Liebes Tagebuch… 49
„Eine Gesellschaft,
in der es chic ist, von allem den Preis zu kennen und von nichts den Wert,
macht in Wirklichkeit Verluste.“
(Johannes Rau:
Antrittsrede als Bundespräsident, 1.7.1999)
Der
„Berliner Cabeceo-Krieg“, über den
ich im letzten Artikel berichtet habe, scheint geschlagen. Hinsichtlich meiner
Person jedenfalls hat man vollzählig alle Stereotypen abgearbeitet, die mir
seit Jahren vertraut sind:
·
das „Oberlehrer-Klischee“: „Vermisst du die Schule oder warum ist es
nötig so schulmeisterlich daher zu kommen? Aber vielleicht hast du im Gegenteil
auch zu früh die Seite der Schulbank gewechselt. Textverständnis scheint mir
bei dir noch ausbaufähig.“
·
die Hitler-Anspielung
via „Großer Führer“: „Wenn Du so weiter machst, kommst Du noch in den ‚Größten Milongaführer
aller Zeiten‘.“ „Der GröMaZ“.
·
den „Falsch-Zitierer“:
„aus dem hat Gerhard zitiert und diesen Teil
geflissentlich unterschlagen“
·
das „Weiber-Argument“: „Vielleicht doch eher
gekränkter Narzissmus, weil jemand nicht mit dir tanzen wollte, Gerhard?“
Ansonsten bin ich bekanntlich wahlweise
einer, der beim Tanzen keinerlei Regeln akzeptiert oder Verbote ausspricht, in
dem Fall „implizit, aber deutlich ein
Korbverbot“:
„Als
mit Korbverbot belegte Aufgeforderte müsste ich auf Musik tanzen, die mir nicht
gefällt und mich nicht inspiriert, und/oder mit Menschen, die mir aus
irgendeinem Grund langweilig oder unangenehm sind. Als vom Korbverbot ‚Profitierende‘
würde ich mit Menschen tanzen, die eigentlich mit mir gar nicht wollen und/oder
denen die Musik nichts sagt. Pflichterfüllung statt erfüllende
Freizeitbeschäftigung!“
Hochinteressant wurde es, als ich ein Wort in die Debatte einführte, das
offenbar auf solche Naturen wirkt wie das rote Tuch auf den Stier:
„Allerdings
– wer Altruismus für ‚Pflichterfüllung‘ hält, mag es anders sehen. Für mich ist
das eher eine Verpflichtung.“
Von nicht sehr anderer Seite handelte ich mir
dafür Hohn und Spott ein:
„Haha
Altruismus (Lach-Emoticons) Bin grundsätzlich misstrauisch bei Altruisten, die es nötig haben, zu
moralisieren und anderen ihre Werte vorzuschreiben.“
Abgesehen davon, dass Altruisten, die andern was vorschrieben, keine wären:
Ich habe in dieser Debatte gelernt, dass die Grenzen im Tango nicht so sehr zwischen
verschiedenen Musik- und Tanzstilen, Aufforderungsarten oder
Parkettbenutzungsregeln bestehen, sondern in der verschiedenen Gewichtung
zwischen Ego und der Einfühlung in andere.
Für die einen sind Milongas Veranstaltungen,
in denen man für den bezahlten Eintritt (sehr
wichtig!) möglichst viel beansprucht: die passende Musik, förderliche
Sozialkontakte (welcher Art auch immer), Traumtänze mit den Lieblingspartnern. Geiz ist geil: Alles, was dem im Weg
steht, wird mehr oder weniger rausselektiert. Das wäre ja noch schöner, wenn
man mit jedem dahergelaufenen Kerl respektive jeder dummen Kuh tanzen müsste! Das
gnadenlose Abfeiern des Ego ist
Haupt- und Generalzweck.
Noch gibt es im Tango aber auch solche, die
sich den Luxus leisten, die Sache auch mal aus der Perspektive der lieben Mitmenschen zu sehen: Wie fühlt sich eine
Anfängerin respektive nicht so begabte Tänzerin, die nach zwei Stunden
Herumsitzen und dreißig Minuten Überlegen schließlich all ihren Mut
zusammennimmt und mit klopfendem Herzen zu einem (jedenfalls in ihren Augen)
Startänzer geht, ihn um einen Tanz bittet, ein „Nein, danke“ erhält und
sich dann wieder trollen darf?
Kurt
Tucholsky hat einmal geschrieben: „Eine
Welt stinkt auf.“
Klar, ich habe zu manchen Tänzen ebenfalls wenig Lust – sei es wegen der
betreffenden Partnerin, der Musik, meiner Stimmung oder Müdigkeit, und in
meinem Alter tun einem auch mal schlicht die Füße weh. Worüber ich jedoch meist
nicht hinwegkomme: die seelischen Verwüstungen, die ich mit einem „Nein, danke“ eventuell anrichte. Und wir sprechen von einem Tanz, bei
dem das Öffnen der Seele Grundvoraussetzung ist, nicht vom Kauf eines
Viertelpfunds Schnittkäse.
Im Tango liegt der tiefe Graben zwischen den
formal ähnlichen Sätzen:
„Im Prinzip kann jeder kommen.“
und
„Da könnte ja jeder kommen.“
Daher bitte ich um Verständnis dafür, dass
ich die obigen Zitate aus der Facebook-Diskussion ohne jede Namensnennung veröffentliche. Es tut
meiner seelischen Verfassung nicht gut, mir zu gewissen Sätzen auch noch
Gesichter vorzustellen. Ich möchte mit solchen Menschen rein gar nichts mehr zu
tun haben.
Aber man darf gerne weiter Sätze von mir
belächeln wie:
„Meine ‚Kultur‘
besteht darin, dass ich jeder Frau, die mit mir tanzen möchte, das Gefühl
vermittle, dass sie willkommen ist.“
Beantwortet wurde das auf Facebook übrigens
mit:
„Aha. Siehst
du, dann liegt da der Unterschied.“
Das stimmt wohl.
Kürzlich forderte ich bei einer Milonga eine
Dame auf, die ein traditioneller Todernst-Tänzer nicht mal mit der Rückseite
seiner gestreiften Hose angeschaut hätte: mittleres Alter, deutlich anfängerig,
vielleicht nicht mal sehr begabt – noch dazu von einer Nationalität, die man
gemeinhin eher weniger mit dem Tango verbindet.
Es folgte der übliche Wortwechsel von „Ich kann aber noch kaum etwas“ bis zu „Tanz einfach, was du meinst, ich mach schon
mit“. Nach dem dritten Tango sagte sie einen Satz, der sofort einen
Ehrenplatz in meiner „Tango-Vitrine“ erhielt:
„Noch einen Tanz, dann sind Sie wieder frei.“
Wahrlich, diese Frau verfügte über etwas, das
für mich wichtiger ist als alle Tanztechniken, Choreografien, Cabeceo-Schulungen,
Ronda-Kunde oder fundierten Kenntnisse der EdO-Orchester: Empathie – also die Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer
hineinzuversetzen. Und das Allerschönste: Sie hat maßlos übertrieben, denn so „unfrei“
fühlte ich mich wirklich nicht.
Die Dame wird diesen Text wohl nie zu Gesicht
bekommen. Dennoch:
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