das Wort schon einmal vernommen.

Aber das Internet weiß ja alles:

„Rhythmus, Takt, Tempo
‚Die musikalische Interpretation der Musik‘
temporale Veränderungen im Tanzverlauf, meist für Beschleunigung, aber auch für Verzögerung zu verwenden
1. Abschlussschritt ( Schließen)
2. um Zusammenstöße zu verhindern
3. um die Position / den Platz im Raum zu verändern
4. um den Takt zu ändern
5. zu Beginn eines Tanzes, um mit der Frau den Rhythmus zu ermitteln, und den beginnenden Fuß zu klären"

Äh? Gleich so viel auf einmal? Und ein bisschen nach Bewegung hört sich da doch einiges an…

„Cadencia, la
Der Rhythmus (Tanzen mit Swing)“

Echt jetzt? Und das ohne Schritte? Nochmal nachschauen:

„Der Rhythmus (Tanzen mit Swing). Ursprünglicher Begriff für die →cunita.“

Das wär aber dann ein Schritt, nämlich die Wiege! Okay, aber jetzt – Nicole Nau und Luis Pereyra müssen’s doch wissen:

"-Cadencia, la (1.) Kadenz. Hat nichts mit Bewegung zu tun, sondern mit Musik. Bailar con Cadencia, ist tanzen mit Swing, musikalisch. Ein Ocho sollte z.B. mit Cadencia getanzt werden, schwungvoll melodisch und nicht quadratisch. Dabei bewegt sich sowohl der Frauen als auch Männerkörper wie in Wellen und nicht im Block. 

-Cadencia, la (2.) Eines der Zusatzelemente. Hier bewegen sich beide Körper innerhalb der Umamrmung in einem vor-rück-vor-rück Schritt drehend um einen Punkt. Der Amateurtänzer nennt dies fälschlicher Weise la Cunita (die Wiege)"

Mist, jetzt werden die Schritte auch noch gedreht! Ja, wie denn nun?

Ach, aber da:

„Cadencia:  Das Schließen --- Das Spielbein schließt mit dem Standbein, aber bleibt unbelastet.“

„cadencia, la: Das Schließen, indem ein Fuß neben den anderen gestellt wird.“

Ja, aber Himmelochoundzwirn – belastet jetzt oder nicht?

In etlichen Tango-Lexika sogar Fehlanzeige: Da klafft zwischen „Cadena“ und  „Calesita“ einfach eine Lücke. Skandal!

Na gut, dann muss eben Bildmaterial her:



Also, meinem unmaßgeblichen Eindruck nach bewegen die beiden sich ziemlich flott!

Nein, aber da:


Stimmt, der bewegt sich ziemlich wenig, redet aber mehr. Gehört das zur „Cadencia“ dazu?

Bleiben noch die Wortbedeutungen: „Cadencia“ heißt im Spanischen „Rhythmus“, „Takt“, „Tempo“ – oder auch Kadenz. Und da geht es ziemlich heftig her, ob nun ein Musikstück oder Gedicht sich dem Ende nähern oder gar ein Solist in einem Konzert frei improvisiert.

Am besten haben es die Pferde mit ihren vier Beinen:
Kadenz bezeichnet ein Maß, wie weit ein Pferd bei seiner Bewegung die Hufe vom Boden löst. Ein ‚kadenziert gehendes‘ Pferd ist eines, das die Beine weiter vom Boden entfernt zieht als ein flach gehendes Pferd.“

Fazit:

Mich hat das geballte Fachwissen der zahlreichen Tangoexperten im In- und Ausland schwerstens beeindruckt. Doch was „Cadencia“ auch immer heißen mag: Tango ohne Schritte, natürlich in enger Umarmung, kommt den männlichen Bedürfnissen sicherlich so nahe wie kein anderer Tanz auf diesem Globus. Was ich meine, ist natürlich: absolut null Verletzungsrisiko! Da geb‘ ich doch glatt ‘ne Ronda aus!

Schließlich hat unser oben zitierter Kommentator ja Recht, wenn auf seinem Standpunkt beharrt und anfügt:

„Wirkliche Improvisation fängt da an, wo das Nachdenken darüber, was ich als nächstes tue, aufhört.“

Dies hat er mit seinem Beitrag trefflich bewiesen! 

Kommentare

  1. Hallo,

    ein interessanter Artikel!

    Aber ehrlich gesagt habe ich es immer noch nicht verstanden, was die „cadencia“ nun genau vorstellt:

    A) eine Art Pose, also ein Stillhalten (zur Stabilisierung der Achse)
    oder
    B) doch eine Bewegung, die sogar relativ dynamisch sein darf (s. 1. Video)

    Zwischen diesen beiden Polen scheint sich die Verwendung des Begriffs zu "bewegen".

    Wie wäre es denn damit: Auch eine Pose ist dynamisch und enthält eine Spannung, aus der neue Bewegung entsteht. Das heißt, die Bewegung ist in der Ruheposition spürbar.

    Das ist wie eine Pause in der Musik, die nicht dazu führen soll, dass der Interpret und das Publikum einfach "abschlaffen", sondern eine Pause gibt den Impuls für das Folgende (die Bewegung oder die Töne, die Melodie).

    Könnte man so die beiden Enden verbinden?

    Die musikalische Kadenz, d.h. das Stück im Konzert, wo der Solist alleine brillieren darf, erwähnst du mit Recht. Stimmt: Da ist für alle anderen Pause angesagt, während sich der Solist „derrennt" ...
    Die Kadenz gibt es ja auch in der Harmonielehre. Die ist alles andere als langweilig und stillstehend, im Gegenteil da ändert sich in jedem Akkord etwas!

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