Die Wanderprediger der Achtsamkeit
„Der Cabeceo ist
nicht und war nie ein Instrument von Herrschaft oder Ähnlichem; tatsächlich
wurde er eingeführt, um Frauen vor Männern zu schützen, die ihnen ins Gesicht
schlagen würden, falls sie sich weigerten, mit ihnen zu tanzen.”
(Berliner Tangolehrer
auf Facebook)
Derzeit
komme ich mir ein bisschen vor wie unsere Kanzlerin
im letzten Bundestagswahlkampf: Sie hatte stets eine Truppe mitreisender Oppositioneller bei sich,
welche bei jeder Wahlrede wieder die Trillerpfeifen zückten und „Volksverräter“ plärrten.
Wenn
ich was veröffentliche – egal wo – wird mir gleichermaßen die
Aufmerksamkeit wandernder Códigoprediger
zuteil, welche sofort in den sozialen Netzwerken neben den Links auf meine
Beiträge ihre Cabeceo-Suren aufsagen und Weihwasser des reinsten Tango
verpritscheln. Auf meinem Blog
kommentieren sie freilich kaum – man will mir ja nicht noch mehr Leser in die
Arme treiben, deren kindliches Gemüt ich mit kritischen Anmerkungen verderben könnte.
So
auch beim vorigen Blogartikel, eigentlich
einem schlichten Bericht vom Besuch zweier Queer-Milongas
durch eine Tänzerin, welche ständiges Herumsitzen gegen das Erlernen der Führungsrolle eintauschte und gerne
Milongas erkundet, wo man mit Auffordern und Geschlechterrollen weniger zieselig ist.
Der
Berliner Bloggerkollege Thomas Kröter
hätte auf diesen Text nicht hinweisen sollen – und schon gar nicht mit der
Anmerkung:
„Die Betreiber und Besucher
der traditionellen Milongas sollten langsam 1. beginnen nachzudenken, aber
besser noch 2. umzusteuern.“
Der
Fehler der Autorin war offenbar vor
allem ein Satz zum Tango-Lieblingsthema:
„Aufgefordert
wurde eher nicht durch Hypnotisieren quer durch den Saal, sondern durch
Hingehen und Fragen."
Sofort
hatte Thomas die üblichen
Belehrungen am Hals, wonach Mirada und
Cabeceo den Frauen ja jegliche Eigeninitiative
ermöglichten. Und zudem sei es auch auf traditionellen Milongas überhaupt kein
Problem, ja völlig normal, wenn zwei Frauen, ja selbst ein Männerpaar, miteinander
tanzten. Eine Münchner DJane führte dann noch das Schuhthema in die Debatte
ein: Sie jedenfalls müsse zunächst einmal die Rolle durch Anlegen flacher oder
hochhackiger Puschen klären, manchmal gehöre „zum Cabeceo auch das Herzeigen der Füße“.
Na
eben, heißt ja auch Cabe-Zeho (spanisch: „Pieceo“)…
Auch
sonst fand man Spuren tendenziöser
Formulierungen: „Arrogant finde ich es aber, wenn durch die Autorin
diejenigen, die am Freitag nach einer langen Arbeitswoche traditionell tanzen
möchten, in die Ecke ‚brav und bieder‘ gestellt werden.“
Es kam jedoch auch Widerspruch von der Erneuerungsfront:
„Tzz, es gibt Probleme in der
traditionellen Tangoszene, da fasst sich ein normal denkender Tänzer wirklich
an den Kopf. Diese Thematik gibt es auf Neolongas überhaupt nicht, einfach weil
es diese künstlich versteiften Umgangsformen einfach nicht gibt.“
Ich will nicht auf den gesamten – sagen wir
optimistisch – Gedankenaustausch eingehen,
da er viel einschlägig Bekanntes enthält. Wer es genauer möchte:
Zwei wertvolle Neuigkeiten allerdings habe ich erfahren:
·
Traditionsbewusste
Tanzende haben keinerlei Skrupel, Körbe zu geben.
So schreibt die erwähnte DJane zwar: „Ich
führe seit dem Jahr 2000. Und in weniger als 5 Fällen habe ich die Situation
erlebt, dass eine Frau nicht von einer Frau geführt werden wollte.“
Andererseits berichtet sie jedoch: „Neulich, auf einem Queer Event, habe ich
für eine Tanda, wo mir die Musik nicht gefiel, 3 Körbe gegeben. Mit Cabeceo wär
das nicht passiert.“
Mit etwas mehr Anstand auch nicht…
·
Traditionsbewusste Tangomenschen tanzen definitiv nicht
mit jedem.
So schreibt ein junger Münchner DJ, dessen aufmerksame Anhänglichkeit ich mir seit einiger
Zeit zugezogen habe:
„Ich möchte nicht mit
jeder Frau tanzen. Aus verschiedensten Gründen. Ich geh ja auch nicht mit jeder
Frau ins Kino oder Essen oder Kaffee trinken. Und nicht jede Frau mit mir. Das
fängt da an, dass mich nicht jede Frau interessiert, manchmal bin ich
gelangweilt, manchmal ist es unangenehm bis schmerzhaft. Manchmal bin ich
verliebt und will nur mit einer einzigen Person tanzen, manchmal aus dem
gleichen Grund mit allen. Manchmal gefällt mir die Musik nicht, manchmal bin
ich müde, manchmal nicht mutig genug.“
Ich, ich, ich… Nun kann man das ja bei
Vertretern der „Generation Y“
verstehen, denen die Konzentration aufs eigene Wohlbefinden seit frühester
Kindheit durch rektale Glucose-Applikationen anerzogen wurde. Die Folge ist ein
fulminanter Narzissmus bei
dekompensierter Empathie. Nun ja, ich gehöre halt noch zur „Generation XY“…
Aber auch die eher meiner Altersstufe
angehörende DJane stößt ins gleiche
Horn:
„Für mich ist, anders als für Gerhard, nicht jeder willkommen, der mit mir tanzen möchte, diese ‚Kultur‘ ist für mich eine unakzeptable moralische Forderung. Ich möchte bitte, dass man respektiert, mit wem und wann ich tanzen möchte oder nicht, egal aus welchem Grund.“
„Für mich ist, anders als für Gerhard, nicht jeder willkommen, der mit mir tanzen möchte, diese ‚Kultur‘ ist für mich eine unakzeptable moralische Forderung. Ich möchte bitte, dass man respektiert, mit wem und wann ich tanzen möchte oder nicht, egal aus welchem Grund.“
Ja, liebe Leute, stellt euch vor, ich selber könnte auch auf manchen Tanz
verzichten! Allerdings habe ich halt nicht nur meine Gefühle und Vorlieben
im Blick, sondern auch die anderer. Und wenn eine Vertreterin des Geschlechts,
das man im heutigen Tango nicht gerade zur Selbstständigkeit erzieht, sich
schon mal traut, von sich aus aufzufordern (wie auch immer), dann käme ich mir
wie der letzte Rüpel vor, wenn ich
ihr einen Tanz verweigerte.
Daher bestätigen solche Aussagen meinen
Eindruck, dass die ganzen „Regeln“, welche man im Tango mit Achtsamkeits-Mimikry verkündet,
zunächst und fast ausschließlich das eigene
Wohlergehen sichern. „Sozialer Tango“
ist heute oft ein Oxymoron.
Und für mich ist und bleibt der Cabeceo eine unschlagbare Methode,
Menschen zu ignorieren, die mit einem aufs Parkett wollen – bei Tanzveranstaltungen
ja auch eine abstruse Idee… Und da zahlen-, aber nicht egomäßig die Frauen den größeren
Teil repräsentieren, schützt dieses Verfahren tendenzmäßig die Herren der Schöpfung und ihre Dominanzspielchen.
Aber bitte – es steht jedem frei, nicht nur
nach Gutdünken aufzufordern, sondern auch auf die ganzen begleitenden Sprüchlein
selber hereinzufallen. Die Wirklichkeit
sieht anders aus. Alle paar Tage lese ich Botschaften
wie diese:
„Nach dem Umzug nach München aber keinen Anschluss an die
Tangoszene gefunden. Ok, allzu intensiv habe ich es nicht versucht, viel Geld
und Zeit habe ich nicht investiert, ich gebe es zu, aber die paar Milongas, die
ich besucht habe, haben einen negative Eindruck hinterlassen: Es tanzen
eigentlich nur die zusammen, die sich schon kennen oder in der selben Schule
lernen. Kann ich eigentlich aus Männersicht sogar verstehen. Als
Mittelstufentänzer bleibe ich lieber auf vertrautem Terrain, das Führen ist
schon anspruchsvoll genug...und als Fortgeschrittener hab ich eben die volle
Auswahl, da es nun mal mehr tanzende Frauen als Männer gibt. Warum also mit
einer tanzen, die man nicht kennt, die unsicher ist, weil sie niemanden kennt
und vor allem ihr eigenes Level nicht einschätzen kann. (…)
Will ich mir die
ganze Konkurrenz antun? (…)
Oder weiterhin
unsicher sein, wenn Fachchinesisch geredet wird, weil ich zwar viel über den
Körper im Tanz oder Tanzprinzipien weiß, aber erst mal die Códigos im Tango
argentino lernen muss?
Eigentlich möchte ich
ja viel lieber einfach tanzen ...die Musik im Körper fühlen ...Tango leben.“
Und leider kann ich nicht alle Mails veröffentlichen, die ich zu
solchen Themen erhalte. So scheint es in München durchaus öfters vorzukommen,
dass man auf offenem Parkett angeschnauzt wird – sei es vom „Pistenwach-Personal“
oder Todernst-Ronda-Tänzer/innen.
Auch Thomas
Kröter hat inzwischen mit einem Blogtext
auf die Debatte reagiert:
Und
meine Tangofreundin Alessandra Seitz kommentiert die ganze Chose mit der Leichtigkeit und Süffisanz einer Wienerin:
„Das Thema cabeceo,
mirada & co finde ich immer höchst amüsant. Ich für meinen Teil brauche
keinen Kurs, um flirten zu lernen, denn das konnte ich als Kind schon recht gut
und habe es später quasi zur Meisterschaft gebracht. (…)
Also was ich meine: Schauen
können wir alle, flirten die allermeisten und erwachsen sind wir auch alle.
Lass ma jeden auffordern, wie er mag und wie es die Situation hergibt … Ist ja
nicht so schwer!!“
Und alle selbstbewussten Damen von Alessandra bis „Quotenfrau“ beweisen uns doch: Sie wissen schon, was sie wollen, und kriegen es meist auch. Notfalls mit einem vierbeinigen Partner, von dem sie nachher bayerisch-anerkennend sagen können: „A Hund isser scho!"
https://www.youtube.com/watch?v=TtjY_YgZEzo
P.S. Die Zitate wurden von mir rechtschreibkorrigiert, das Eingangsstatement auch übersetzt.
P.P.S. Hier noch ein ähnlicher Artikel, den ich schon vor über zwei Jahren verfasst habe:http://milongafuehrer.blogspot.de/2016/01/aufforderung-zum-auffordern_29.html
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