Sin o con Tango
„Contango beschreibt
eine Preissituation bei Warentermingeschäften. Bei Contango liegt der Preis für
Lieferung in der Zukunft (Terminkurs) über dem aktuellen Kassakurs. Die
sogenannte Futures-Kurve ist in dieser Situation typischerweise nach oben
gerichtet, d.h., je später der Liefertermin ist, desto höher ist der Preis.
Contango führt für Spekulanten regelmäßig zu Rollverlusten.“
Nachdem
ich mich schon mehrfach gedrückt hatte, war es kürzlich soweit: Ich wollte
meine persönliche „Zukunftskurve“ um „Rollverluste“ verlängern, also die Tango-Avantgarde näher kennenlernen – per
einführendem „Warmup“ bzw. Workshop (o je, der erste seit mehr als zehn Jahren…).
Und
natürlich versteht man in der Szene unter „Contango“
nichts Wirtschaftliches, sondern einen Tanzstil, welcher sich von der „Contact Improvisation“ herleitet:
„Contact
Improvisation (kurz: CI oder Contact Impro) ist ein zeitgenössischer Tanzstil,
bei dem es um die aktive Entdeckung aller Bewegungsmöglichkeiten geht, die zwei
oder mehr menschliche Körper ausführen können.“
Was
mir zunächst auffiel: Jeder Tangoart ihr Dresscode!
Nix Stilettos und geblümte Fummel! Beide Geschlechter tanzen beim Contango
nicht nur innig beherzt, sondern auch sportiv behost – Röcke wären bei den
teilweise exzessiven Bewegungen suboptimal. Apropos Beinkleider: Irgendwo auf Facebook erklärte mir neulich eine
Schreiberin den Unterschied zwischen Tradi- und Neotänzern: Die einen stopfen
das Hemd in die Hose, die anderen lassen es darüber hängen. Mein persönliches
Bekenntnis hierzu: Ich ziehe die Hose über das Hemd – beim Contango müsste man
allerdings sagen: die Schlafanzughose…
Und
statt der schwarzweißen Budapester respektive Highheels haben die
Zukunftstänzer oft gar nix an den Füßen,
was der heute im Tango beschworenen Verletzungsgefahr trotzen könnte. Nun bin
ich weiß Gott kein Schuhfetischist. Dennoch finde ich die nackten Käsemauken
auf dem Parkett schlicht unelegant – aber das ist mein persönliches Schicksal.
Zum
„Workshop“ der Trainerin zunächst
ein dickes Kompliment! Für eine Tangolehrerin redete sie extrem wenig, sondern ließ das Volk einfach machen: Anfangs sollte man ganz allein von der Körpermitte aus Fühlung zur Erde, zu
dem Sternen, zu verschiedenen Körperregionen aufnehmen, dann „Baum spielen“ und
sich von den Umhertanzenden des anderen Geschlechts umflirren lassen –
natürlich vice versa.
Als
eingefleischter Paartänzer fragt man
sich gelegentlich schon, was einen anficht, auf Kommando in „Holla, die Waldfee“-Manier
um die zahlreich im Weg stehenden Damen brummeln zu sollen. Und da liegt für
mich im Ernst ein Problem gegenüber dem klassischen Tango: Dort ergeben sich Gefühle im Verlauf des Tanzes mit einer bestimmten Partnerin, nicht sofort durch emotionales Speed-Dating.
Dennoch
ist das zweite Lob fällig: Mann- und
Frau-Schemata, gar starres „Führen und Folgen“ sind im Contango
Fremdwörter. Man begegnet einander sozusagen auf Augenhöhe – wenngleich die Metapher durch die gelegentlichen
Bodenaktionen nicht ganz zutrifft. Und wegen des Freistilcharakters sind Berührungen
ein weites Feld mit nur wenigen verbotenen Griffen: Wahrlich ein „Kuschelfaktor“,
welcher die übliche Erotik im Tango argentino noch in den Schatten stellt. Hier
kommt sie allerdings natürlicher daher – und den Akteuren scheint’s zu
gefallen.
Getanzt
hat man in dem Workshop gelegentlich auch – sogar paarweise, natürlich unter
ständigem Partner- und Rollenwechsel.
Zur Musik wurde kaum etwas gesagt –
was wohl vor allem an dieser selbst lag: Improvisieren auf unterschiedlichem
tänzerischen Niveau geht halt am besten, wenn die Klänge langsam und möglichst
loungig dahinwabern – sozusagen „Elektro-Di Sarlis“…
Aber
sicherlich – das sah man auf dem nachfolgenden Tanzabend – vertanzen Contangueros
und Contangueras so ziemlich jede Musik mit größter Ekstase, selbst wenn die Phrasierung diese nicht einfordern
sollte. Die diversen Musikrichtungen – nun ja, sagen wir es diplomatisch: Wenn
es mal Tango sein sollte, stört es keinen.
Die
grundsätzlich schon vorhandene Ronda
wird durch solche, häufig am Platz verübte Gefühlswallungen schon ein wenig
beeinträchtigt – zumal, wenn man nicht weiß, ob man sich am Boden windende
Paare nun übersteigen soll oder lieber doch nicht. Dennoch achten viele
durchaus auf den Rest der Tanzenden – und, ebenfalls ein dickes Kompliment,
kleine Rempler oder Behinderungen werden nicht tragisch genommen.
Überhaupt
– und das ist der größte Unterschied zum traditionellen Tango – geht es weit
weniger krampfig zu. Leistungsansprüche
werden ja kaum gestellt, im Gegenteil: Jeder
darf spinnen, wie er mag. Und hinsichtlich des ganzen Spur- und
Disziplingedödels sollten traditionelle Tänzer einmal einen Blick über den
Tellerrand wagen. Sie könnten dabei feststellen, wie wenig Rempler und Unfälle
es auf dem Parkett geben kann, auch wenn man kreativ, großräumig, aber meist
sensibel tanzt. Freilich: Die Szene ist weit kleiner, auf dem Parkett gibt
es (noch) genug Platz.
Auf
jeden Fall habe ich ein sehr
freundliches, ja fröhliches Völkchen kennengelernt, das sich wohltuend von
der gespreizten Art anderer Tanzszenen unterscheidet. Fast ein bisschen so, wie
es früher im Tango generell zuging! Freilich gilt wohl damals wie heute: Die
Bereitschaft, neue Gäste, zumal Frauen, durch Aufforderung zu integrieren, ist und bleibt anscheinend gering.
Aber hier kann man ja auch allein (oder zu dritt) tanzen…
Es
gibt somit einige gute Gründe, zumindest
gelegentlich einmal Contango zu tanzen. Leider existiert auch ein ganz
schlechter: Weil man tänzerisch ansonsten wenig zu Wege bringt. Freies Improvisieren
ist toll, wenn die tänzerischen
Grundlagen vorhanden sind – ob man sich die nun via Ballett, Standardtanz, Tango
argentino oder sonst wie verschafft hat. Wegen mangelhafter Basics in diese
Sparte auszuweichen und die bloße
Individualität zur heiligen Kuh hochzustilisieren erzeugt Tanzparodien am
Rande der Peinlichkeit. Und im positiven Fall könnte man sich auch rhythmisch
und tempomäßig schwierigerer Musik
stellen als den hier sehr verbreiteten meditativen Klängen.
Werde
ich nun zum Contango umschwenken? Sicher
nicht. Für mich ist er ein „Warmup“, um aus allzu großer Routine
auszusteigen und sich wieder der vielen tänzerischen Bewegungsmöglichkeiten
bewusst zu werden, anstatt perfektionierte „Schritte“ herunterzuklopfen. Der
klassische Paartanz erscheint mir jedoch anspruchsvoller:
Wenn in der freien Improvisation ein Seitwärtsschritt mal 30 Zentimeter zu weit
geht, die Achse wackelt oder man rhythmisch auseinanderfällt, macht das nicht
viel. Mit einer Tanzpartnerin in enger Umarmung und zu komplizierter Musik ist
das der Anfang vom Ende: schwieriger, aufregender, aber faszinierend.
Und
noch eins würde mir fehlen:
Die Musik aus den Slums am Rio de la Plata.
„Ohne oder mit Tango“ ist mir zu wenig.
Die Musik aus den Slums am Rio de la Plata.
„Ohne oder mit Tango“ ist mir zu wenig.
Da ich in beiden Welten etwa gleich zu Hause bin, kann ich was dazu sagen: Jedesmal, wenn ich länger Contango tanze, sehne ich mich nach einem ordentlichen Tango. Jedesmal, wenn ich länger Tango tanze, sehne ich mich nach einem unordentlichen Contango. Kurzum: Die beiden ergänzen sich vorzüglich!
AntwortenLöschenLieber Peter, grundsätzlich stimme ich natürlich zu. Ich frage mich nur, ob man sich irgendwo "zu Hause" fühlen kann, wenn man sich dabei nach etwas anderem sehnt.
LöschenGlücklicherweise gibt es noch wenige Milongas, wo beides koexistieren darf!
Ja, da könnte Euch vielleicht der Dario Moffa gefallen. Ein wenig aus der Traditon ausbrechend aber nicht so weit wie Contango.
AntwortenLöschenhttps://www.rogaia.de/de/kursdetails/tangosensibile-workshop-mit-dario-moffa2.html
Vielen Dank für den Tipp - ein wirklich interessanter Lehrer!
Löschen